Kapitel 72.3

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Kapitel 72.3

„Ich glaube, sie befinden sich auf dieser Ebene.", sagte Liam. Er spähte nach rechts und links. Doch noch waren nirgendwo Wachen zu sehen.

„Dann wissen wir, wo wir suchen müssen.", bemerkte Kieran und lief entschlossen voran.

Leise und unbemerkt schlichen wir durch die Gänge. Die Stimmen kamen immer näher. Und mit ihnen auch die Schritte. Als uns dann eine Wache zu nahe kam, presste Kieran sich an die Wand wurde wurde beinahe zeitgleich eins mit ihr. Für Liam und mich sah es mit dem Verstecken weniger leicht aus.

„Scheiße!", stieß Liam leise aus und sah sich hektisch nach einem geeigneten Ort um, um unbemerkt zu bleiben. Unser Problem jedoch war, dass der Gang vollkommen leer war. Es gab keine Schränke, in die wir hätten klettern können und es waren auch keine Türen in Reichweite. Seufzend stieß Kieran sich von der Wand ab und nahm wieder seine ursprünglichen Farben an. „Was soll's.", murmelte er mehr zu sich, als zu uns. Er ließ seine Fäuste knacken und wir entschieden uns dazu, der Wache entgegen zu laufen. So würde sie keine Zeit haben, um zu registrieren, dass sich hier Eindringlinge befanden. Und vielleicht waren wir schnell genug, um zu verhindern, dass die Wache nach Verstärkung rufen konnte.

„Töten oder nur bewusstlos machen?", fragte Kieran beiläufig. Doch es war bereits zu spät, um das zu diskutieren. Die Wache trat um die Ecke und erblickte uns. Sofort riss der Mann eine Pistole aus dem Holster und richtete die Mündung auf uns. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen oder zu rufen, doch Kieran war schneller. So schnell, dass ich nicht einmal mitbekommen hatte, dass er sich bewegt hatte. Er stand bereits hinter dem Mann, hielt ihn mit einem Arm im Schwitzkasten und presste ihm seine freie Hand auf den Mund. Auffordernd sah Kieran Liam und mich an. „Also noch mal. Soll ich ihn töten oder nur bewusstlos schlagen?", fragte er ruhig. Der Mann riss entsetzt seine Augen auf. Er gab panische Laute von dich, die jedoch von Kierans Hand gedämpft wurden.

Generell war ich ja gegen das Töten. Es machte uns nicht besser als alle, die uns jagten oder Ambrosia selbst. Doch ich sollte nicht den Moralapostel spielen. Dazu hatte ich nicht das Recht. Schließlich hatte ich schon mehrere meiner Feinde umgebracht. Also zuckte ich mit meinen Achseln. Diese Entscheidung würde ich nicht fällen.

Auch Liam schien nicht auf Kierans Frage antworten zu wollen. Das bemerkte auch Kieran. Wortlos glitt er mit seinem Zeigefinger über die Kehle des Wächters. Blut sprudelte heraus und Kieran ließ den Mann los. Gurgelnd versuchte er nach Hilfe zu rufen, doch er war viel zu leide. Und dann lag er auch schon tot am Boden.

Mit einem leicht schlechten Gefühl im Magen ging ich an dem toten Mann vorbei und bog in den nächsten Gang ab. Hätte ich es verhindern sollen? War es das Richtige gewesen? Hatte der Wächter das überhaupt verdient? Ich schüttelte mein schlechtes Gewissen ab. Zumindest für den Moment. Ich war nicht hier, um über Richtig und Falsch nachzudenken. Geschweige denn, um über Leben und Tod zu entscheiden. Kieran war der Vollstrecker. Und wären Liam und ich nicht hier, hätte er den Mann sofort und ohne zu zögern getötet.

„Da!", sagte Liam und zeigte auf die gegenüberliegende Wand. Dort war ein Fenster eingelassen, das es uns ermöglichte, in den Raum dahinter zu sehen. Das musste wohl der Besuchsraum sein. In der Mitte stand ein gewöhnlicher Holztisch, um den einige Plastikstühle standen. Ich konnte Audra sehen, die auf der einen Seite saß und ihre Besucher skeptisch musterte. James und Lucius saßen ihr gegenüber. Anscheinend hatte mein Bruder James das Reden und Schauspielern überlassen. Vermutlich war das sogar die beste Entscheidung gewesen, denn mit ihnen befanden sich noch zwei schwer bewaffnete Wachen im Raum.

James grinste breit und ich musste mir ein Lachen verkneifen, als ich hörte, was er sagte. „Wir haben dich total lange gesucht, Tante Audra!", sagte er freudestrahlend. „Nachdem wir hörten, dass euer Haus abgebrannt war, haben wir uns sofort auf den Weg gemacht, um nach euch zu schauen!" James machte ein ganz betroffenes Gesicht. „Und als wir dann ankamen ..." Er verstummte und senkte betont traurig seinen Blick.

„Es war schrecklich.", pflichtete Lucius ihm bei. Mir entging nicht, wie Audra ihn die ganze Zeit musterte. Misstrauen war in ihrem Blick zu sehen. Ob sie ihn erkannte? Ich konnte nur hoffen, dass sie weiter mitspielen würde.

James stieß ein lautes Seufzen aus. „Jedenfalls haben wir dich jetzt endlich gefunden. Was meinst du, wie fassungslos wir waren, als wir gehört haben, dass du im Gefängnis sitzt!" Empört warf er seine Arme in die Luft und sah die Wachen böse an, die nur genervt mit ihren Augen rollten. Scheinbar ging ihnen James schon seit der Sicherheitskontrolle auf die Nerven. Wäre James kein Jäger geworden, hätte er wohl Schauspieler werden können, nachdem er mit der Schule fertig wäre.

Auf einmal stand James auf, lief um den Tisch herum und umarmte Audra. Diese versteifte sich merklich. Doch James flüsterte ihr ganz leise, sodass nur sie es hören konnte, etwas ins Ohr. Sofort entspannte sie sich und erwiderte James' Umarmung sogar. Ein breites Lächeln war auf ihren Lippen zu sehen, als James sie losließ.

„Ich bin wirklich sehr froh, dass ihr mich besuchen kommt!", sagte Audra fröhlich. Nun trat ihr Schauspieltalent an die Oberfläche, das sie sonst nur nutzte, wenn sie auf einer langweiligen Modenschau oder in den Nachrichten auftrat. „Bitte sagt eurer Mutter, dass es mir gut geht und sie sich keine Sorgen um mich machen muss.", sagte Audra. James und Lucius nickten beide mit einem aufgesetzten Lächeln.

„Das machen wir.", sagte Lucius. „Ich denke, sie wird dann in den nächsten Tagen vorbeikommen." Audra nickte glücklich. Alle drei standen auf und umarmten sich einmal kurz.

„Ich hoffe, ihr besucht mich bald wieder!", sagte Audra und die beiden nickten.

„Natürlich.", meinte Lucius mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen. Er und James wurden von den Wachen zur Tür begleitet. Der eine Mann zog einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss damit die Tür auf. Kaum hatte er das getan, schnellte Lucius vor und riss ihn aus dem Schloss, damit keiner der Wachen die Tür wieder verschließen konnte.

„Hey!", rief der Mann. „Was soll das?" Seine Hand legte sich auf seine Pistole. „Gib mir den Schlüssel.", befahl er. Doch Lucius dachte gar nicht erst daran. Stattdessen verpasste er dem Mann einen kräftigen Kinnhaken. Die Wache taumelte einige Schritte zurück. Die zweite Wache hielt nun ihre Pistole in der Hand. Aber James war schneller. Er entwaffnete den Mann in Sekundenschnelle und stieß ihn zurück. „Jetzt.", sagte Lucius und Audra rannte an ihnen vorbei aus der Tür. James und Lucius folgten. Lucius schloss hinter sich die Tür und drehte den geklauten Schlüssel im Schloss herum. Das Gepolter der Wachen war durch den ganzen Flur zu hören. Ebenso ihre wütenden Schreie. Bald würden sie Verstärkung bekommen. Wir mussten schnell sein, wenn wir noch vor dem Alarm hier raus sein wollten.

Ich nickte Liam und Kieran knapp zu. Los.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt