Als ich das erste Mal die Middleton High betrat, herrschte großer Tumult. Etwas, das meine Gefühlslage perfekt beschrieb.
Ich sehe mich um und mustere die Mädchen und Jungs, die aufgeregt in das Gebäude stürmen und sich am Ende des Ganges versammeln. Die aufgeregten und hitzigen Schreie lassen mich verwundert die Stirn runzeln.
Ich bin schon oft umgezogen. Man könnte fast meinen, meine Eltern haben ein Problem damit sich niederzulassen. Fünfzehn Städte in drei Jahren, die letzte in Texas. Ich bin froh, denn das Wetter dort hat mir jede Kraft gekostet. Waco ist bekannt für seine riesigen Brände und ich danke Gott dafür, dass ich keinen hautnah miterleben musste.
Das Gute am ständigen umziehen ist, dass dich niemand kennt. Niemand kennt deine Fehler, deine Hintergründe, deine Schwächen und Stärken und deine Vergangenheit - du bist ein Niemand, ein leeres Blatt. Und in jeder Stadt habe ich die Möglichkeit, dieses Blatt neu zu beschriften. Nach meinen Wünschen, so wie ich es möchte. Wenn es nicht klappt, habe ich spätestens ein halbes Jahr danach die Möglichkeit, von Vorne zu beginnen.
Ich schultere meinen Rucksack und laufe langsam auf die kleine Menschenansammlung zu. Sie stehen vor dem letzten, blauen Spind am Gangende und rufen aufgeregt Namen, die ich nicht verstehen kann. Man hört ein Mädchen aufschreien, das Scheppern der metallischen Spindtüren.
Als ich näherkommen, entdecke ich zwei Jungs, die aufeinander einschlagen. Der stärkere und eindeutig dominantere Kerl ist gerade dabei, seinen Gegner die Nase zu brechen, während er auf ihm kniet und ihn nach unten drückt. Ich zucke zusammen, als seine Faust hart auf das Gesicht des unter ihm liegenden Jungen trifft und Blutspritzer im Raum verteilt werden.
Wie reagiert man auf sowas?
Ich werde geschubst und stolpere einen Schritt vor, während zwei Jungs sich an mir vorbeidrängen und sich lachend in mein Blickfeld stellen.
Empört reibe ich über meinen leicht schmerzenden Arm und blicke die beiden böse an, doch sie bemerken mich nicht.
„Mach dir nichts draus. So sind sie immer. Das sind keine Menschen, das sind Tiere", erklingt eine Stimme neben mir und ich zucke zusammen. Ich blicke nach rechts zu dem kleinen, braunhaarigen Mädchen mit ausgeprägten Sommersprossen. Sie ist bildschön, fast wie ein Gemälde.
Auch sie mustert mich kurz und setzt dann ein leichtes Lächeln auf.
„Du bist neu hier", stellt sie fest. „Ich habe dich hier noch nie gesehen."
Ich nicke langsam und wende meinen Blick wieder auf die Schlägerei. Noch immer ist niemand dazwischengegangen.
„Heute ist mein erster Tag", antworte ich leise und sie nickt.
„Das dachte ich mir. Wie heißt du?"
„Raven", stelle ich mich vor und halte ihr die Hand hin.
„Ich bin Maya. Maya Clark", sie nimmt grinsend meine Hand. „Was treibt dich einen Monat nach Schulbeginn auf die Middleton High?"
„Ich bin umgezogen, aus Waco", meine ich.
„Oh, Texas Baby. Willkommen in Denver, Raven. Der Ort, an dem deine Träume zu Albträumen werden", lacht sie und ich lächele sie an.
„Sag mal, was ist denn hier los?", frage ich schließlich und deute auf die Schlägerei.
Sie zuckt mit den Schultern und stellt sich auf die Zehenspitzen, um über die Kopfe hinweg blicken zu können und etwas zu erkennen.
„Das ist Leo. Er ist ein Vollidiot, ehrlich. Manchmal habe ich das Gefühl, er ist ein Neandertaler, denn so benimmt er sich. Nimm dich vor ihm in Acht, er zerfrisst deine Nerven", meint sie und rollt dabei mit den Augen.
„Wieso geht denn niemand dazwischen?"
Erstaunt blickt sie mich an.
„Macht man das so in Texas? Sich in eine Schlägerei drängeln?"
Ich zucke mit den Schultern. „Irgendwer muss die Zwei doch auseinanderbringen. Er bringt ihn noch um", antworte ich mit einem dramatischen Unterton.
Nachdenklich blickt sie zu den beiden Jungs. Der zweite, der die harte Faust ins Gesicht abbekommen hat, kniet auf dem Boden und hält eine Hand abwehrend hoch, während er mit der anderen an seine Nase greift.
„Sowas gibt es hier nicht. Man mischt sich nicht in die Angelegenheiten anderer ein", sagt Maya und ich sehe sie mit gerunzelter Stirn an.
„So ein Schwachsinn."
Kurzerhand dränge ich mich an der Menschenreihe vorbei und eile vor den Jungen. Mit erhobenen Händen stelle ich mir vor ihn und blicke seinen Gegner an.
„Lass ihn in Ruhe", sage ich mit fester Stimme und der Junge blickt mich wütend an. Lange, hellbraune Locken hängen ihm wild in sein Gesicht und seine Nase und die rechte Gesichtshälfte weisen dunkle Flecken und Kratzer auf.
„Geh mir aus dem Weg", zischt er leise und kommt einen Schritt auf mich zu. Ich versteife mich und halte die Luft an. Wird er mir etwas tun?
„Hörst du schlecht?", fragt er. Seine Faust hält er geballt und ich könnte schwören, dass ich sein Blut pulsieren höre.
„Findest du es nicht lächerlich auf jemanden einzuschlagen, der sowieso schon auf dem Boden liegt?", frage ich schließlich und wie eine Bestätigung ertönt ein schmerzerfülltes Stöhnen von dem Jungen hinter mir.
Sein Gegner blickt mich entgeistert an, weicht jedoch einen Schritt zurück, was mich erleichtert aufatmen lässt.
Es ist still im Gang, die Schreie der Mitschüler sind verstummt und sie alle starren gebannt auf das Geschehnis.
„Du spinnst doch", murmelt er leise und schnappt sich seinen auf dem Boden liegenden Rucksack, ehe er kehrt macht und sich aggressiv durch die Menschenreihe drängt.
Erst jetzt spüre ich die brennenden Blicke auf meiner Haut und sehe mich um. Alle starren mich schockiert und gebannt an und ich schließe die Augen, um durchzuatmen.
So einen schlechten Start hatte ich, soweit ich mich erinnern kann, noch nie. Aber mein Schultag hatte auch noch nie mit einer Schlägerei begonnen.
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Willkommen, Willkommen. Ich fühle mich ein wenig wie Effie Trinket.
Ich hatte Lust auf etwas Neues - etwas gewaltsames, hasserfülltes und hoffnungsloses. Ich bin gehypet. Seid es auch.
PS; nur die wahren Gs erkennen den Zusammenhang zwischen den Namen Maya und Clark