Ich machte mich auf den Weg zu Josie. Der Stadtpark erschien mir als der kürzeste Weg und ich betete dafür, möglichst schnell bei der Klinik anzukommen. Unterwegs bekam ich noch eine Nachricht von Chloe, weil sie sich ein paar Minuten verspäten würde und Steph schrieb anschließend noch, dass sie kurz eine Besorgung für ihre Mutter erledigen musste. Ich hatte also noch Zeit und die geplante Ablenkung von meinem gebrochenen Herzen würde noch auf sich warten lassen.
Die Bäume wiegten sich im Rhythmus des Windes leicht hin und her. Ich strich mir eine verlorene Haarsträhne aus dem Gesicht. Jede Geste erinnerte mich an Chris. Die Umgebung machte es mir schwer, ihn zu vergessen.
„Avery!" Eine Frau lief winkend auf mich zu. Ich kniff meine Augen zusammen, denn die Sonne blendete mich. Erst bei geringerer Distanz konnte ich Lianne erkennen. Sie war hübsch und strahlte überglücklich.
„Hallo, wie geht's?", fragte ich höflich nach.
Lianne lächelte. „Heute kann mich nichts mehr schockieren! Martin und ich werden ... gut, ich hatte gehofft, du redest mal mit ... Also wir werden heiraten!" Ich verschluckte mich augenblicklich. Meine Schläfen pulsierten stark, mein Herz hämmerte gegen meine Brust. Das konnte doch alles nicht wahr sein!
„Herzlichen Glückwunsch", stammelte ich verwirrt.
Lianne nickte mir dankend zu. „Du hältst zu Christopher, das finde ich echt bewundernswert. Deswegen hatten Martin und ich gehofft, du könntest mal mit ihm reden? Vor einigen Stunden haben wir ihm nämlich gesagt, dass wir unsere Hochzeit planen. Er ist, wie zu erwarten, vollkommen ausgerastet. Martin hat einen ordentlichen Kinnhaken abbekommen, aber er würde seinen Sohn trotzdem gern auf seiner Hochzeit sehen. Und ich würde dich gerne sehen, Avery! Ihr seid also beide ganz herzlich eingeladen, wenn ihr kommen wollt."
„Das war wirklich ein Schock." Ich atmete tief ein. „Ein positiver Schock!"
Lianne lachte wissend. „Also, würdest du zu unserer Hochzeit kommen wollen?"
Ich zuckte ein wenig ahnungslos mit meinen Schultern. Chris hatte anscheinend nicht von unserer Auseinandersetzung – von seinem beschissenen Spiel – erzählt. Wollte ich ihn fertigmachen, war das hier meine Chance. Doch ich konnte diesen Jungen mit den vermutlich weichsten Haaren und den wunderschönsten blauen Augen nicht einfach in die Pfanne hauen. Egal, was er mir angetan hatte; ich wollte ihm nicht denselben Schmerz bereiten wie er mir.
„Ich komme sehr gerne zu eurer Hochzeit." Ich zwang mir ein Lächeln auf. „Chris habe ich zuletzt heute Vormittag in der Schule gesehen. Wir haben einfach nicht mehr so viel Kontakt."
Lianne hob eine Augenbraue. Voller Skepsis betrachtete sie mich. Und ich wusste, sie ahnte bereits, was geschehen war. Doch hinter die Wahrheit würde sie wohl niemals kommen. So wie ich ... hätte Damian nicht nachgeholfen.
„Was hat er getan?", hakte Lianne nach. Es schien tatsächlich etwas zu geben, was sie selbst an diesem Tag noch schockieren konnte. Dieses falsche Spiel von Chris ließ sämtliche Schläge und jegliches Danebenbenehmen in den Schatten rücken.
„Avery, was hat Chris getan?" Lianne war gut darin, Druck zu machen. Ich fühlte mich klein; ja, wirklich hilflos! Vom Lügen hatte ich langsam echt die Nase voll. Vor mir hätte sich also liebend gern ein großes Loch auftun können, in das ich hätte verschwinden können.
„Ich kann ... Nein, das was Chris getan hat, kann ich dir einfach nicht erzählen. Es tut mir unendlich leid, falls du dir Hoffnungen gemacht hast, aber Chris und ich werden nicht zusammen zu eurer Hochzeit kommen können. Er hat mich einfach ... verletzt." Ich hoffte inständig, dass Lianne mit dieser Erklärung zufrieden war.
Sie sah für einen Moment nachdenklich gen Himmel. Die Sonne schien an dem wolkenlosen Himmel, doch Liannes Blick nach zu urteilen, war der Weltuntergang nicht mehr weit. Diese steile Falte zwischen ihren Augenbrauen beunruhigte mich.
„Ihr beiden seid ein süßes Paar gewesen", seufzte Lianne.
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter und wagte mich daran, sämtliche letzte Hoffnungen von Lianne zu zerstören. „Wir waren niemals ein Paar und wir werden es auch offensichtlich niemals sein." Ich hatte nicht gewusst, dass meine eigenen Worte mich dermaßen zerreißen konnten. Es war wie ein Schlag ins Gesicht.
„Auch, wenn ihr kein Paar wart, war es schön, euch zusammen zu sehen. Christopher war so ruhig und ausgeglichen an deiner Seite. Kein Vergleich zu vorhin! Oder zu früher!" Lianne machte mich neugierig. „Du wirst dich wahrscheinlich nicht trauen, mich zu fragen, aber du kannst auch alleine zu unserer Hochzeit kommen. Wir freuen uns sehr auf dich!"
Ich runzelte meine Stirn. „Was war denn früher mit Chris?"
„Darüber sollte ich eigentlich mit niemandem sprechen, doch die Diagnose von Anabel war wohl ziemlich heftig für ihn. Davor war er immerhin schon eine ganze Zeit lang in Pflegefamilien und laut Martin hat Chris die Krankheit seiner Mutter bis jetzt nicht verkraftet. Ihm fehlt wirklich jemand zum Anlehnen und Reden. Egal, wie hart er tut, er ist es nicht. Christopher hat bereits eine schlimme Vergangenheit mit Drogen, Alkohol und ... ach, Avery ... was soll ich sagen? Sein Vater ist ihm einfach ähnlich. Ich hoffe bloß, dass Chris schneller die Kurve kriegt."
Ich atmete unruhig. Mir war ganz schwindelig geworden vor Sorge und Angst. Chris hatte einen Hass auf Lianne, das war klar. Auf Martin war er auch nicht allzu gut zu sprechen. Mit Anabel konnte Chris nicht reden, Damian war keine Vertrauensperson. Und mich hatte Chris mit seinen Lügen und Spielchen von sich gestoßen.
Er fühlte sich bestimmt einsam. Oder er war grundsätzlich einsam, hatte sich daran gewöhnt und spielte weiterhin das Arschloch, das mit Gefühlen anderer spielte.
„Alles gut?", fragte Lianne mich besorgt. Sie fummelte sofort an ihrer Handtasche herum und ich bemerkte erst jetzt, dass mir die Tränen über die Wangen liefen.
Eilig wischte ich mir die Tränen weg. „Tut mir leid. Grüß Martin von mir, wenn du ihn siehst. Ich überlege mir, ob ich zu eurer Hochzeit komme." In Gedanken fügte ich noch hinzu: Vielleicht, wenn Chris nicht da ist.
Lianne ließ ich verdattert und mit einem sauberen Taschentuch in der Hand stehen. Emma und die anderen warteten bestimmt schon auf mich. Ich musste mich jetzt echt beeilen und vor allem diese wirren Gedanken um Chris aus meinem Kopf bekommen.
Mittlerweile saßen Chloe, Steph, Emma und ich in der Küche meiner Großmutter. Ich ließ den Kopf in meine Arme sinken. Auf dem hölzernen Küchentisch hinterließ ich ein dumpfes Geräusch, als ich mit der Stirn aufkam. Emma atmete geräuschvoll aus.
„Schatz, du schläfst nicht mehr richtig und irrst seit deinem Schulabschluss durch die Gegend, als wärst du ein Schlafwandler ...", sagte Nana besorgt. Musste sie das ausgerechnet vor Emma, Steph und Chloe ansprechen?
Ich hob meinen Kopf. „Ich schlafe richtig!"
„Man schläft nicht richtig, wenn man alle paar Stunden aufsteht und zum Kühlschrank geht", meinte Nana lächelnd. „Erzählst du mir vielleicht, was los ist? Hat der Junge etwas damit zu tun?"
Ich stöhnte genervt auf. „Weshalb denken immer alle, dass er etwas damit zu tun haben könnte?" Müde massierte ich meine Schläfen.
„Vielleicht, weil es einfach so ist." Steph verdrehte ihre Augen, woraufhin meine Nana sie strafend anschaute. Ich zuckte gleichgültig mit meinen Schultern.
„Nicht hilfreich", zischte Emma, als Steph erneut den Mund öffnete. Steph ließ daraufhin sofort ihren Mund zufallen. Das Feingefühl hatte ihr schon immer gefehlt. Doch sie gehörte zu uns, zu unserer Clique.
„Was hat er denn jetzt getan?", hakte Nana neugierig nach. Ihre Augen verrieten Konzentration und Angst. Angst, um ihre Nichte, was mir sofort ein schlechtes Gewissen bereitete. Ich seufzte leise.
„Liam hat hinausposaunt, dass wir ... wir waren einfach lange zusammen und er war wütend auf mich, weil ich mich trennen wollte. Das wissen jetzt alle und Chris hat das auch mitbekommen. Er ... war nicht gerade begeistert. Er hat mir gesagt, ich sollte zu ihm kommen, wenn ich uns eine zweite Chance geben wollte. Ich bin aber durch Josies Suizidversuch zu spät gekommen, als wir eigentlich verabredet waren. Anschließend haben wir uns gestritten und ich war ziemlich sauer auf Chris. Aber nicht sauer genug, als dass wir uns nicht wieder hätten vertragen können. Und vor einigen Tagen kam raus, dass alles nur eine riesige Lüge war. Damian, ein Freund ... oder eher ein Bekannter von Chris hat ihn quasi dazu gezwungen, mir endlich die Wahrheit zu sagen. Tja, was auch immer wir hatten, war erstunken und erlogen – eine dämliche Wette!" Ich schüttelte verletzt meinen Kopf. „Und sagt mir nicht, ihr hattet recht! Das ist mir bewusst! Mum hätte jemandem wie Chris niemals über den Weg getraut, egal, wie freundlich er auch ist. Doch ich war so bescheuert und jetzt ... es war einfach ein riesengroßer Fehler, ihm zu vertrauen."
Emma legte mir fürsorglich einen Arm um die Schulter. „Wie sagt man so schön? Die Zeit heilt alle Wunden."
Erschöpft lächelte ich. „Einige sagen auch, man gewöhnt sich nur an-"
„Ja, das sagen sie auch ... sie sagen so vieles, aber Fakt ist, dass es nur besser werden kann!", warf Chloe ein. „Das nennt man eine realistische Ansicht der Dinge."
Nana nippte an ihrem Wasserglas. „Das ist ja eine sehr schwierige Situation", seufzte sie. „Vielleicht sollten wir trotzdem aufhören, von Gewöhnung und Zeit zu sprechen."
Sie stand von ihrem Platz auf. „Wenn ihr Hilfe oder einen Hockeyschläger braucht ... ich bin im Wohnzimmer."
Wir mussten unwillkürlich lächeln. Meine Nana hatte einen tollen Humor. Schade, dass ich diesen Humor nicht von ihr geerbt haben konnte.
„Was hat Chris denn sonst zu dir gesagt? Es muss doch irgendwas gegeben haben, was dich auf diese ganzen Lügen hätte aufmerksam machen können." Chloe kratzte sich am Haaransatz.
Seufzend blickte ich zu Boden. „Lasst uns das Thema wechseln. Ich will ihn einfach vergessen, okay?" In meinem Kopf hallten die Worte von Chris nach. Ich sah verächtlich auf meine Schuhe hinab. Als könnte jemand wie Chris Harper wirklich lieben. Er war doch bloß ein lächerlicher Idiot.
Chloe schaute ein wenig betrübt zu Steph, die sich bereits vor wenigen Minuten aus dem Gespräch zurückgezogen hatte. Emma schwieg, doch ich konnte mir vorstellen, wie ihr Gehirn arbeitete. Sie konnte einen nicht einfach ohne Lösung dastehen lassen. Das war schon immer so gewesen und ich war wirklich dankbar dafür, obwohl ich im Moment von keinerlei Lösungsansätzen hören wollte.
„Heute Mittag hat mir eine Freundin erzählt, dass sie sich schon fürs Studium angemeldet hat", erzählte Chloe. Es war selten so still in der Küche gewesen.
Und dann begann Chloe vom Studium, ihren Plänen und Josie zu erzählen, mit der sie ursprünglich hatte ins Ausland gehen wollen. Während sie erzählte, schien ihr immer bewusster zu werden, dass diese Welt nicht so heile und perfekt war, wie sie immer gedacht hatte. Denn mitten im Satz brach Chloe ab, verwarf ihre Pläne und setzte zu einem ganz neuen Plan an, der von einem großen Abenteuer handelte, welches sie mit ihren Freundinnen erleben wollte.
„Ein Abenteuer mit lauter verkrüppelten Menschen", fügte ich gedankenversunken hinzu.
Chloe lachte leise. Sie strich sich eine lockige Haarsträhne aus dem Gesicht. „Sind nicht diese Abenteuer die Besten?"
Ich musste unwillkürlich lachen. Es kam von Herzen, soviel war klar. Und es war genau so klar, dass ich endlich meine Freundinnen wiedergefunden hatte. Wir hatten uns irgendwie zusammengerauft, zusammengehalten, obwohl uns auf diesem langen Weg einiges passiert war.
„Ich bin so froh, euch zu haben.", murmelte ich. Dann überkam es mich und meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich schluchzte und konnte die Gedanken an Chris nicht länger verdrängen.
Emma streckte ihre Hand über den Tisch nach meiner aus. Sie schaffte es irgendwie, dass dieser brennende Schmerzin mir ein kleines bisschen weniger schlimm wurde. Es war kaum zu glauben, dass ich Chris vielleicht irgendwann vergessen würde. Er hatte mir gezeigt, was es bedeutete, wenn man alles für einen Menschen geben wollte. Doch jetzt, wo sich meine Freundinnen an den Gedanken gewöhnten, dass ich nicht ausschließlich mit Liam zusammen sein musste, hatte Chris alles zerstört. Wieder einmal hatte er den Hass selbst geschürt. Und trotzdem war ich noch immer bereit, ihm all seine Fehler zu verzeihen. Meine Gefühle für Chris waren nicht vergleichbar mit denen, die ich für Liam gehabt hatte. Sie waren stärker. Ich wollte überhaupt nichts anderes mehr, als Chris – das Unerreichbare.