Kapitel 57 - Lucius

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Kapitel 57 - Lucius

Wir machten uns auf den Rückweg. Anhand der Löcher in der Decke konnte ich sehen, dass es bereits Mittag war. Wenn Jo und Mikéle schon zurück waren, würden wir gleich etwas essen.

Der Weg zurück zog sich in die Länge. Und erst jetzt bemerkten wir, wie viel wir überhaupt gelaufen waren, da wir durch die Gänge geirrt sind. Zurück war das alles allerdings noch ein bisschen schwieriger. Weder James, noch Brenda oder ich hatten auf unseren Weg geachtet und uns nun verlaufen. Jeder Gang sah aus wie der andere. Es gab keine Unterschiede. „Vielleicht sind wir durch diese Tür gegangen?", fragte Brenda und steuerte auf eine weiße Tür zu. Da keiner von uns es wusste, mussten wir nachsehen. Als diese Tür schon zu leicht aufging, wusste ich, dass es die Falsche war. Hinter der Tür kam ein großer Raum zum Vorschein, der von einer stabilen, dicken Glaswand zweigeteilt wurde. Auch hier waren überall Kameras und vor der Scheibe standen mehrere Geräte. Auf der anderen Seite der Glaswand war der Raum leer. „Das sieht aus wie ein Testraum.", meinte Brenda und schüttelte sich. „Hier wurden die neuen Mutationen bestimmt getestet." Auf einem Tisch entdeckte ich ein Klemmbrett. Zielstrebig lief ich darauf zu und nahm es an mich. Das Papier war schon ziemlich verdreckt und an den Seiten zerfetzt. Die Schrift war ein wenig ausgeblichen, dennoch konnte ich sie lesen. „AS897", las ich laut vor. „Defekt. IO911. Defekt. JP946. Defekt." Es folgte eine ellenlange Liste. Und hinter jeder Buchstaben- und Zahlenkombination stand ein „defekt". Aber was passierte mit den defekten Mutationen? Und was verstanden die Wissenschaftler unter „defekt"? Ich wusste, dass ich einfach 93, Liam oder Kieran hätte Fragen können. Die wussten das bestimmt. Doch ich würde es nicht tun. Nein, ich würde auch ohne sie auf die Antwort kommen.

James nahm mir das Klemmbrett aus der Hand und las es nun selber. Nachdenklich runzelte er seine Stirn. „Defekt.", murmelte er. „Was heißt bei Mutationen defekt?"

„Hey!", rief Brenda. „Da ist noch eine Tür!" Sie deutete aufgeregt auf eine Tür rechts von uns. Auf der Tür war ein Schild zusehen mir verblichenen Buchstaben. „Defekt", stand darauf. Wir tauschten skeptische Blicke. „Sollen wir wirklich ...?", fragte Brenda vorsichtig. „Es kann uns nichts passieren, Bren.", sagte James, der allerdings auch recht unsicher wirkte. Schließlich war ich es, der die Tür öffnete. Vor uns erstreckte sich eine große Halle. Nur wenig Licht fiel hier herein, da das Dach hier noch ganz war und das Licht nicht funktionierte. „Hast du eine Taschenlampe?", frage ich James, der mir sofort eine in die Hand drückte und eine zweite hervor zog. Brenda hatte ihre eigene bereits eingeschaltet. James wich einen Schritt zurück. „Ach du- ..."

„- ... Scheiße!", beendete ich James' Satz. Der Raum war voller Röhren, in denen Mutationen lagen. „Was ist das hier?", fragte Brenda und schritt vorsichtig auf eine der Röhren zu. Wir folgten ihr zur nächst besten Röhre. „Das ist ein Kind.", stellte James fest. Ein merkwürdig aussehendes Kind. Eine Mutation. „Ein totes Kind.", bemerkte ich tonlos. Brenda zuckte zusammen. Wir alle starrten auf die Leiche. Das Kind hatte dunkel graues Haar und an seinem Hals konnte ich Kiemen erkennen. Seine Haut war fahl und eingefallen. Die Haut sah ziemlich rau aus und ich konnte eine Reihe spitzer Zähne sehen. Ich wandte meinen Blick ab und sah zu den ganzen anderen Röhren, die mir wie Särge vorkamen. Und in jeder dieser Röhren lag ein totes Kind. „OW1033", las Brenda das Schild an der Röhre vor. „Das stand auf der Liste.", sagte James mit belegter Stimme. So viele Leichen. Die ganze Halle war voll von ihnen. Ich wollte nur noch hier weg. Was hier passiert war, war schrecklich. „Ich glaube, es war Ambrosia.", flüsterte Brenda leise. „Sie testeten ihre Mutationen und wenn sie nicht gut genug waren, gehorchten oder an ihrer Mutation starben, brachten sie sie um." Sie wandte ihren Kopf ab. „Das ist grausam." Ihre Stimme zitterte. James legte beruhigend seine Hand auf Brendas Schulter. „Denk nicht weiter darüber nach.", sagte er leise. „Lasst uns einfach aus dieser Leichenhalle verschwinden."

Wir stürmten beinahe aus der Leichenhalle und zurück zu den anderen. Keuchend kamen wir in der Haupthalle an, wo auch schon Jo und Mikéle waren und Levi, der bei den gefesselten Mutationen saß, deren Kette er an eine der großen Maschinen gebunden hatte. Jo zog überrascht eine Augenbraue hoch. „Was ist denn mit euch los? Ihr seht aus, als hättet ihr einen Geist gesehen." Vor Jo lag ein kleiner Campingkocher und daneben mehrere Dosen Ravioli. Sie hatte wohl schon mit dem Mittagessen angefangen. „Setzt euch erst einmal.", sagte Levi, der uns skeptisch beobachtet. „Ihr seht so aus, als könntet ihr es gebrauchen." Sofort ließen wir uns auf den Boden fallen. In meinem Kopf spielten sich noch einmal die Entdeckungen der vergangenen Stunden ab. Ich spürte den wachsamen Blick von 93 auf mir. Sie beobachtete mir stirnrunzelnd. „Los, erzählt!", forderte Mikéle uns auf. „Habt ihr etwas gefunden?" Wortlos hielt James das Reagenzglas hoch und ich konnte 93, Liam und Kieran entsetzt nach Luft schnappen hören. Sie alle drei starrten auf das Reagenzglas, was den anderen auch nicht verborgen blieb. „Und was ist das?", fragte Jo nicht sehr überzeugt.

„Keine Ahnung.", gab James zu. „Aber für irgendetwas wurde es bestimmt benutzt." Levis Blick richtete sich auf die drei Mutanten. „Ihr wisst es, oder?" Stumm nickten sie, ohne ihren Blick von der Flüssigkeit zu nehmen. Erst dachte ich, keiner von ihnen würde dazu etwas sagen, doch schließlich tat es Kieran. „Das da", sagte er. „ist an unserer Mutation Schuld. Es gibt viele verschiedene von diesen Mischungen. Ich habe keine Ahnung was genau es ist, doch es wurde jedem einzelnen von uns gespritzt." Nun meldete Liam sich zu Wort. „Bei unseren Entführungen hat es schon angefangen. Irgend so eine Betäubungsspritze, die aber schon etwas beinhaltete, das uns langsam ein wenig veränderte." Er deutete auf die Röhren in der Halle. „Dort hielten sie uns gefangen und wenn wir ihrer Meinung nach so weit waren, brachten sie uns in so einen Raum. Der war voll von diesen Reagenzgläsern." Sein Blick verdunkelte sich. „Wir wurden an so einen Stuhl gefesselt und hatten keine Möglichkeit zu fliehen. Da haben sie uns das gespritzt. Es hat uns verändert." Finster starrte er das Reagenzglas in James' Hand an. „Und danach?", harkte James nach. „Was passierte danach?" Wie auch ihm war mir bewusst geworden, wie wenig wir eigentlich über Mutationen wussten. Wir wussten nicht, wie sie entstanden waren und hatten keine Ahnung über irgendetwas. Ziemlich erbärmlich, wenn wir Jäger waren. Liam zog seine Beine an. „Danach schauten die Wissenschaftler erst einmal, ob wir die Mutation überlebten und ob sie gut verlief.", fuhr er fort. „Anschließend brachten sie uns in einen Trainingsraum, wie sie es nannten. Dort wurden wir getestet. Unsere Fähigkeiten, unsere mentale Stärke. Sie testeten einfach alles. Waren die Mutanten zu schwach oder ..." Er warf 93 einen kleinen Seitenblick zu. „ ... zu ungehorsam oder gefährlich, töteten sie sie." 93 blickte nicht auf. Sie starrte einfach auf ihre Füße. Wenn ich Liams Worte richtig verstand und auch seinen Seitenblick auf 93, war 93 etwa ... defekt? Weil sie ungehorsam war? Gefährlich? Aber wieso lebte 93 dann noch? Wieso war sie nicht tot? Und wieso war sie im Keller eingesperrt gewesen, wenn sie doch defekt war? Abwartend sah ich 93 an, doch sie reagierte nicht. Ich hasste diese Unwissenheit. Ich wollte endlich wissen, was mit meiner Schwester passiert war! Doch stattdessen tauchten nur weitere Fragen auf! Verdammt, ich war mir nicht einmal mehr sicher, ob sie überhaupt tot war! Ich musste es unbedingt wissen! Ich musste!

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt