Kapitel 58 - Lucius

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Kapitel 58 - Lucius

„Wer will als erstes Ravioli? Drei Leute können schon etwas haben.", brach Jo die bedrückende Stille. Mikéle reichte ihr drei Plastikschalen und Löffel. „Gib Lucius, James und Brenda etwas.", sagte Levi. „Die sehen ziemlich fertig aus." Jo nickte und füllte die Schalen, die sie dann an uns weiter reichte. Dankend nahm ich die warme Schale an mich und nahm einen Bissen. Jo öffnete die nächste Dose Ravioli und kippte den Inhalt in den Campingkocher. Mikéle zog drei weitere Plastikschüsseln aus dem Rucksack. „Als nächstes bekommen die Mutationen etwas.", sagte er. „Freyas Magen höre ich bis hier hin knurren." Ich sah zu 93 und sah, wie sie leicht rot wurde. Sie hatte wohl nicht gedacht, dass es jemand gehört hatte.

Jo starrte während sie die Ravioli umrührte das Reagenzglas an. „Habt ihr eigentlich noch etwas gefunden?", wollte sie wissen. Brenda verschluckte sich an ihrem Essen und James schlug ihr fest auf den Rücken. Sie hustete erschrocken. „Eine Leichenhalle.", murmelte ich. „Wir haben eine Leichenhalle gefunden." Sofort lagen alle Blicke auf mir und Jo hörte für einen Moment auf zu rühren. „Eine Leichenhalle?", harkte sie nach.

„Man, Jo, lass sie doch erst einmal essen!", tadelte Mikéle seine Schwester.

„Ist schon gut.", sagte James und legte seinen Löffel in seine Schale. „Es war eine große Halle voll von diesen Röhren. Und in jeder davon lag eine tote Mutation."

„Kinder.", ergänzte Brenda. „Es waren Kinder." Bedrückt sah sie zu Boden. Kurz breitete sich Stille zwischen uns aus. Allein das Zischen und Brodeln der Ravioli im Campingkocher waren zu hören. „Und?", wechselte ich das Thema. „Habt ihr etwas gefunden?" Mikéle nickte aufgeregt. „Das war eine Art Archiv. Schränke und Schubladen voller Akten und Videos von den Überwachungskameras. Die Akten sind nach dem Alphabet geordnet und die Videos ebenfalls. Es scheint, als hätten die von Ambrosia ziemlich viel Freizeit gehabt, denn jede einzelne Mutation hat eine eigene zusammengeschnittene Aufnahme." Er warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu. Mir wich schlagartig die Farbe aus dem Gesicht. Hatte er etwas gefunden? Etwas zu Freya? Jo bemerkte meinen Blick und nickte kaum merklich. Scheiße. Sie hatten wirklich etwas gefunden. Mein Herz klopfte wie wild. Ich würde es mir ansehen. Egal, wie schmerzhaft es für mich sein würde. Auch, wenn ich Freya auf einem der Videos vielleicht sterben sah. Ich musste es einfach wissen. Heute Nacht. Wenn niemand etwas bemerkte. Vor allem 93 durfte nicht erfahren was ich vorhatte.

Den Rest des Tages über war ich ziemlich nervös und aufgeregt. Ich konnte nicht still sitzen, was dazu führte, dass dieser elendige Mutant Kieran, einen Kommentar über mich abließ. Der Typ war wirklich nervig hoch zehn. Natürlich blieb auch den anderen mein Verhalten nicht verborgen. Vor allem nicht 93, was mir so überhaupt nicht gefiel. Wieso war ausgerechnet sie es, die mich anscheinend am besten analysierte?

Als es endlich Nacht wurde, schliefen alle. Und zu allen Übels wurde es in der Halle noch finsterer, als es ohnehin schon war. Leise fluchend suchte ich nach meiner Taschenlampe und hoffte, dass ich niemanden aufweckte. Als ich sie gefunden hatte, knipste ich sie an und mein Lichtstrahl erfasste ausgerechnet die Mutanten. Ich hätte mich selbst ohrfeigen können. Wenn die jetzt aufwachten ... Hektisch leuchtete ich woanders hin. Leise schlich ich auf James zu und rüttelte an seiner Schulter. „James. Hey, James.", flüsterte ich. „Wach auf." Murrend drehte sich James auf die andere Seite. Ich verdrehte genervt meine Augen. Ich hatte keine Zeit für so etwas! Dennoch gab ich nicht auf und rüttelte ihn an seiner Schulter. „James!" Nun öffnete er endlich seine Augen. „Was willst du, Lucius? Es ist mitten in der Nacht!", beschwerte er sich schlecht gelaunt, doch ich legte meinen Zeigefinger an meine Lippen. „Pscht! Sei leise!" James nickte genervt. „Ja, ja." Leise stand er auf und ging auf Mikéle und Jo zu. Still weckte er die beiden. Levi und Brenda ließ er schlafen. Immerhin musste noch jemand auf die drei Mutanten aufpassen. Jo und Mikéle gingen voran. Leise schlichen wir zu der Tür, hinter der sich laut den beiden das Archiv befand. Möglichst leise öffnete Jo die Tür, die ein leises Quietschen von sich gab. Wir traten ein und James schloss hinter uns die Tür. Nun zückten auch die anderen ihre Taschenlampen. „Okay, dann zeigt mal, was ihr gefunden habt!", sagte ich. Ich leuchtete den Raum ab. Er war nicht der größte Raum in diesem Gebäude aber auch nicht der Kleinste. Regalreihen und Schrankreihen standen hintereinander und bildeten Gänge. „Was willst du zuerst sehen? Die Akte oder die Videos der Überwachungskameras?", fragte mich Mikéle.

„Die Akten befinden sich in den ersten Regalen und Schränken, die Videos in den hinteren.", informierte mich Jo. Abwartend sah sie mich an.

„Die Akte.", beschloss ich. „Zuerst möchte ich die Akte sehen." Jo nickte. Sie und Mikéle liefen zielstrebig auf einen der metallenen Schränke zu. Ich folgte ihnen. James lief neben mir her. Er wirkte ein wenig angespannt. Er wollte wohl genauso wie ich Gewissheit haben. Jo zog eine der Schubladen mit der Aufschrift „W" heraus, die dabei schrecklich quietschte. James zuckte bei diesem Geräusch erschrocken zusammen. Normalerweise hätte ich ihn deswegen jetzt ausgelacht, doch mir war nicht nach Lachen zu Mute. Ich war viel zu angespannt. Jo suchte die richtige Akte heraus und überreichte sie mir. An ihrem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass sie selbst auch noch nicht in die Akte geschaut hatte, was ich ihr hoch anrechnete. Mit klopfendem Herzen nahm ich die Akte entgegen. Sie fühlte sich rau an in meiner Hand. Es war eine Papphülle, die mit Blättern gefüllt war. Mein Herzschlag begann zu rasen, als ich den mit Kugelschreiber geschriebenen Namen vorne auf der Akte las. Freya Winter. Sie war hier gewesen. Sie war tatsächlich hier gewesen. „Nun mach schon.", sagte Jo mit sanfter Stimme. „Öffne sie." Ich schluckte und blinzelte aufkommende Tränen fort. Meine Schwester war wirklich hier gewesen. Hier in dieser Horroranstalt. Und ihr war vielleicht sonst was angetan worden. Ich atmete noch einmal tief ein, ehe ich die Akte aufschlug und das Bild einer achtjährigen Freya sprang mir ins Auge. Auf dem Bild befand sie sich gerade in der Schule. Ich glaube, es war die Pause. Jemand hatte sie beobachtet. Jemand hatte sie verdammt noch mal beobachtet! Schweigend sahen James, Jo und Mikéle auf das Bild. Jeder von uns wusste, was es zu bedeuten hatte. „Freya Winter.", las James neben mir das vor, was unter dem Bild stand. „Geboren 13. Dezember 2040." Ich starrte auf Freyas und mein Geburtsdatum, dann wieder auf ihr Bild. Sie lächelte und ich konnte erkennen, dass eine weitere Person von dem Foto weggeschnitten worden war. Ich erkannten schwarze, kurze Haare. Als dieses Foto aufgenommen worden ist, muss ich neben ihr gestanden haben. Weshalb habe ich das nicht bemerkt? Dass sie fotografiert worden war? Wortlos blätterte ich eine Seite weiter.

Es war eine Art Steckbrief.

Name: Freya Winter

Geburtstag: 13.12.2040

Haarfarbe: Schwarz

Augenfarbe: Grün

Geschwister: Lucius Winter

Mutanten Nummer: 93

Ich ließ die Akte sinken. 93. Der dreiundneunzigste Mutant. FW93. Ich dachte an das bleiche Mädchen, das in der großen Halle schlief. Mein Blick richtete sich wieder auf das Papier.

Entdeckt von: Dorothea Dolores Magpie

Scheiße! Das war doch der Name von unserer ehemaligen Klassenlehrerin! Miss Magpie war seit Freyas Verschwinden nicht mehr in der Schule aufgetaucht. Man sagte, sie habe gekündigt, weil es familiäre Probleme gegeben hätte. Nun wusste ich, dass es nicht so gewesen war. Freya hatte von Anfang an gewusst, dass mit Miss Magpie etwas nicht gestimmt hatte. Doch ich hatte das nicht allzu ernst genommen. Wie dumm ich doch gewesen war!

Entführt: 15. Januar 2048

Ich musste schlucken. Der 15. Januar 2048 war der schlimmste Tag in meinem Leben gewesen. Der Tag, an dem Freya nicht mehr nach Hause kam. Das war jetzt schon über 9, nein, über 10 Jahre her.

Röhrenerkennung: FW93

Erste Spritze: 17. Januar 2048, SD1

Was zur Hölle bedeutete SD1? War das etwa die Flüssigkeit aus einem der Reagenzgläser? Ihr war also etwas von diesem Zeug gespritzt worden ... Das nächste, was ich las, ließ mich stocken. Wie bitte?! Nein!

Todestag: 17. Januar 2048, Herzstillstand

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt