Kapitel 5 - Die ganze Wahrheit

1K 539 12
                                    

         15 Jahre zuvor ... 

        Die einundzwanzigjährige Megan Firbeck führte ein Leben auf der Überholspur. Trotz ihrer Jugend war sie bereits Chefstewardess eines großen Passagierflugzeuges. Sie flog die Strecke London – Port-au-Prince/Haiti – London nonstop, ohne müde zu werden. Die wenigen Stunden Aufenthalt am internationalen Flughafen von Port-au-Prince, während der Flieger gereinigt, betankt und beladen wurde, genügten ihr vollkommen zur Erholung. Nach drei oder vier aufeinanderfolgenden Langstreckenflügen hatte sie in der Regel einige Tage Freizeit, die sie in vollen Zügen auskostete. 

        Megan liebte ihr kleines luxuriöses Appartement hoch über den Dächern von London, sie liebte ihren silberfarbenen Alpha Romeo Spider, den sie im Sommer ohne Verdeck fuhr, und sie liebte teures, anspruchsvolles Essen, Theaterpremieren, Partys und ausgedehnte Shoppingtouren mit ihren Freundinnen, die sie sehr beneideten. Sie taten das insgeheim, doch Megan wusste und genoss es. 

        Nahezu abgöttisch aber liebte sie ihren zehn Jahre älteren Bruder Michael. Nach dem frühen Tod der Eltern war er für sie Vater und Bruder zugleich gewesen. Die beiden Firbecks waren die letzten Mitglieder einer ehemals großen Familie, und sie hingen sehr aneinander. Als Michael nach zweijähriger Verlobungszeit seine Freundin Gillian heiratete – ein zartes, beinahe durchsichtiges und ziemlich langweiliges Geschöpf –, war Megan eine Zeit lang sehr eifersüchtig gewesen. Aber sie hatte eingesehen, dass Michael seine Frau von Herzen liebte, und so wünschte sie den beiden aufrichtig alles Glück der Welt. Langweilig war Gillian aber trotzdem, fand Megan. Richtig hausbacken! 

        Der Tag, der Megans Leben veränderte, begann mit einem Anruf mitten in der Nacht. Ihre haitianische Kollegin Naomi Devereaux, Bodenstewardess am Flughafen von Port-au-Prince, meldete sich am anderen Ende der Leitung. Megan erkannte sofort, dass etwas nicht stimmte. Naomis Stimme klang gehetzt, aber überraschend nah und klar: „Kommt nicht! Bleibt wo ihr seid!" 

        „Was ist denn passiert?" 

        „Ein Militärputsch, heute Nachmittag. Auf den Straßen wird geschossen, wir haben einen Bürgerkrieg. Es ist zu gefährlich für euch. Der Airport ist einigermaßen sicher, aber ihr könnt nicht ins Kinderheim. Nicht jetzt." 

        Megan krampfte sich der Magen zusammen. „Naomi, ich muss fliegen. Mike und Gillian sind schon seit drei Tagen in Haiti, wegen dem ganzen Behördenkram –" Die Leitung knackte. „Naomi?" Die Leitung war tot. Es war nichts Ungewöhnliches, ein Telefonat nach Haiti bestand hauptsächlich aus Störungen. 

        An Schlaf war nun nicht mehr zu denken; aber in zwei Stunden hätte Megan ohnehin aufstehen müssen. Sie begann, ihren kleinen Bordkoffer zu packen und dachte besorgt an Michael und Gillian. Die beiden waren in ihrer Adoptionssache in Haiti. Als sie vor einem Jahr Gewissheit darüber erhalten hatten, dass ihr junges Glück niemals durch eigene Kinder gekrönt werden würde, entschlossen sie sich zur Adoption. Und Gillian wollte unbedingt ein Kind aus armen Verhältnissen aufnehmen. Sie empfand es als egoistisch, sich nur um ihr eigenes Familienglück zu kümmern; sie wollte gleichzeitig etwas Gutes tun. Die langweilige, gutherzige Gillian. Megan verwünschte in Gedanken ihre Schwägerin. Warum musste Gillian unbedingt so ein Engel sein? Jetzt war Michael ihretwegen in Gefahr. 

        Und warum musste das ausgerechnet jetzt passieren? Unwillkürlich schüttelte Megan den Kopf, ganz so, als wolle sie ihre angsterfüllten Gedanken abschütteln. Es war doch – bis jetzt – alles nach Plan gelaufen. Naomi hatte die Kontakte mit den haitianischen Behörden hergestellt und Megan eine Liste der Waisenhäuser in Port-au-Prince gefaxt. Michael und Gillian waren in den vergangenen fünf Monaten mehrmals nach Haiti geflogen, um die Heime aufzusuchen. Schnell war den beiden klar geworden, dass die kleine Zoé, die schon als Baby ihre Eltern verloren hatte, ihre Tochter werden sollte. Das Kind war sechzehn Monate alt, als Michael und Gillian es zum ersten Mal sahen. Ein hübsches Kind mit dunklen Augen und einer olivbraunen Hautfarbe; eine kleine Mulattin, wie ihnen gesagt wurde. 

LOA - Die weiße Mambo [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt