Sechsundzwanzigster Mai, 18:27 Uhr
Wisst ihr, warum ich finde, dass die Zeit eine Sache ist, die unberechenbar bleibt?
Weil sie relativ ist und in verschiedenen Situationen anders empfunden werden kann.
Die vierundzwanzig Stunden, die jeder Tag besitzt, werden von jedem Menschen anders wahrgenommen und vergehen verschieden schnell, obwohl die Zeit eine konstante Größe ist.
Es gibt Personen, mit denen die Zeit nur so davonfliegt und man sich gleichzeitig wünscht, sie einfrieren zu können, damit man dieses wunderschöne Erlebnis länger auskosten kann.
Man wünscht sich, dass man die vergangenen Sekunden, Minuten oder Stunden einfach zurückdrehen und diesen Moment erneut erleben kann.
Man sammelt in diesen Stunden, die manchmal wie Minuten wirken, Erinnerungen, die uns unser ganzes Leben lang begleiten werden, einfach weil sie so wertvoll sind, dass wir niemals zulassen würden, dass sie in Vergessenheit geraten.
Denn auch, wenn wir Menschen nicht in der Lage sind, die Zeit zu bestimmen oder Momente erneut zu erleben, so sind wir in der Lage, sie in unseren Köpfen immer wieder und wieder abspielen zu lassen.
Ob es nun bestimmte Kindheitserinnerungen sind, wie das Spielen mit seiner Lieblingsgans auf dem Landgut seiner Großeltern oder die Ausflüge, die man mit seinen Eltern unternommen hat.
Ob es Erinnerungen aus der Schule sind, wie man seine erste Eins in einem Fach bekommen hat, oder einmal Klassenbester gewesen ist und bemerkt hat, dass das ganze Lernen und die verpassten Lieblingsserien sich gelohnt haben.
Ob es Erinnerungen mit seinen Freunden sind, wenn man im Gras liegt, zusammen die Wolken beobachtete und einfach den Tag entspannt ausklingen lässt. Oder ob es einfach die Situationen sind, in denen man den Spaß seines Lebens gehabt hatte und sich endlich etwas getraut hat, was man vorher sehr wahrscheinlich nie getan hätte.
Solche Erlebnisse vergisst man nicht, einfach weil sie ein extrem wertvolles Gut des Lebens sind. Denn Erinnerungen kann uns keiner nehmen, und man muss auch nicht bezahlen, um sie zu erhalten.
Man muss einfach nur leben.
»Und hier auf diesem Foto haben Louis und Niall sich darum gestritten, wer mein Bräutigam wird. Ich glaube, das war das einzige Mal gewesen, dass wir jemals Hochzeit gespielt haben.«
»Ich hätte sonst das Blumenmädchen sein müssen! Niall hat das rosafarbene Haarband außerdem viel besser gestanden als mir.«
»Stimmt, mir fällt gerade auf, dass da alles angefangen hat. Niall musste sich echt oft als Frau verkleiden.«
»Jedoch keinesfalls auf freiwilliger Basis! Das nächste Mal könnt gerne ihr die Krankenschwester, das Kindermädchen oder sonst was sein! Nialler is out!«
»Aber du hast das weiblichste Gesicht von uns. Du bist am besten dafür geeignet.«
»Mein Gesicht ist nicht weiblich!«
»Doch, deine Wangenknochen sehen perfekt aus und du hast eine süße Stupsnase. Außerdem versucht du jetzt schon seit zwei Jahren, dir einen Bart wachsen zu lassen und noch immer besitzt du kein einziges Härchen am Kinn.«
»... Ach halt doch die Klappe, Liam.«
Doch so, wie die Relativität der Zeit ihre guten Seiten hat, so hat sie auch ihre schlechten. Wie so ziemlich jede Sache auf diesem Planeten.
Denn so schnell und rasant die schönsten Stunden auch vergehen mögen, so langsam, qualvoll und ewig wirken die, in denen wir leiden.
»Schatz, was ist denn los?! Was ist passiert? Hey, Cat! Hörst du mich?«
»Scheiße! Kitty, kannst du uns hören? Kitty!«
»Schnell Niall, ruf sofort den Notarzt! Ihr Herz!«
So wie es Stunden gibt, die wie Minuten erscheinen, gibt es Minuten, die sich wie Stunden anfühlen.
Augenblicke, in denen sich sämtliche negative Gefühle in uns breit machen: Angst, Hoffnungslosigkeit, Trauer, Wut, Hass, Missgunst.
Eine Mischung aus den Emotionen, welche uns unser Leben erschweren und dennoch dazu gehören.
Ich wusste vorher nie, wie es sich anfühlte, wenn man um das Leben eines geliebten Menschen bangen musste.
Ich wusste vorher nie, wie man sich fühlte, wenn die Person, die man über alles liebte, plötzlich kurz vor dem Tod stand.
Ich wusste vorher nie, wie erdrückend und grausam das Gefühl der Angst tatsächlich sein konnte.
Und gepaart mit Hoffnungslosigkeit ist sie unerträglich.
Der Körper fühlt sich taub an, die Sinne konzentrieren sich einzig und alleine nur noch auf diesen einen Menschen. Alles andere erscheint unwichtig. Alles andere blenden wir aus.
Ich werde wohl nie vergessen, wie Cat plötzlich in meinen Armen zusammensackte, sich die Brust hielt, panisch nach Luft schnappte und am ganzen Leibe heftig zitterte.
Wie überrumpelt und geschockt ich von dieser Situation war. Wie schwach ich mich fühlte, weil ich ihr nicht helfen konnte. Und wie unendlich sauer ich auf Gott und die Welt war.
Ich nahm nur noch die Hälfte meiner Umgebung war. Bemerkte nur, wie Cat in meinen Armen das Bewusstsein verlor und der Krankwagen wenige Minuten später schon vor ihrem Haus stand.
Ich bemerkte nur, wie sie weggeschleppt wurde und Herr Mason mir irgendetwas sagte. Ich nickte, obwohl ich ihm nicht zugehört hatte.
Ich konnte noch immer nicht realisieren, dass das hier die Realität war und kein Albtraum. Ich wollte nicht glauben, dass das hier wirklich passierte. Ich wollte aufwachen. So schnell wie möglich!
Ich wollte aufwachen, zu Cat ins Bett gehen. Sie fest an meine Brust drücken, um sie vor den schlimmen Dingen auf dieser Welt bewahren zu können. Ich wollte ihr am nächsten Morgen von diesem Traum erzählen. Ich wollte, dass sie mir dann sagte, dass das niemals passieren würde und ich mir keine Sorgen machen müsse. Dass es ihr gut ging und ihr nichts fehlte.
Dass es nur ein Traum war!
Doch das waren nur Wunschvorstellungen meinerseits.
Letztendlich kam ich irgendwie in Herr Masons Auto, das von Zayn gefahren wurde und uns zum Krankenhaus führte. Die ganze Fahrt über saß ich still auf meinem Platz und bewegte mich nicht. Keinen Millimeter, ehe wir ankamen.
Wie in Trance rannte ich über den weißen Boden des Krankenhauses auf eine bestimmte Tür zu, hinter der sich die Braunhaarige befand, die von den Ärzten behandelt wurde.
Herr Mason wartete vor der Tür, sagte erneut ein paar Worte, doch da ich ihn nicht anblickte, da meine Augen die ganze Zeit auf der Krankenzimmertür hafteten, wusste ich nicht, ob er wieder mit mir sprach oder mit einen der Jungs.
Ich haftete mit meinen Augen an Cats schwächlicher Gestalt, die auf dem Krankenbett lag, welches ich zwischen die Lücken der Jalousien des großen Fensters erkennen konnte, vor dem ich stand.
Ich wusste nicht genau, was die Ärzte dort taten, aber anhand der EKG-Werte erkannte ich, dass ihr Zustand sich immer weiter verschlechterte.
Ich hatte das Gefühl, dass die Welt still stand, als ich vor ihrem Krankenzimmer verweilte und beobachtete, wie diese fremden Menschen an meiner Cat herumhantierten und versuchten, ihr das Leben zu retten. Hatte das Gefühl, dass die Zeit eingefroren war und die Welt aufgehört hatte, sich zu drehen.
Doch das Grausamste an der Zeit ist, dass sie niemals stehen bleibt. Egal, welche schlimmen Situationen wir auch erleben werden, sie wird immer weitergehen. Die Welt wird um uns herum dennoch leben, während wir innerlich sterben und uns fragen, womit wir dieses Schicksal verdient haben.
»Harry.«
Jemand sagte meinen Namen. Doch ich reagierte nicht. Ich wollte nicht in die traurigen Gesichter von den Jungs und Herr Mason blicken, welche genau die Gefühle widerspiegelten, die gerade in ihrem Inneren tobten. Die Gefühle, die sich auch in mir breit machten.
Ich konzentrierte mich nur auf Cats Herzaktivität, die mit jeder Sekunde mehr und mehr sank.
Es tat weh, sie in diesem Zustand zu sehen.
Mein Mädchen, welches das wunderschönste Lächeln der Welt besaß. Welches immer so fröhlich und lebensfroh gewesen ist. Welches mir die schönen Seiten des Lebens geöffnet und gezeigt hatte. Welches mir die Welt bedeutete. Welches ich liebte. Mehr als alles andere auf dieser Erde.
Tränen entstanden in meinen Augen, bevor sich ein Schleier über diese legte und ich die Herzaktivitätswerte nur noch verschwommen erkennen konnte.
Doch das war in diesem Falle sowieso unnötig.
Das Piepen des EKG sagte mir alles.
Das Piepen dieser Maschine verdeutlichte mir, dass ihr Herz aufgehört hatte zu schlagen. Dass ich das Mädchen verloren hatte, das ich liebte. Dass ein Stück meines Herzens in diesem Augenblick gestorben war. Dass ich meinen wunderschönen Sonnenschein verloren hatte. Den Menschen, der mir meine Lebensfreude zurückgegeben hatte und sie jetzt wieder mit in den Tod nahm.
Es traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Nur, dass es noch mehr schmerzte, als jeder Tritt es hätte tun können. Ich wollte schreien und meiner Trauer freien Lauf lassen, doch schnürte mir etwas die Kehle zu. Stumme Tränen flossen über meine Wangen, während mich meine Kraft verließ und mein Körper erschlaffte.
Ich sank auf meine Knie, konnte meine Augen jedoch nicht von der Krankenhaustür gleiten lassen, als hätte ich noch immer Hoffnung, dass die Braunhaarige gleich putzmunter und gesund durch diese treten würde.
Schock machte sich in mir breit.
Schock gesellte sich zu der Trauer, der Wut, der Hoffnungslosigkeit und der Hilflosigkeit. Schock ließ meinen Körper erschaudern und zittern. Schock und Fassungslosigkeit.
Das Piepen dröhnte in meinen Ohren und zog mich jede Millisekunde zurück in die unschöne, jedoch knallharte Realität, während meine Welt zerbrach und ich auf den Scherben meines Lebens kniete. Von einer Sekunde auf die nächste hat sich mein Leben erneut um einhundertachtzig Grad gewendet.
Und ich wünschte mir, dass ich, anstelle von ihr, gestorben wäre.