Rick hatte in meiner Abwesenheit Fiona und Laura erzählt was passiert war. Beide hatten seitdem versucht mich auf meinem Mobiltelefon zu erreichen, welches ich ausgestellt hatte. Kaum verließ ich das Krankenhaus und schaltete es ein, prasselten die ganzen Nachrichten auf mich ein. Sie hatten sich Sorgen gemacht, denn ich war einfach verschwunden. Ich würde ihnen gleich Rede und Antwort stehen. Mein Blick schweifte über den Parkplatz und blieb einen kleinen Moment an etwas hängen. Doch dann schüttelte ich kurz unmerklich den Kopf. Das musste ich mir eingebildet haben. Wahrscheinlich war es der ganze Stress oder der Schock, dass ich dachte ich hätte Matt gesehen.
Ein lautes Klingeln riss mich allerdings aus diesem Gedankenkarussell heraus. Mein Telefon.
»Ja?«, fragte ich und versuchte nicht ganz so genervt zu klingen. Ich hatte bereits Sorge, sie würden ein SWAT-Team einschalten, wenn ich den Anruf nun abgewiesen hätte.
»Gott, wo bist du Jenna, wir machen uns wirklich sorgen«, knurrte mir eine schlechtgelaunte Fiona entgegen. Ich sollte ihr nicht böse sein. Sie hatte sich nur Sorgen um mich gemacht. Aber ein bisschen zu viel des Guten war es dennoch.
»Ich laufe gerade zur Red Line. Soll ich bei euch vorbeikommen, wenn ich da bin?«
»Was denkst du wohl, ist die Antwort?!«
Uh, da hatte jemand wirklich schlechte Laune. Konnten sie sich denken, dass ich bei Christian gewesen war? Nein, ich glaubte selbst nicht, dass sie auf die Idee kommen würden, mich hier zu suchen. Immerhin hatten Christian und ich keine besondere Beziehung zueinander, die es rechtfertigen würde. Sicher dachten sie, dass ich in meinem Schockzustand verwirrt durch Boston irrte.
Und so kam es, dass ich, kaum war ich bei Fiona und Laura angekommen, auch direkt ins Kreuzverhör genommen wurde. Also erzählte ich ihnen was genau passiert war. Die ganze Sache erneut zu durchleben, machte es nicht besser und der Film vor meinem inneren Auge, wurde auch nicht blasser.
»Oh mein Gott, das hätte auch anders ausgehen können.« Fiona blickte mich mit ihren großen grünen Augen an und ließ dann ihren Blick zu meinem Handgelenk wandern.
»Wenn Rick nicht eine so gute Reaktion hätte, will ich mir nicht mal im Ansatz ausmalen, wie das ausgegangen wäre.«
Erneut spulte sich alles vor mir ab. Es war unbegreiflich, wie sehr sich diese Nacht in meinem Kopf bereits eingebrannt hatte.
»Was ein Zufall, dass es ihr wart oder dass es Christian war, und nicht vollkommen Fremde.« Laura schloss kurz die Augen. Ja, darüber hatte ich auch schon viel Nachgedacht. Ein merkwürdiger Zufall.
»Also ich sehe es eher als Schicksal.«
»Nettes Schicksal das einen in einen schrecklichen Unfall verwickelt, Fiona.« Laura sah sie mit einem finsteren Blick an.
»Hm, okay, das mag sein. Aber das Schicksal hat sich schon was dabei gedacht.«
»Lass mich echt mit deinem Schicksal in Ruhe. Als ich die ganzen Kabel und Maschinen gesehen habe, habe ich mich eher gefragt, warum so was einem jungen Menschen passieren muss. Okay, er mag mit Frauen echt heftig umgehen, aber das kann doch kein Grund sein, dass jemanden so etwas zustößt.«
Immer wieder waren die Bilder vor meinem inneren Auge aufgeflackert, wie er über den Asphalt schlitterte. Wie er sich mit letzter Kraft den Helm abzog und mich ansah. Diese kleinen Momente, die einfach unbegreiflich hart waren. Sie zogen mir die Brust zusammen und schnürten mir für einen Bruchteil einer Sekunde die Luft ab. Die Angst, er könne vor meinen Augen sterben, sie war immer noch so präsent, als wäre ich wieder an der Unfallstelle.
»Sieht es so schlimm um ihn aus?« Fionas Blick war voller Sorge. Man schien mir also anzusehen, was gerade in meinem Kopf vor sich ging.
»Nein, er ist stabil, aber er ist noch nicht aufgewacht. Mir hat die Ärztin erklärt, dass es wohl daherkommt, dass sein Körper sich zur Regeneration runtergefahren hat, um die Kraft dafür aufzuwenden. Es kann also noch ein wenig dauern, bis er wieder aufwacht.«
»Und warum darfst du dann eigentlich zu ihm, er scheint ja auf der Intensiv zu liegen?« Laura war schon immer diejenige von uns, die rationaler war. Nicht emotionslos, aber wie Rick konnte sie scheinbar in einigen wichtigen Momenten klarer denken, als Fiona und ich es taten. »Da dürfen doch eigentlich nur Angehörige hin.«
»Das sollte euch Rick erklären.« Ich biss mir verlegen auf die Unterlippe. Wenn ich es jetzt aussprach, würden sie entweder in schallendes Gelächter ausbrechen, oder sie würden sich bestätigt fühlen, bei dem was sie schon so lange vermuteten.
»Oh nein, das wirst du jetzt tun«, forderte Laura von mir und tippte mir mit dem Zeigefinger gegen die Brust.
Wie sollte ich ihnen erklären, dass Rick mich bei den Sanitätern als Christians Freundin verkauft hatte. Ich wusste nicht mal selbst, warum er es getan hatte. Jedoch hatte ich es bisher aber auch nicht hinterfragt, was wohl ein Fehler gewesen war. Denn nun wusste ich nicht, wie ich es meinen Freundinnen erklären sollte.
»Rick hat den Sanitätern erzählt, dass wir befreundet sind und ich glaube die Sanitäter haben es falsch verstanden.« Ich atmete tief durch, unsicher ob sie es so annehmen würde, aber so musste es doch gewesen sein. Oder?
»Und seine Eltern glauben nun auch du wärst seine Freundin? Gott, Jenny, wie stellst du es dir vor, wenn er aufwacht und raus kommt...«
»Stopp, sie wissen das ich nur eine Studienfreundin bin«, unterbrach ich Laura sofort, ehe sie sich hier noch um Kopf und Kragen redete.
»Selbst das ist ja praktisch eine gewaltige Lüge.«
»Ich weiß, aber soll ich mich vor seine Mutter stellen und sagen, dass ich nur eine von denen bin, die er ins Bett bekommen will? Ich mein, das kann man doch nicht bringen.« Ich zuckte kurz mit den Schultern und die beiden wussten, dass ich recht hatte.
»Und jetzt?« Fiona sah mich fragend an.
»Was und jetzt?«
»Ja, ich mein, wie geht es jetzt weiter?«
»Irgendwann wird er aufwachen, das wäre jedenfalls das Beste.« Über alles andere wollte ich mir keine Gedanken machen.
»Wird er denn dann wie immer sein?«
»Frag das lieber einen der Medizinstudenten. Ich habe keine Ahnung. Ich war schon überfordert, als mir die Ärzte nach der OP erzählt haben, was alles passiert ist und gemacht wurde. Irgendwas mit der Milz, aber ich bin ehrlich. Ich habe keine Ahnung.« So sehr ich mich zu erinnern versuchte, was es war, ich kam einfach nicht mehr drauf.
»Das meinte ich nicht.« Sie sah mich weiter an, aber ich schien einfach auf dem Schlauch zu stehen, denn ich wusste nicht, was sie mir sagen wollte. Auch als sie mir versuchte, einen Hinweis mit den Augen zu geben, was eher aussah, als hätte sie einen Anfall, verstand ich es nicht.
»Gott, sie will nur wissen, ob du jetzt wieder ins Krankenhaus fährst oder es jetzt gut ist.« Laura schüttelte den Kopf und der blonde Pferdeschwanz wippte leicht mit. Die beiden verstanden sich blind. Da konnte ich einfach nicht mithalten. Sie kannten sich schließlich seit der Junior High wir uns erst seit unserem Freshmanyear hier an der BU.
»Vielleicht.« Ich wollte und vor allem konnte ich ihnen nicht sagen, was ich seiner Mutter versprochen hatte. Beide würden es als die absolute Bestätigung sehen, dass sie schon immer Recht hatten und ich unausweichlich auf Christian Natherson stand und nur deswegen regelmäßig mit ihm aneinandergeriet.
»Und was wirst du machen, wenn er aufwacht?«
Tja, was würde ich dann machen? Ich hatte auf all diese Fragen keine Antworten. Ich war nicht mal sicher, was hier eigentlich gerade passierte und warum es passierte. Aber ich fühlte mich schuldig. Nicht im Sinne, dass wir den Unfall provoziert hätten. Jedoch ihm gegenüber nach ihm zu sehen. Ich erinnerte mich noch ziemlich genau daran, was ich zuletzt zu ihm gesagt hatte und es war nicht sehr nett gewesen. Vielleicht lag es daran. Vielleicht auch nicht. Aber das würde ich noch herausfinden. Zuerst musste ich mich allerdings ein wenig ablenken, damit diese Bilder endlich aufhörten.
Die Tage zogen an mir vorbei ohne, dass ich sie tatsächlich wahrnahm. Vormittags versuchte ich die wichtigsten Vorlesungen mitzunehmen, mittags traf ich mich mit Amelia zum Mittagessen und lernte dann im Krankenhaus. Aus dem Versprechen noch mal nach ihm zu sehen, war eine Routine geworden. Vor allem aber um seiner Mutter eine Stütze zu sein.
Christian schien keine weiteren Fortschritte zu machen. Er wollte nicht aufwachen und so verging die erste Woche, ohne dass ich wirklich viel davon mitbekam. Auch meinen Freundinnen ging ich so gut es ging aus dem Weg, denn sie fanden mit ihren Fragen kein Ende.
So saß ich wieder mit meinen Büchern im Schneidersitz auf dem Stuhl und las Christian etwas über Bildanalysen vor.
»Ich weiß, es ist einschläfernd. Aber wenn du einfach aufwachen würdest, dann könnte ich wieder daheim lernen. Deine Mutter wieder heim zu deinem Vater fliegen und jeder hätte sein Leben zurück.« Ich klappte mein Buch laut zu, als würde ihn der Krach wecken. Doch nichts tat sich. An die Geräte um ihn herum hatte ich mich bereits so sehr gewöhnt, dass ich sie nicht mehr wahrnahm. Die Schwestern kannten mich bereits mit Namen und oft hatten sie mir einfach einen Kaffee vorbeigebracht, wenn ich über meinen Büchern saß.
»Vielleicht sollte ich mal in eine deiner Vorlesungen gehen? Dann könnte ich dir etwas davon erzählen. Oder interessiert es dich, dass Britney nun mit Ben zusammen ist?« Immer noch keine Reaktion. »Okay, also war sie dann wohl doch nicht so deins.«
Seufzend klappte ich mein Buch wieder auf. Was tat ich eigentlich hier? Ich hatte in der letzten Woche jede freie Minute hier bei ihm verbracht. Obwohl ich immer darauf bestanden hatte, dass ich ihn nicht mochte und er mir egal war. Dabei gab es doch so viel Wichtigeres, als hier zu sitzen. Allerdings zog es mich fast schon wie eine Art Magnet hier her. Ich hatte hier gelernt, ihm vorgelesen und eigentlich sogar darauf gehofft, eine Reaktion von ihm zu bekommen. Der Campus war ohne ihn nicht mehr das gleiche.
»Was mach ich hier? Kannst du es mir erklären?«, flüsterte ich, bekam jedoch keine Antwort. Also schlug ich mein Buch wieder auf. Ich würde darauf keine Antwort bekommen, jedenfalls nicht von ihm. So viel war schon mal sicher, wenn ich die Monitore betrachtete.
Ich hatte nicht mitbekommen, dass seine Mutter mich beobachte, wie ich einfach dasaß und Christian betrachtete. Erst ein Klopfen an der Tür ließ mich erschrocken zusammenfahren.
»Ich wollte dich nicht erschrecken, Jenna«, entschuldigte sie sich direkt.
»Ich war in Gedanken, ist nicht schlimm. Es gibt bisher keine Veränderungen.«
»Und dabei sind alle anderen Werte mittlerweile so gut. Ich frage mich wirklich, warum er nicht einfach die Augen aufmachen will.« Sie klang so geknickt, wie immer, wenn ich ihr sagte, dass noch nichts weiter passiert sei. Sie hoffte jede Minute, dass er endlich wieder die Augen aufmachte. Sie anrief. Ihr von seiner Woche erzählte, wie er es wohl immer getan hatte. Aber es änderte sich nichts. Er lag einfach nur da. Ruhig. Wie in einer Art Winterschlaf.
»Soll ich dir noch etwas zu Essen bringen, Amelia?«, fragte ich und deutete auf den Stuhl.
»Nein, ich hatte eben noch kurz was gegessen. Schau das du nun heim kommst und ein wenig mehr lernen kannst. Ich glaube nicht, dass es in seinem Sinne ist, dich von deinem Studium abzuhalten.« Sie wirkte beschämt. Wenn sie wüsste, wie wir wirklich zueinanderstanden. Aber zu meinem Glück wusste sie es nicht und vielleicht würde Christian es auch für dich behalten, wenn er die Augen endlich aufmachen würde.
»Das passt alles schon. Mach dir um mich mal keine Sorgen.« Ich hatte meine Bücher in meinen Rucksack gepackt und suchte nur noch nach meinem Autoschlüssel. »Außerdem kann ich hier sehr gut lernen.«
Die wohl größte Lüge seit langem, denn ich hatte in den letzten Tagen kein Wort von dem behalten, was ich hier gelesen hatte und mit meiner Hausarbeit hatte ich auch noch nicht angefangen.
Dann verabschiedete ich mich, für heute. Morgen würde ich sicher wieder hier sitzen. So lange, bis er seine Augen aufmachte. Ich wusste, ich würde nicht eher aufhören. Auch wenn ich weiterhin lügen musste, dass ich in einer besonderen Bibliothek war, oder mir eine Kirche ansah. Was ich allerdings dann machen würde, wenn er endlich aufwachen würde, wusste ich noch nicht so genau. Darüber wollte ich mir auch noch keine Gedanken darüber machen. Es war nicht mal klar, ob es überhaupt dazu kommen würde. Noch immer erschrak es mich, wie dieser Moment mein ganzes Leben durcheinanderbringen konnte. Ein Wimpernschlag und nichts war wie früher. Aber vor allem quälte mich die Frage, wie ich damit umgehen würde, wenn es jemanden traf, den ich wirklich liebte. Denn schon jetzt war der Einschnitt gewaltig. Ich sollte mir weniger Gedanken machen und mich auf das jetzt konzentrieren. Mein Blick schweifte über den Parkplatz. Einen Moment lang musste ich überlegen, wo ich meinen kleinen Wagen abgestellt hatte. Ich war gestern schon in die vollkommen falsche Richtung gelaufen. Aber dann sah ich ihn, allerdings lehnte ein junger Mann dagegen.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich wusste nicht, was ich nun machen sollte? Aufschließen und Einsteigen konnte ich nicht, denn Matt stand genau vor meiner Fahrertür. Er war ja nicht dumm. Sollte ich vorbeilaufen, so tun, als gäbe es ihn nicht? So tun als hätte ich etwas vergessen und mich im Krankenhaus verschanzen? Aber all das würde es nicht besser machen. Er würde am nächsten Tag noch warten. Matt war zäh. Also entschied ich mich dazu mich der Situation zu stellen. Egal wie viel Angst sie mir bereitete.
»Was willst du?«, fragte ich ihn barsch und hoffte damit direkt eine klare Grenze zu ziehen. Ich hatte mich also nicht geirrt, als ich ihn hier vor über einer Woche auf dem Parkplatz gesehen hatte. Er war leider keine Fantasie meines vollkommen überdrehten Kopfes, sondern ziemlich real.
»Reden.« Er fuhr sich durch seine dunklen Haare und sein schwarzes Unterlippenpiercing schimmerte kurz auf.
»Verschwinde Matt, es ist alles gesagt worden.« Ich konnte nicht glauben, was er gerade sagte. Reden, was fiel ihm ein hier aufzukreuzen?
Er musterte mich eingehend und schien keine Anstalten zu machen, von meinem Wagen weg zu gehen.
»Da wäre ich mir nicht sicher.« Er machte einen Schritt auf mich zu und ich wich vollkommen automatisch einen Schritt zurück. Ein Fehler, denn so hatte ich ihm gezeigt, dass ich Angst vor der Situation und leider auch vor ihm hatte.
»Ich sage es ein letztes Mal, oder ich rufe die Cops. Verschwinde Matt.« Ich spürte das Zittern in meiner Stimme. Die Unsicherheit, die sich in meinem ganzen Körper ausbreitete, allein durch ihn verursacht. Er stieß sich elegant ab, blickte mich noch einmal kurz an und verschwand ohne ein weiteres Wort in der Dämmerung.
Was hatte ihn hierhergeführt? Es gab eine klare Abmachung und er konnte sich nicht daran halten? In meinem Kopf fuhren die Gedanken Achterbahn, es gab keine Möglichkeit sie zu stoppen. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie ich an den Campus zurückgekommen war. Ich musste tief durchatmen, als ich die Tür hinter mir schloss. Zur Sicherheit verschloss ich sie, denn Fiona war sicher wieder bei Blaine. Gab es diese Momente im Leben tatsächlich, in denen einfach alles in einer Art Chaos zu enden drohte? Und befand ich mich augenblicklich in genau so einem Moment? Fehlte nur noch ein Meteor, der auf die Erde stürzen würde oder ein Vulkanausbruch, oder ein Erdbeben und alles war perfekt.
Im Schwarzsehen war ich verdammt gut, jedoch war es in diesem Moment vollkommen berechtigt.