Am nächsten Morgen wachte ich um kurz vor sechs Uhr auf.
Keine Zara. Voller Sorge zog ich mir schnell etwas über und lief ohne Umschweife zu ihrem Zimmer.
Es war noch dunkel auf dem Flur und meine nackten Füße versanken in dem flauschigen Teppich. Als ich Zaras Zimmer erreicht hatte, drückte ich ohne lange nachzudenken ihre Tür auf.
Es brannte noch kein Licht und mit angehaltenem Atem schlüpfte ich in ihr Zimmer. Als ich jedoch genau hinhörte, konnte ich Zaras leise Stimme vernehmen. Sie war jedoch so leise, dass ich keine eindeutigen Worte verstehen konnte.
Ich konnte meine Neugierde nicht unterdrücken und mit leisen Schritten schlich ich mich die Treppe hoch.
Oben angekommen, konnte ich Zaras Gestalt vor der Statue aus Glas erkennen. Sie hockte vor der Ballerina und sprach mit leiser Stimme zu ihr.
Dieses Mal klang sie jedoch nicht traurig, sondern viel mehr glücklich.
Erleichtert, dass es ihr anscheinend gut ging, atmete ich einmal tief ein. Es war nur ein leises Geräusch, doch es schien Zara zu genügen, um mich zu bemerken: Sie verstummte, legte den Kopf schief und warf mir dann einen Blick über ihre Schulter zu.
Sie lächelte, doch dennoch errötete ich und wich peinlich berührt ihrem Blick aus. „Ich wollte dich nicht stören, Zara", versuchte ich eine Ausrede zu finden, „aber du hast mich nicht geweckt, deswegen habe ich mir gedacht, dass ich diesmal ja zu dir kommen könnte..."
Ich druckste etwas herum, strich mir durch die Haare und sah erst wieder zu ihr, als ich aus den Augenwinkeln mitbekam, wie sie aufstand.
„Alles ist gut, Max." Sie lief an mir vorbei und als mir bewusst wurde, dass sie nach unten gehen wollte, meinte ich schnell: „Halt warte."
Sie blieb stehen und sah mich fragend an. Sofort kam die Unsicherheit wieder und als ich mich mit meinem ganzen Körper zu ihr umdrehte, war ich ihr so nahe, dass ich ihre Sommersprossen hätte zählen können. „Kannst du mir vielleicht den tieferen Sinn dieser gläsernen Statue erklären?", brachte ich schlussendlich doch meine Frage über die Lippen.
Als sie jedoch stumm blieb und nicht einmal mit der Wimper zuckte, fügte ich schnell hinzu: „Ich meine, für dich muss sie einen sehr tiefen tieferen Sinn haben und ich dachte... also ich dachte-"
„Du dachtest, dass ich dir alles erkläre?", beendete sie für mich den Satz und ich nickte ein weiteres Mal unsicher mit meinem Kopf. „Wie du schon gesagt hast, hat es für mich einen tieferen Sinn. Und dieser tiefere Sinn ist, dass er mich immer an meinen eigenen tieferen Sinn erinnert."
Dann änderte sie ihre Richtung und trat an das Fenster. Es verging keine Sekunde, bevor sie auf dem Dach verschwand. Kopfschüttelnd folgte ich ihr.
Zara sprach immer nur in Rätseln und so langsam fragte ich mich, ob sie es manchmal absichtlich tat, damit man nicht so leicht darauf kam, was sie eigentlich sagen wollte. Denn warum erinnerte diese Statue sie an ihren eigenen tieferen Sinn?
Und warum hatte sie sie verzweifelt um Vergebung angefleht?
Was war in ihrer Vergangenheit passiert, dass diese Statue nun ihr Dreh- und Angelpunkt im Leben war?
Dies waren alles Fragen, auf die ich wahrscheinlich nie von Zara persönlich eine Antwort bekam, deswegen beschloss ich nach unserem alltäglichen Ausflug auf das Dach, Amy einen Besuch abzustatten.
Eine Stunde später saß ich mit einer ziemlich missmutigen Amy auf ihrem Bett.
„Warum weckst du mich schon so früh?", murmelte sie und unterdrückte im nächsten Moment ein Gähnen.
„Ich halte diese Ungewissheit nicht mehr aus, Amy", entgegnete ich ohne Umschweife oder auf ihre Frage einzugehen. Ungeduldig rutschte ich auf meinem Hintern hin und her. „Weißt du, was ich meine? Zara hält ihre Vergangenheit und sonst alles über sich, in ihr verborgen und wenn nur ein kleines Bisschen ans Tagelicht kommt, flüchtet sie gleich wieder. So, als würde sie es nicht ertragen können, dass andere etwas über sie erfahren. Ich verstehe es einfach nicht. Ich verstehe sie nicht!" Ich selbst konnte die Verzweiflung hören, die in meiner Stimme mitschwang.
Amy gähnte ein weiteres Mal und meinte dann nur: „Max, es tut mir leid, aber ich komme nun schon seit zwei Jahren jeden Sommer hier her, weil meine ach so tollen Eltern jeden Sommer eine Weltreise machen wollen – ohne mich wohlgemerkt. Und in diesen zwei Jahren habe ich genauso viel, oder besser gesagt genauso wenig über sie herausgefunden wie du. Man sollte es akzeptieren. Zara ist eine Person, die nur im Jetzt leben und nur im Jetzt kennengelernt werden möchte." Amy seufzte einmal auf und schüttelte den Kopf, als sie weiterredete: „Und Max, selbst wenn ich etwas wüsste, würde ich es dir nicht sagen. Zara sollte selbst entscheiden dürfen, mit wem sie ihre Erinnerungen teilt."
Ich sagte nichts mehr, sondern presste einfach meine Zähne zusammen. Ihre Worte machten mich auf irgendeine Art und Weise wütend, die ich nicht genau erklären konnte. Hatte ich denn gar kein Recht darauf, etwas über Zara zu erfahren?
Über das Mädchen, das ich liebte?
War es denn so schwer zu begreifen, dass ich mich danach sehnte, etwas über Zara zu erfahren, damit ich das Gefühl hatte, zu ihr zu gehören?
Dass ich ihr etwas bedeutete?
Wollte sie mich etwa in zwei Jahren auch als eine Erinnerung der Vergangenheit abschließen und nie jemanden etwas über den Jungen erzählen, mit dem sie stundenlang auf dem Dach gelegen hatte?
Jeden tieferen Sinn wollte sie mir lehren, außer ihren eigenen.
Doch genau dieser war es, den ich am meisten erfahren wollte.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stand ich von Amys Bett auf und verließ das Zimmer. Amy hielt mich nicht auf.
Weitere fünf Tage gingen vorbei. Weitere fünf Tage, in denen ich mich bei Amy entschuldigte, mit den anderen in der Grotte schwimmen war und einen Nachmittag zu McDonald's fuhr.
Glücklicherweise erklärte Dean sich bereit zu fahren, sodass wir kein weiteres Mal um unser Leben fürchten mussten. Nach einer Portion fettigen Pommes entschieden wir uns sogar dazu, ein bisschen durch den kleinen Ort zu bummeln. Es gab in dem Städtchen nicht viel zu entdecken, doch dafür war es umso schöner. Wir kauften uns Eis in Waffeln und setzten uns auf die Wiese eines Parks. Man konnte hier kostenlos verschiedene Sachen wie zum Beispiel Federbälle ausleihen, sodass wir uns kurzerhand dazu entschlossen eine Runde Frisbee zu spielen. Es machte Spaß, doch nach nur wenigen Minuten wurde uns bewusst, dass keiner von uns so sportlich oder motiviert war, bei dieser Hitze einer Scheibe Plastik hinterher rennen zu wollen.
In diesen fünf Tagen war alles wie immer. Wir lachten, alberten herum und Zara erzählte uns mehr über die tieferen Sinne. Mit keinem einzigen Wort wurde etwas über ihre Vergangenheit erwähnt, auch wenn es mich beinahe vor Neugierde umbrachte. Doch im Endeffekt hatte Amy Recht: Zara sollte mir von sich aus etwas über ihre Vergangenheit erzählen. Es waren ihre Erinnerungen, über die sie bestimmen sollte.
Wir lagen zu viert dicht an dicht auf dem Felsvorsprung in der Grotte, als Zara plötzlich meinte: „Freundschaft ist etwas Magisches. Es ist ein unsichtbares Band der Gefühle, das man miteinander teilt." Sie drehte sich auf den Bauch und winkelte ihre Beine so an, dass sie sie in der Luft hin und her schwenken konnte, während sie einen nach den anderen von uns ansah. „In schweren Zeiten hilft man sich gegenseitig. Freundschaft gibt einem Hoffnung und Stärke. Schwört ihr, dass wir uns alle gegenseitig unterstützen, egal was passiert?"
Ich lächelte über ihre Worte und genoss das Gefühl von Wärme, dass sich bei ihnen in mir ausbreitete. Ich nickte und als Dean und Amy sich stumm aufrichteten, taten Zara und ich es ihnen gleich. Für einen kurzen Moment hielten wir uns an den Händen und schlossen somit einen stummen Pakt der Freundschaft.
Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen, atmete tief ein und genoss die Magie des Ortes und die Magie unserer Freundschaft.
Denn Zara hatte mir eben gerade nicht nur den tieferen Sinn der Freundschaft gelehrt, sondern mir auch beigebracht, was es hieß, wirklich wahre Freunde zu haben.