Kapitel 91.3

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„Ich gehe mal davon aus, dass MaWiCon nur zum Schein für die Öffentlichkeit Klamotten verkauft.", sagte Samuel. Dessen Miene hatte sich deutlich verdunkelt. Zähnefletschend sah er zu einem unbestimmten Punkt. Erneut wirkte er ziemlich bedrohlich, was vor allem seinen messerscharfen Zähnen zu verschulden war. „Wenn dieser Bill dort arbeitet, können wir ihm nicht trauen."

Das sah auch Enya ein, die schweigend auf ihre Hände blickte. Jede Energie schien aus ihr gewichen zu sein. Auf einmal wirkte sie unglaublich müde. Sie hatte sich so gefreut, dass sie uns hatte helfen können, um nun festzustellen, dass Bill die Mutanten, die er schmuggeln sollte, wohl in eine Falle lockte. „Es tut mir leid, Freya, Lucius. Ich dachte wirklich, dass Bill euch helfen könnte.", entschuldigte sie sich mit leiser Stimme. „Und jetzt weiß er auch noch von euch und dass ich da irgendwie mit drin hänge. Vielleicht kommt er jetzt auch noch da drauf, dass ich hier Mutanten verstecke!" Verzweifelt und vollkommen am Ende vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen. „Wenn wir jetzt entdeckt werden, ist das alles meine Schuld!" Ein Schluchzen entschlüpfte ihr. Sie zitterte am ganzen Körper. Sofort war Samuel bei ihr und nahm sie in den Arm. Beruhigend strich er ihr über den Rücken. Doch sein Gesicht war ernst. Seine Mutanten, seine Freunde befanden sich nun in Gefahr. Und er wusste nicht, wo er mit ihnen hingehen konnte, sollte ihr Versteck auffliegen. Für Enya mochte das nur heißen, dass sie auf unbestimmte Zeit ins Gefängnis käme. Aber für Samuel und alle anderen bedeutete es den Tod. Und kein einziges Gericht würde dieses Urteil ändern können. Wenn es überhaupt einen Prozess gäbe, wovon ich nicht ausging.

Ungehemmt schluchzte Enya. Die Tränen liefen ihr in Strömen über das Gesicht. Es war gut, dass sie das Gesicht ihres Cousins nicht sah. Denn dann hätte sie nur noch stärker geweint. Samuel stand sein Todesurteil ins Gesicht geschrieben. Und die Verantwortung, die er über die anderen Mutanten hatte, milderte seine Last nicht im Geringste.

„Es tut mir leid!", schluchzte Enya. „Es tut mir so leid!"

Was konnte ich tun? Es durfte nicht sein, dass Bill Enya und ihrem Cousin auf die Schliche kam. Aber wie konnte ich das verhindern? Sollte er hier auftauchen, mussten wir kämpfen. Selbst, wenn Lucius und ich noch eine Möglichkeit fanden, aus London zu verschwinden, konnten wir das jetzt nicht mehr. Wir konnten nicht einfach verschwinden und diese Leute ihrem Schicksal überlassen.

Ein schrilles Klingeln ließ alle Anwesenden plötzlich zusammenzucken. Aus schreckgeweiteten Augen starrte Enya in Richtung der Haustür. Samuel war wie erstarrt. Lucius schloss einmal kurz seine Augen, atmete tief ein und aus. Als er seine Augen wieder öffnete, war er bereit.

„Gib mir ein Messer, Freya.", forderte er mich auf. Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde lag ein eisiges, langes Messer in meiner Hand, das ich Lucius wortlos überreichte. Ohne eine weitere Sekunde an Worte zu verschwenden, erhob mein Bruder sich. Mit entschlossenerMiene verließ er das Wohnzimmer und schloss die Tür hinter sich, sodass niemand von der Haustür aus einen Blick auf uns erhaschen konnte. Es war erschreckend, wie sehr er mich auf einmal wieder anden Lucius erinnerte, der mir im Garten der Harris' gegenüberstand.

Enya schien die Luft angehalten zu haben. Sogar ihre Tränen schienen auf ihrer Wange innezuhalten. Samuel dagegen ballte seine Hände so fest zu Fäusten, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Erneut fletschte er seine messerscharfen Zähne. Dieses Mal wirkten seine schwarzenAugen wie unheilvolle Abgründe, aus denen es kein Entkommen gab. Nun stand ich auf. Ich war bereit. Was auch immer kommen mochte. Auf keinen Fall würde ich kampflos untergehen. Und erst recht nicht würde ich zulassen, dass den Mutanten in diesen Haus etwas geschehen würde.

Das Knarzen verriet, dass Lucius die Haustür geöffnet hatte. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er den Besucher allein mit seinem Blick einschüchterte. So, wie mein Bruder gerade gewirkt hatte, könnte er es mit jedem Gegner aufnehmen. Er mochte zwar keine besonderen Fähigkeiten haben, doch er war dennoch nicht zu unterschätzen. „Guten Tag.", erklang eine fremde Stimme. Sie klang überraschend freundlich. „Mein Name ist Bill Grayson. Ich hatte mit Enya telefoniert." Schlagartig verlor Enyas Gesicht jeglichen Hauch von Farbe.

„Hier wohnt keine Enya.", sagte Lucius kühl. Er klang vollkommen desinteressiert.

Ein „Halt, warte!", signalisierte mir, dass mein Zwilling die Haustür schließen wollte. „Ich weiß, dass Enya hier wohnt! Zwar hat sie mir nicht ihre Adresse genannt, aber das war ganz leicht herauszufinden.", sagte Bill schnell.

„Hier wohnt keine Enya.", wiederholte Lucius kalt. „Und jetzt gehen Sie bitte, oder ich rufe die Polizei. Sie haben sich in der Tür geirrt."

„Nein, halt!" Erneut hatte Lucius die Tür schließen wollen. Ein gequältes Stöhnen verriet mir, dass Bill das Schließen der Tür mit seinem Fuß verhindert hatte. „Bist du der Bruder, von dem die Rede war?", fragte Bill.

„Ich bin Einzelkind.", meinte Lucius eisig.

„Nein, nein. Du musst der Bruder sein.", beharrte Bill und nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Oder hier leben mehr Mutanten, als ich erwartet hatte." Samuels Kiefer knirschte. Ich spürte, wie die Temperatur um mich herum drastisch fiel.

„Wollen Sie mir etwa unterstellen, dass ich mich mit abscheulichen Mutationen abgebe?", spie Lucius außer sich. Er lachte höhnisch auf. „Allein für diese Unterstellung -" Obwohl ich wusste, dass Lucius diese Worte nicht ernst meinte, schmerzten sie doch so unglaublich.

„-Stopp!", unterbrach Bill meinen Bruder. Dieses Mal klang er jedoch sichtlich unsicher. „Bitte, beruhige dich. Ich bin nicht hier, um irgendwen zu beleidigen. Ich bin lediglich hier, um ... zwei Personen, die sich zurzeit bei Enya befinden, abzuholen." Lucius' Reaktion musste Bill so sehr verunsicher haben, dass er tatsächlich daran zu zweifeln begann, das richtige Haus gefunden zu haben. Darum wagte er es nicht mehr, so offen von seinem Auftrag zu sprechen. Nicht mehr lange. Dann würde Bill gehen. Im Glauben, sich geirrt zu haben. Dann wären Enya und die Mutanten in diesem Haus wieder sicher. Zumindest vorläufig.

„Hier wohnt keine Enya. Und auch in der gesamten Straße werden Sie keine Enya finden!", redete sich mein Zwilling in Rage. „Wollen Sie das nicht endlich verstehen? Es ist das falsche Haus! Die falsche Straße!" Dennoch hielt Bill sich ziemlich gut. Andere wären an seiner Stelle bestimmt schon gegangen. Doch er war hartnäckig. Vermutlich hartnäckiger als gut für ihn war.

„Enya?", rief er verzweifelt. Und wurde noch einmal lauter. „Enya? Hörst du mich?" Enya, die mir gegenüber saß, sah so aus, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. „Hier ist Bill Grayson!"

„Hören Sie mir überhaupt zu?", donnerte Lucius wutentbrannt. „Hier. Wohnt. Keine. Enya!"

„Bitte, wer auch immer du bist – ob du nun der Bruder bist, oder nicht –bitte lass mich rein. Oder hol Enya zur Tür. Ich weiß, dass ich mich nicht vertan habe. Das hier ist das Haus. Daran besteht kein Zweifel.", versuchte Bill es weiterhin. Dieses Mal wirkte er deutlich ruhiger. Und plötzlich: „Ist das Eis in deiner Hand?"

Ein Krachen war zu vernehmen. Woher genau das kam, konnte ich nicht sagen. Doch es machte mich unruhig. Irgendetwas lief nicht so, wie es sollte. Ganz und gar nicht. Ob mein Bruder Bill nun von sich geschubst oder geschlagen hatte, konnte ich nicht sagen. Hatte er ihn erstochen? Nein. Jemand fluchte laut. Und es war nicht Bill.






Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt