25. Flüstergespräche

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                                   Nick

Es war sicher schon nach zwei Uhr, als Ella kichernd vor mir die Treppe zu ihrem Zimmer hochrannte und sich zu mir umdrehte. „Im zweiten Stock wohnen Nessie und ich, im dritten Mum und Dad. Und im obersten Stock sind die Büros meiner Eltern."

Die meisten Gäste der Verlobungsfeier waren schon seit Stunden zuhause, ein paar Freunde von Luke und Laura, sowie Ella und ich, waren aber noch wach und hatten bis gerade eben vor dem Lagerfeuer Spiele gespielt. Ella hatte vorgeschlagen, dass ich bei ihr übernachtete, jedoch wusste sie, dass ihre Eltern davon gar nicht begeistern wären.
Da diese jedoch in einem anderen Stock wohnten und schon schliefen, meinte Ella, sie würden das gar nicht mitbekommen. Ich war mir da allerdings nicht so sicher.

Ich hatte meiner Mum schon Bescheid gegeben, dass ich erst morgen wieder auftauchen würde. Ich hoffte, sie vermutete nichts... Falsches.

Ella und ich schlichen über den Flur und sie machte langsam ihre Zimmertür auf. Wir schlüpften in ihr Zimmer und sie schloss die Tür hinter uns wieder, bevor sie erleichtert aufatmete.

Der in Rosatönen gehaltene Raum, in dem wir uns jetzt befanden, hatte genau wie auch die Räume im Erdgeschoss hohe Decken und kleine Lampen, die in sie eingelassen waren. Die Wände waren weiß, nur eine war rosarot gestrichen und entsprach damit nicht so ganz meinem Geschmack.
Zu Ella passte es aber irgendwie.
Das Zimmer war sehr groß, und doch war es nicht mit vielen Möbelstücken gefüllt:
Ein großes Himmelbett mit vielen Lichterketten stand links vom Eingang, während der Schreibtisch mit einem phänomenalen Blick auf ganz Vancouver, auf der rechten Seite stand.
Alles war top modern und glänzte als wäre es vor fünf Minuten noch geputzt worden.
Okay wow, so wie ich Ella kannte, war sie eher spontan, tollpatschig und unordentlich, aber dieser Raum sagte das Gegenteil über sie aus.

Ich sah zu ihr und sie presste die Lippen aufeinander und sah auf den Boden.
Oh, Mist.

„Hey, tut mir leid, wenn das falsch rübergekommen ist, es war nicht böse gemeint.", sagte ich leise und trat einen Schritt auf sie zu.
Sie nickte leicht und sah wieder zu mir. Ich schenkte ihr ein Lächeln, und ich merkte augenblicklich wie sie sich entspannte.

Puh, dieser ganze heutige Tag war irgendwie schon ein kleines Abenteuer. Aber ein schönes. Weil ich es mit Ella zusammen erlebte.

„Und jetzt?", fragte sie und ich grinste schief und zuckte mit den Schultern.
„Ähh, ich hab ein angrenzendes Badezimmer, da zieh ich mich um und du kannst das hier in meinem Zimmer tun. Ich kann dir vielleicht ein paar Sachen von meinem Bruder holen, wenn du möchtest. Der hat noch ein paar Klamotten von sich hier."

Nachdem Ella die Sachen geholt und wir uns umgezogen und die Zähne geputzt hatten, lagen wir nun etwas unsicher nebeneinander unter Ellas Bettdecke, ohne uns gegenseitig zu berühren. Doch trotzdem nahm ich sie sehr intensiv wahr.
Ich hörte ihr lautes Herzklopfen,
ihren immer sachte werdenden Atem,
spürte die Anziehung, die von ihr ausging
und ihre Körperwärme,
roch den Duft eines frischgemachten Bettes,
und den Duft von Ella, der sich mit der frischen Nachtluft vermischte, die wir vorhin noch kurz in ihr Zimmer gelassen hatten.

Plötzlich konnte ich ihren kleinen Finger spüren, der sich mit meinem verhakte und sie ein bisschen näherrutschen ließ. Unsere Schultern stießen leicht aneinander, und alleine diese kleine Berührung reichte aus, um meinem Körper einen Stromschlag zu verpassen.
Ella ging es offenbar nicht anders. Ihre Atmung ging wieder etwas schneller und wir drehten in der gleichen Sekunde unsere Köpfe zueinander und unsere Blicke trafen sich.
Es fühlte sich in diesem Moment tausendmal intimer an, sie einfach nur anzusehen und neben ihr zu liegen, als sie zu küssen oder vielleicht noch andere Dinge mit ihr anzustellen.

Ella schluckte.
Oh man, manchmal wäre ich ohne die Gedankenverbindung auch echt besser dran. Wobei, dann hätte ich Ella womöglich nie kennengelernt, also war ich doch froh, das alles genau so gekommen war.

Ella lächelte wieder.
„Nick, wie geht es dir eigentlich? Deiner Familie? Wo ist dein Vater? Möchtest du darüber reden? Weil ich... möchte eigentlich dass wir reden. Reden gehört zu einer Beziehung dazu und ich hab das Gefühl ich weiß so wenig über dich."

Weiter kam sie gar nicht, denn ich erdrückte sie mit meinen Worten so unerwartet, wie eine plötzliche Quelle mitten in der Wüste.

„Es fing alles an, als ich noch klein war. Sehr klein. Ich war gerade erst geboren worden.

Mein Dad hat sich noch nie groß um mich gekümmert. Er war schon bei meiner Geburt ein Jahr arbeitslos gewesen und hat auch als ich da war keinen Job gehabt.
Meine Mum musste alles auf ihren Schultern tragen. Sie musste schauen, wie sie das Geld zusammen bekommt.
Sie hat eine Zeit lang in einer Bibliothek gearbeitet. Aber meine Eltern sind ausgewandert. Aus Italien. Natürlich nur weil mein Dad das wollte. Meiner Mum war das viel zu riskant.
Jedenfalls wurde sie rausgeschmissen, weil sie nur gebrochenes Englisch konnte.
Dann hat sie in Hotels und Restaurants geputzt. Währenddessen musste sie sich komplett alleine um mich und dem Haushalt kümmern. Irgendwann war Dad nur noch zum Schlafen bei uns. Ich bekam gar nichts mehr von ihm mit.
Meine Mum hat dann auch noch ihren Putzjob verloren. Sie hatten bessere Putzkräfte als sie, da sie ja nie ausgebildet worden war."

Ich holte tief Luft. Ella sah mich mit einem halb besorgten, halb traurigen Blick an, aber hörte mir stumm zu.

„Dann, eines Tages ist mein Dad... abgehauen. Er ist einfach gegangen. Ich weiß noch, dass ich krank war in dieser Zeit. Ich lag auf dem Sofa und sah mit verschwommenem Blick, wie er hastig seine Sachen zusammenpackte. Viel war das ja nicht. Meine Mum war nicht da, einkaufen. Und weil er wusste, dass ich ihn nicht aufhalten konnte, hat dieses dreckige Schwein die Zeit genutzt, um sich heimlich aus dem Staub zu machen. Einen Großteil von Mums Geld hat er auch noch mitgenommen.

Als meine Mutter nachhause kam, und sah, dass seine Sachen weg waren, war sie völlig am Boden zerstört. Sie brach weinend im Wohnzimmer vor meinen Augen zusammen. Später hat sie sich dafür entschuldigt, dass ich mit meinem Alter damals, solche Bilder hatte sehen müssen. Wir mussten direkt umziehen.
Meine Mutter hatte erstens nicht mehr genug Geld wegen seinem Diebstahl, und wollte auch nicht mehr an ihn erinnert werden.

Ich musste meine ersten Freunde, die ich im Kindergarten kennengelernt hatte, hinter mir lassen und wir sind nach Red Deer, einen etwas kleineren Ort, gezogen. Dort hatten wir nur eine Wohnung und Mum brauchte Zeit, um aus dieser Krise rauszukommen. Auch dort hat sie die verschiedensten Berufe probiert, aber nichts hat so richtig gepasst. In Italien hatte sie sogar studiert, aber die Berufe, die sie damit hätte ausführen können, hatten alle viel zu lange Arbeitszeiten dafür, dass Mum einen dreijährigen Sohn hatte. Also hat sie sich durchgekämpft, und wir konnten ziemlich lange dort wohnen bleiben. Aber irgendwann, eben nach siebzehn Jahren, meinte sie, wir müssten noch ein bisschen sparen für mein Studium und da ich eh nicht mehr lange bei ihr wohnen würde, reiche ihr auch einen kleinere Wohnung hier. In der Nähe wohnt auch ihre Mutter, die nachdem Dad abgehauen ist auch nach Kanada kam. Mum besucht sie oft, um nicht so allein zu sein."

Ich sah zu Ella, der eine einzelne Träne die Wange herunterrollte, die sie schnell wegwischte. Aber es kam noch eine zweite, und noch eine und noch eine und Ella setzte sich schniefend auf und sah zu mir.

„Oh Gott, das tut mir so leid. Ich... ich wusste gar nicht, dass ihr es so schwer hattet."

„Naja, meine Mutter. Sie hatte es schwer."

Ella nickte bloß.

Ich setzte mich auch auf, und legte meine Arme um sie. Sie drückte sich noch etwas näher an mich, was mir ein kleines Lächeln entlockte. Klar, ich könnte auch traurig sein, aber ich hatte mit der Situation abgeschlossen. Wenn ich mich ein Leben lang über meinen Vater aufregen würde, hätte ich keinen Spaß mehr am Leben, also versuchte ich es ein bisschen aus meinem Leben zu verdrängen.

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