Kapitel 66

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Samstag, 22. April

"Hier muss ein Komma hin", murmele ich während der Revidierung aller Fehler, die ich in unserer Hausarbeit finde. Übermorgen müssen wir sie abgeben. Das heißt im Umkehrschluss, dass das hier der letzte Besuch ist. Erleichterung oder Bedrückung? Ich weiß es nicht. Es hat schon Spaß gemacht, aber natürlich kamen auch immer Streitereien dazwischen – etwas Normales zwischen uns. "Denkst du, es wird eine gute Note?", fragt Can. "Natürlich. Wenn nicht, dann wird diese Frau sehen. Wir haben nicht umsonst sechsundvierzig Seiten geschrieben." Ich schaue in Cans Augen. Er schmunzelt. In letzter Zeit schmunzelt er ziemlich oft. "Bleibst du noch bis zum Essen? Also meine Mutter wollte unbedingt, dass du noch bleibst. Du weißt ja, wie sehr sie dich mag." Can kratzt sich am Nacken. Es ist eine ganz normale Frage, aber sie hat etwas Unerklärliches an sich. So etwas Heimisches, Willkommenes. "Ich-, ja, ich kann bleiben, wenn es keine Umstände macht", murmele ich mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. Ich finde es schön, dass er fragt. "Gut." Can räuspert sich. "Mama?", ruft er. "Ja?", ruft sie zurück. "Shana bleibt noch." Can beginnt süß zu lächeln. Sein Hals ist ausgereckt, sodass ich einen sehr guten Ausblick auf ihn habe.

Die Tür wird aufgerissen, sodass mein Blick zu ihr gleitet. Cans Mutter steht mit einem Kochlöffel und einem Grinsen vor der Tür. Beschämt lächele ich zurück. "Ach, Shana, Du machst mich glücklich!" Ich beiße mir auf die Unterlippe und schaue schüchtern zu Boden. "Sie mich auch", erwidere ich. "Hör auf mich zu siezen!" Sie ist ganz empört darüber. "Soll ich dann Metê sagen?" "Ja", haucht sie glücklich über die Tatsache, dass ich sie Tante nenne. "Okay, arbeitet dann mal schön weiter und ich koche solange etwas Schönes für dich." Ich grinse verlegen. Was für eine liebliche Mutter er doch hat. "Und was ist mit mir?", mischt sich Can ein. "Du kriegst die Reste", sagt die Mutter streng. Ich erwidere seinen mürrischen Blick amüsiert. "Metê, soll ich dir helfen?" Ihre Augenbrauen gehen hoch. "Aber ihr müsst doch noch die Arbeit fertig schreiben. Beziehungsweise du, da mein fauler Sohn nichts macht, außer am Handy zu liegen." Ich schüttle den Kopf. "Nur ein paar Korrekturen, aber die kann der Can übernehmen, stimmt's?" Ich blicke herausfordernd Blick zu ihm. "Auch wenn meine Deutschkenntnisse tausendmal besser sind als deine, wirst du es hinkriegen. Hier." Ich lege ihm den Laptop hin und stelle mich zur.

"Can, was machst du denn die ganze Zeit am Handy?", fragt sie misstrauisch. "Er schreibt mit ganz vielen Mädchen", flüstere ich vielsagend. "Shana", warnt Can mich. "Kera ker! Hier ist ein bildhübsches Mädchen und du schreibst die ganze Zeit mit anderen? Şerem bika!", meckert die Mutter. Ich stimme ihr sowohl in dem Punkt, dass er ein Esel ist als auch, dass er sich schämen soll zu. Alles absolut richtig und wichtig. Ich schenke Can ein triumphierendes Lächeln, ehe ich mit seiner Mutter in die Küche verschwinde. "Wo kann ich helfen?" Die Töpfe dampfen und kochen schon auf den Herdplatten. "Setzt dich", weist sie mich auf einen der schwarzen Küchenstühle hin und füllt mir ein Glas Wasser auf, setzt sich gegenüber mir hin und schaut mich leicht lächelnd an. "Wie geht es dir, meine Liebe?" "Ganz gut und selbst?" "Auch gut." Ich nehme ein Schluck des Wassers. "Läuft da was zwischen dir und meinem Sohn?" Sofort verschlucke ich mich und fange heftig an zu husten. "Nein", flüstere ich schon fast beschämt, nachdem ich mich eingekriegt habe. Oh Gott, das ist so peinlich! Mir ist so heiß! "Magst du ihn?" Mag ich ihn? Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Mit offenem Mund schaue ich sie an, ohne die Antwort wirklich zu wissen.

"Ich weiß nicht so recht", hauche ich beschämt. Ich weiß nicht, ob ich ihn mag oder mögen soll. Er ist ein Widerspruch. Mal ist er nett, zuvorkommend und beschützend und Mal ist er arrogant, kalt und aggressiv. Mir ist bewusst, dass zwischen uns eine Spannung herrscht, aber mehr? Mehr ist da glaube ich nicht. "Ihr wart letzten Freitag zusammen unterwegs, nicht wahr?" "Hat dir das Mamo gesagt?" Wieder lächelt sie. "Das muss ich ihm erzählen. Er wird sich freuen." Sie lächelt sanft. "Ja, wir waren in Köln", gestehe ich immer noch beschämt. "Shana, ich frage dich nicht, weil ich dich verurteile, sondern weil ich dich sehr gerne habe. Es ist einfach nur neu für mich, für uns alle, dass Can ein Mädchen mit nach Hause bringt und sogar mit ihr beim eigenen Vater essen geht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er wegen dir sehr oft aggressiv war, oder? Denn, als ich ihn immer gefragt habe, was los sei, hat er mir nie den Grund genannt. Sonst erzählt mir mein Sohn alles." Ich nicke überrascht. Can bringt sonst nie Mädchen mit nach Hause? Irgendwie verständlich, da man sowas in unserer Kultur nicht haben möchte. "Ich spüre, dass da etwas passieren wird. Das ist der mütterliche Instinkt. Egal, was auch passiert. Ich stehe hinter dir, okay? Denn ich weiß, dass du als Mädchen mit deiner eigenen Mutter darüber nicht reden kannst." Ich bin sichtlich gerührt von ihrer Aussage und nicke dementsprechend auch anerkennend, stehe auf und umarme sie einmal ganz dolle. "Danke", hauche ich ihr zu. Sie fährt mir einmal durch die Haare und erhebt sich dann.

ArroganzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt