Kapitel 9

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Als ich die Haustür zum Haus meiner Großmutter öffnete, hörte ich Stimmen, die mich an den Tag zurückerinnerten, an dem sich mein Leben schlagartig geändert hatte. Mir schossen augenblicklich Fragen durch den Kopf, die mich vor wenigen Stunden noch gar nicht beschäftigt hatten. Warum waren sie hier? Wollten sie mich zurück nach Hause holen? War ich bereit, mit ihnen zu sprechen?

In meinem Hals bildete sich ein Kloß. Eilig lief ich in den Flur, um meine Jacke aufzuhängen. Würden sie mich jetzt nicht bemerken, würde ich einfach unauffällig im Gästezimmer verschwinden, mich umziehen und zu Chloe gehen. Zum Glück wohnte sie nicht allzu weit weg, ansonsten würde ich noch auf den Bus warten müssen.

„Avery?", rief Nana. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter, um mein Schweigen zu brechen. Doch ich stand bloß im Flur herum, als wäre ich eine versteinerte Statue. Mit meiner Jacke in der Hand stand ich hier, redete nicht, schwieg einfach. Die Situation war absolut seltsam und ich bekam kein Wort heraus. Mir war das unendlich peinlich, als Nana den Flur betrat. Ihr mitleidiger Blick sagte alles.

„Ann? Ist sie das?", hörte ich die aufgelöste Stimme meiner Mum. Sie hatte geweint. Ich kam mir so schuldig vor. Es war, als wäre ich wieder das kleine sechsjährige Mädchen, das die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum bereits vor der Bescherung heimlich geöffnet und hinein gelinst hatte.

„Nein, meine Jacke ist bloß vom Bügel gefallen!" Nana nahm mir die Jacke ab, hängte sie an die Garderobe und verschwand wieder im Wohnzimmer.

Ich betrat das Gästezimmer. Die Tür lehnte ich nur an, um keine weiteren Geräusche zu erzeugen.

Auf dem Doppelbett vor mir stand eine Reisetasche. Ich öffnete den Reißverschluss vorsichtig. Zum Vorschein kamKleidung, ein Fotobuch mit Familienfotos und ein Brief. Ich wollte nicht wissen, was sich in dem weißen Umschlag verbarg. Es machte mir Angst. Hastig nahm ich die Kleidung und stopfte meine Sachen in das oberste Fach des Schranks. Anschließend wandte ich mich wieder der Tasche zu, in der mich der Brief anstarrte, als wäre er ein hungriges Monster, das mich fressen wollte. Ich schluckte schwer, verschloss die Reisetasche wieder und schob sie mitsamt des Briefs unter das Bett.

Mit einem tiefen Seufzen setzte ich mich auf mein Bett. Den Kopf vergrub ich in der Bettdecke, die angenehm kühl war. Ich konnte kaum noch klar denken.

Mich verwirrten meine eigenen Gedanken und Gefühle, aber auch die der anderen. Meine Mum weinte bestimmt wegen mir. Vermutlich, weil ich mir Zeit für mich genommen hatte. Ich hatte sie dadurch enttäuscht, das verstand ich.

Eine Tür quietschte. Erschrocken sprang ich auf. Ich wollte mich in der hintersten Ecke meines Zimmers verkriechen. Ich wollte nicht mit ihnen reden. Es war viel zu früh, um zu verzeihen. Mein Herzschlag beschleunigte sich abrupt, als ich Schritte hörte, die direkt auf meine Tür zusteuerten. Danach nahm ich die Stimmen meiner Eltern im Flur wahr und dann noch das Schließen der Haustür.

„Geht es dir gut?" Nana öffnete die Zimmertür. Ich schüttelte meinen Kopf, obwohl ich eigentlich nicken wollte.

„Es ist ein wunderschöner Samstag", murmelte meine Nana und setzte sich auf mein Bett. Ich starb fast an einem Herzinfarkt, als ich sah, wie das Lattenrost des Bettes sich bewegte. Gleich würde Nana auf der Tasche sitzen. Ob sie verstehen würde, weshalb ich die Reisetasche und die liebevoll von meinen Eltern zusammengesuchten Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit unter das Bett verbannt hatte?

„An so einem schönen Tag sollte man nicht traurig sein." Nana klopfte neben sich aufs Bett. Ich zögerte.

„Eigentlich setze ich mich nicht gerne mit meiner Jeans, die ich auch in der Schule und draußen trage, aufs Bett", brachte ich unter Herzrasen hervor und die Tatsache, dass ich gerade noch selbst auf meinem Bett gesessen hatte, strafte mich lügen.

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