Epilog

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10 Jahre später


In all den Jahren habe ich viel gelernt. Vor allem was das Tanzen angeht. Nach dem Abi habe ich für zwei Jahre eine professionelle Schule besucht und erst dadurch ist mir bewusst geworden, dass ich vorher ziemlich laienhaft getanzt habe. Doch es gibt eine Sache, die ich mir bis jetzt noch nicht abgewöhnen konnte: Mein Lampenfieber. Auch jetzt wummert mein Herz wieder bis zum Hals und meine Hände zittern leicht.

Alex dreht sich zu mir um und lächelt. "Bereit?"

Ich erwidere sein Lächeln. "Ja. Ich freue mich."

"Ich freue mich auch."

Mit diesen Worten greift mein Freund nach meiner Hand und setzt sich in Bewegung. Ohne seine Hand, die meine umschlingt, hätte ich wohl glatt vergessen, auch auf die Bühne zu gehen.

Tösender Applaus empfängt uns. Das Licht ist grell, doch ich verbiete mir, die Augen zuzukneifen und lächele stattdessen ins Publikum.

Als meine Augen sich langsam wieder an das Licht gewöhnt haben, werfe ich einen Blick in die erste Reihe. Sofort bleibt mein Blick an Elisa hängen. Mein ein und alles. Ein sanftes Lächeln umspielt meine Lippen und ich schaue kurz zu Alex, der mit dem Daumen über meinen Handrücken streicht.

Es war nicht geplant, dass ich schon mit 22 Jahren schwanger werde. Doch ich hätte mich niemals gegen das Kind entscheiden können. Zu der Zeit habe ich geglaubt, dass diese Schwangerschaft und das Kind das Ende meiner Tanzkarriere wäre. Doch es war nicht das Ende. Es war nicht wie bei meiner Mum.

Meine Mum hatte sich damals an die strengen Regeln des Staatsballett halten müssen, doch ich habe so Glück, dass sich unsere Gruppe nie aufgelöst hat. Wir sind alle zusammen gewachsen, wir haben uns besser kennen gelernt und wir sind uns alle etwas ähnlicher geworden. So kommt es auch, dass ich mich mittlerweile ganz gut mit Scarlett verstehe, auch wenn sie wohl nie meine beste Freundin werden würde.

Und jetzt stehen wir hier, mitten in London. Das ist etwas, was wir wohl alle nie wirklich zu träumen gewagt haben, doch jetzt ist es soweit. Mit Sicherheit der größte unserer Auftritte als Gruppe. Einzelne Mitglieder, darunter Oliver, haben die Gruppe verlassen, um alleine Karriere zu machen. Oliver ist es gelungen - mittlerweile ist er ein bekanntes Gesicht unter den Tänzern.

Ethan wirft uns einen kurzeen Blick zu und ich zwinkere kurz. Dann wird das Licht gedämmt und im Saal wird es still.

Nicht ohne Grund bin ich viel aufgeregter als bei unseren sonstigen Auftritten. Dieser hier ist zum einen unser erster wirklich großer Auftritt mit zweitausend Zuschauern. Und zum anderen bündelt sich das Licht jetzt auf mich. Ich werde das Solo am Anfang tanzen.

Ich schaue kurz an mir herunter. Es ist alles perfekt. Wenn alles glatt läuft, dann wird dieser Auftritt hier wunderbar. Ich trage ein kurzes Kleid aus fließendem, hellblauen Stoff. Es wirkt einfach, doch wir haben uns allein schon über die Kleidung unendlich viele Gedanken gemacht.

Alex lächelt mir noch einmal ermutigend zu. Du kannst das, will er sagen. Ich schenke ihm Glauben. Und als die Musik dann einsetzt, fangen meine Beine an, sich wie von selbst zu bewegen.

Wir haben so viel geübt. Und das hat den Effekt, dass ich nicht mehr überdie Bewegungen nachdenken muss. Ich tanze einfach. Mein Körper tanzt. Mein Herz tanzt mit ihm.

Ich spüre, wie mein Körper Dopamin ausstreut und dann kommt mein breites, ehrliches Lächeln ganz von allein. Das hier ist ein Moment, den ich nie vergessen werde. Es ist magisch. Die Vorstellung, dass in diesem Moment zweitausend Blicke auf mich gerichtet sind, dass zweitausend Menschen mir beim Tanzen zuschauen, die ist einerseits zwar beängstigend, andererseits macht mich das verdammt stolz und glücklich.

Dann kommt der Moment, vor dem ich mich bei diesem Auftritt am meisten fürchte. Es ist der Übergang vom Solotanz zum Gruppentanz. Die Stelle, an der wir am längsten und am meisten gearbeitet haben. Das ganze sollte fließend sein. Es sollte nicht so sein, dass der Rest der Gruppe auf einmal da ist und ich irgendwie dazu gehöre.

Stattdessen laufe ich jetzt mit schnellen Schritten, die trotzdem noch elegant wirken sollen auf Ethan zu. Ethan sieht nicht entspannt aus, aber auch nicht gestresst. Vielleicht ist er einfach etwas aufgeregt. Der Lichtkegel verfolgt mich und vergrößert sich dann, als ich bei Ethan angelangt bin. Im nächsten Moment kommt es auf alles oder nichts an. An dieser Stelle darf kein einziger Schritt daneben gehen.

Ethan fasst mich an der Hüfte und damit schaffe ich es, meinen rechten Fuß auf seine Schulter zu stellen. Ohne, dass ich noch länger darüber nachdenken kann, wirbele ich durch die Luft. Ethan hat mir den nötigen Schwung gegeben und ich schaffe es, mich von seiner Schulter abzdrücken. Mein Körper dreht sich und ich nehme nicht mehr viel wahr, nur noch Farben, die um mich herum wirbeln. Es ist ein wahnsinnig schneller Salto, ich weiß nicht, woher Ethan die Kraft nommt,mich so  weit in die Luft zu wirbeln.

Jetzt kommt es nicht mehr auf mich an. Stattdessen hängt jetzt alles an Alex. Er ist es, der mich auffangen muss. Doch ich vertraue ihm. Ich vertraue ihm zu hundert Prozent. Ich weiß, dass er mich niemals fallen lassen wird.

Im nächsten Moment spüre ich seine Hände an meiner Hüfte. Warm und sicher. Und ich weiß, dass jetzt alles gut ist und dass jetzt alles gut gehen wird. Ich kann wieder aufatmen.

Ich strecke meinen Körper in der Luft, bevor ich mit etwas Schwung wieder auf dem Boden lande. Und dann tanzen wir einfach. Als Gruppe. Es ist das, was ich liebe. Was ich immer lieben werde.

Tanz mit mirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt