Kapitel 91

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Am nächsten Morgen wurden wir von Enya geweckt. Es war noch recht früh. Allerdings sah ich keine Uhr in meiner Nähe. Verschlafen streckte ich mich einmal. So gut hatte ich schon lange nicht mehr geschlafen. Es fühlte sich an, als sei es ewig her, dass ich in einem Bett geschlafen hatte. Und diese Luftmatratze kam dem am nächsten. Es war wunderbar. Im Gegensatz zu mir wirkte Varya nicht sonderlich zufrieden.

„Guten Morgen.", begrüßte uns Samuels Cousine mit einem leichten Lächeln. „Noch ist keiner sonst wach. Ihr könnt also in Ruhe Frühstücken. - Ach, und ich habe euch frische Klamotten herausgesucht." Sie reichte jedem von uns einen Stapel. „Wollt ihr auch noch ein wenig Proviant mitnehmen?"

„Das ist doch nicht nötig.", winkte ich ab. Enya hatte nicht sonderlich viel Geld, soweit ich das mitbekommen hatte. Außerdem musste sie bereits allein mit ihrem Gehalt einen ganzen Haufen von Mutanten ernähren. Da wollte ich ihr nicht auch noch etwas wegnehmen.

Allerdings schüttelte Enya energisch ihren Kopf. „Ich kann euch doch nicht ohne gehen lassen! Ihr wisst noch nicht einmal, ob ihr die Gelegenheit haben werdet, mit einem Auto zu fahren oder ob ihr den ganzen Weg laufen müsst! Und wenn ihr laufen müsst, wird es eine ziemlich lange Reise werden.", sagte sie entschlossen. Wieso hatte sie dann überhaupt gefragt?

„Bist du dir sicher, dass das okay ist, wenn wir ein wenig Proviant mitnehmen?", fragte ich vorsichtig, woraufhin Enya mir ein seichtes Lächeln schenkte.

„Aber sicher. Brot haben wir immer hier und hier gibt es genug Brotbelag, der nicht allzu schnell verdirbt. Außerdem ist Brot nicht so teuer.", versicherte sie mir.

„Kommst du eigentlich mit?", wandte mein Bruder sich an Varya. Diese wirkte etwas überrumpelt und zuckte leicht zusammen. Verlegen strich sie sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Also hast du dich noch immer nicht entschieden.", schloss Lucius, woraufhin er von mir einen warnenden Blick erntete. Konnte er nicht nachvollziehen, dass Varya Zeit brauchte? Immerhin war dies eine Entscheidung, die ihr Leben verändern könnte. Und dies konnte eine Menge an Druck auf eine Person auswirken, der es vor langer Zeit abgenommen worden war, eigene Entscheidungen zu treffen.

„Wenn es dir hilft, hör einfach mal auf dein Bauchgefühl.", schlug Enya vor. „Vielleicht ist es besser, wenn du weniger überlegst und einfach spontan eine Entscheidung fällst. Dann wählst du eventuell das, was du eher möchtest." Sie drehte sich in Richtung der Küche. Lucius stimmte Enya nickend zu. „Lasse einfach alles andere, außer deinen eigenen Willen, außer acht.", meinte er und erhob sich von seiner Luftmatratze, die dabei ein unangenehmes Quietschen von sich gab.

Er streckte sich einmal, gähnte hinter vorgehaltener Hand und folgteEnya in die Küche. Diese war damit beschäftigt, uns Müsli zu machen. „Kann ich dir helfen?", fragte mein Bruder.

„Na ja. Vielleicht könntest du schon einmal ein paar Brote schmieren.", schlug Enya dankbar vor. Sie zeigte ihm kurz, wo er alles fand und widmete sich wieder dem Frühstück.

Neben mir biss Varya nervös auf ihre Unterlippe. Ihre Augen huschten zwischen Enya und mir hin und her. Es war leicht zu erraten, worüber sie nachdachte. „Mache dir keinen Druck.", sagte ich.

Daraufhin lachte Varya unentschlossen. „Bitte sag das nicht. Das macht mir nämlich Druck. Außerdem wollt ihr heute schon los. Also habe ich nur begrenzt Zeit.", erwiderte sie leise.

„Kommt ihr beiden?", zog Enya unsere Aufmerksamkeit auf sich. Das fertige Frühstück hatte sie auf dem Wohnzimmertisch abgestellt, an dem Enya und Lucius bereits Platz genommen hatten. Ich setzte mich Lucius gegenüber. Varya ließ sich neben mir nieder. „Es ist nichts Besonderes.", sagte Enya. „Nur Haferflocken mit Schokoladenstückchen."

„Das macht doch nichts.", sagte Lucius. Nickend pflichtete ich ihm bei, während ich mir meine Schüssel nahm. Für einen Moment hörte man nur noch unser Kauen. Ansonsten war es still. Der Rest des Hauses schlief noch. Und jetzt erblickte ich auch eine Uhr. Wir hatten gerade mal halb sieben. Liam würde sich jetzt lauthals beschweren. Er konnte es nicht leiden, vor zehn Uhr geweckt zu werden. Und selbst zehn Uhr tolerierte er nur widerwillig.

„Musst du heute eigentlich auch arbeiten?", wollte ich von Enya wissen. Diese nickte. „Ja, aber ich muss erst in einer Stunde los.",sagte sie.

„Was genau machst du eigentlich?", fragte ich interessiert.

„Es sind bisher nur ein paar kleinere Jobs.", erzählte Enya. „Eigentlich hatte ich ja studieren wollen, aber das geht nicht mehr. Ich würde einfach viel zu wenig verdienen, um hier helfen zu können."

Es war beklemmend zu hören, dass sie ihr eigentliches Ziel nicht verfolgen konnte. Mir war schon bewusst gewesen, dass Enya viel aufgeben musste, um ihren Cousin und all die anderen Mutanten zu unterstützen. Aber an so etwas hatte ich ehrlich gesagt nicht gedacht: eher an Zeit, Energie und Geld.

„Was wolltest du denn studieren?", wollte Lucius interessiert wissen.

Ein trauriges Lächeln huschte über Enyas Lippen. „Philosophie und Anglistik.", antwortete sie. „Auch, wenn ich nicht wirklich gewusst hätte, was ich nach einem abgeschlossenen Studium damit anfangen könnte. Wenn ich aber jetzt an eure Situation denke, wäre Jura vermutlich viel nützlicher."

„Vielleicht. Aber du solltest lieber das tun, was dir eher liegt und mehr zusagt.", erwiderte ich. „Und wer weiß? Vielleicht kannst du später trotzdem noch studieren."

„Wenn das alles vorbei ist.", meinte Enya nur. Wenn. Das sagte es schon ziemlich gut. So sehr ich es auch wollte, es schien mir beinahe unmöglich, dass sich jemals etwas ändern würde, was uns anging. Zu viel würde sich in unserer Gesellschaft ändern müssen. Und zu viele Menschen fürchteten das. Vielleicht sogar mehr, als sie uns Mutanten fürchteten. Die Verachtung und Angst vor uns saß womöglich schon viel zu fest. Aber selbst, wenn wir Mutanten irgendwann gleichauf mit den Menschen wären, wann wäre das? Was, wenn ich das schon gar nicht mehr erleben würde? Solch eine gewaltige Veränderung in der Denkweise der Menschen brauchte Zeit. Unvorstellbar viel Zeit. Selbst, wenn wir per Gesetz gleichwertig wären, hieß das noch lange nicht, dass sofort alle Menschen sich der Neuerung anpassten. So etwas geschah nicht von jetzt auf gleich.

Plötzlich räusperte Varya sich und stellte leise ihre Schüssel zurück auf den Tisch. Fragend lagen alle Blicke auf ihr. Hatte sie eine Entscheidung getroffen? Starr sah Varya auf ihre Hände. Ihre Finger hatten sich in ihre Hose gekrallt. Sie wagte es nicht, auf zusehen. „Ich möchte hierbleiben." Vorsichtig blinzelte sie uns kurz der Reihe nach an. „Wenn das okay ist.", fügte sie noch hinzu, ehe sie wieder auf ihre Finger starrte. Es war ihr offensichtlich unangenehm.

„Natürlich ist das okay!", rief Enya erfreut aus. Lächelnd sah sie Varya an. „Dann bist du jetzt ein Teil unserer kleinen Gruppe! Wir können jede helfende Hand gebrauchen!" Zögerlich erwiderte Varya Enyas Lächeln. Dennoch zuckte ihr Blick immer wieder zu mir. Was wollte sie von mir hören? Dass ich es ihr nicht übel nahm? Ich hatte ihr doch schon einmal gesagt, dass sie nicht in meiner Schuld stand.

Da Varya es anscheinend benötigte, lächelte ich zustimmend. Daraufhin wirkte sie tatsächlich sehr viel entspannter. „Dann sind wir wohl zu zweit.", stellte ich fest.

Lucius nickte. „Vielleicht ist es dadurch einfacher, aus der Stadt zu kommen.", merkte er an. Wir konnten es zumindest nur hoffen.

„Ach ja. Deswegen wollte ich auch noch einmal mit euch sprechen.", sagte Enya, die ihre nun leere Schüssel auf dem Tisch abstellte. „Ich konnte nicht sonderlich gut schlafen, da ich immer daran denken musste, dass es nicht leicht wird, euch aus der Stadt zu bringen. Darum habe ich recherchiert und bin auf einen meiner ehemaligen Klassenkameraden gestoßen." Sie wirkte äußerst zufrieden. Sie strahlte förmlich. „Es ist zwar schon ein Weilchen her, aber ich habe ihn angerufen. Er kann euch aus der Stadt bringen!"

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt