✧ 𝘒𝘢𝘱𝘪𝘵𝘦𝘭 𝘏𝘶𝘯𝘥𝘦𝘳𝘵𝘯𝘦𝘶𝘯𝘶𝘯𝘥𝘴𝘪𝘦𝘣𝘻𝘪𝘨 ✧

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POINT OF VIEW
JULIAN BRANDT

Ich saß auf dem kalten Steinpflaster hinter der Kirche, umgeben von halb leeren Flaschen Sekt. Die Flaschen hatte ich mir vom Sektempfang geschnappt, einfach so. Niemand hatte mich aufgehalten. Wahrscheinlich hatte mich keiner bemerkt, als ich aus der Kirche gestürmt war. Oder sie hatten es bemerkt, aber niemand wagte es, etwas zu sagen. Es war mir egal. Alles war mir egal.

Ich setzte die Flasche an und trank einen tiefen Schluck. Der bittere Geschmack des Sekts kratzte in meinem Hals, aber das war mir recht. Es war besser, als das Loch in meiner Brust zu spüren. Ich war nicht mal wütend. Ich war nicht mal traurig. Ich fühlte... nichts. Absolut nichts. Und das war vielleicht das Schlimmste.

Der Alkohol schien mich in Watte zu hüllen, ließ die Realität verschwimmen. Ich starrte auf die Flasche in meiner Hand, während die Welt um mich herum verschwamm. Die Geräusche der Hochzeitsgäste waren nur ein dumpfes Murmeln in der Ferne, als gehörten sie zu einer anderen Welt. Einer Welt, zu der ich nicht mehr gehörte.

Ich nahm noch einen Schluck, dann noch einen. Der Sekt floss wie Wasser, und bald hatte ich die zweite Flasche geöffnet. Mein Kopf begann zu schwirren, und meine Gedanken waren ein einziges Chaos. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was gerade passiert war. Dass Kai Sophia jetzt geheiratet hatte. Dass er sie geküsst hatte, während ich hier draußen saß, betrunken und allein.

Ich lachte bitter, ein lautes, schiefes Lachen, das in der kalten Luft widerhallte. „Gut gemacht, Julian," murmelte ich zu mir selbst. „Du hast es wirklich weit gebracht."

Ich lehnte den Kopf gegen die Wand hinter mir und schloss die Augen. Vielleicht konnte ich alles vergessen, wenn ich nur genug trank. Vielleicht konnte ich mich in diesem Moment auflösen und einfach nicht mehr existieren. Es war ein dummer Gedanke, aber er war verlockend.

Dann hörte ich Schritte. Ich öffnete die Augen und blinzelte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Ein Schatten bewegte sich um die Ecke, und plötzlich stand er da.

Ich blinzelte, als würde mein Verstand mir einen Streich spielen. „Na, bist du schon fertig mit deiner perfekten Hochzeit?" fragte ich laut und lallend. Meine Worte klangen schärfer, als ich es beabsichtigt hatte, aber das war mir egal. „Hast du jetzt deinen Traum erfüllt, Kai?"

Kai blieb stehen und sah mich an, seine Augen dunkel und schwer. Er sah... nicht glücklich aus. Überhaupt nicht. Aber das interessierte mich in diesem Moment nicht. Alles, was ich fühlte, war ein brennender Zorn, der durch den Alkohol nur verstärkt wurde.

„Julian," begann er, aber ich unterbrach ihn.

„Nein, echt jetzt, wie war's?" Ich hob die Flasche und deutete spöttisch in seine Richtung. „Hast du Ja gesagt? Hast du das perfekte Leben gewählt, hm? Die perfekte Frau, die perfekte Ehe?"

Kai trat einen Schritt näher, seine Hände in den Taschen. Sein Blick war ruhig, aber ich konnte sehen, dass etwas in ihm tobte. „Ich habe sie nicht geheiratet," sagte er leise.

Ich lachte erneut, dieses Mal noch bitterer. „Oh, bitte, Kai. Hör auf, so einen Mist zu erzählen. Natürlich hast du sie geheiratet. Warum wärst du sonst hier?"

„Julian, hör mir zu," sagte er, seine Stimme wurde eindringlicher. „Ich habe sie nicht geheiratet. Ich konnte es nicht."

Ich schüttelte den Kopf, unfähig, ihm zu glauben. „Hör auf, mich zu verarschen. Du hast die ganze Zeit gewusst, was du wolltest. Warum sollte ich dir jetzt glauben?"

Kai seufzte und trat näher an mich heran. Ich konnte den Schmerz in seinen Augen sehen, aber ich wollte ihn nicht sehen. Ich wollte ihn nicht fühlen.

„Weil es die Wahrheit ist," sagte er schließlich. „Ich konnte es nicht. Ich konnte nicht Ja sagen."

Ich starrte ihn an, mein Kopf drehte sich vor Verwirrung und Alkohol. „Du lügst," murmelte ich. „Das ist nur irgendein Spiel von dir."

Kai hockte sich vor mich hin, sodass unsere Gesichter auf einer Höhe waren. „Ich lüge nicht, Julian," sagte er leise. „Ich habe Nein gesagt. Weil ich dich liebe."

Die Worte trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich wollte ihm glauben, wirklich. Aber nach allem, was passiert war, konnte ich es einfach nicht. Nicht jetzt.

„Du liebst mich?" wiederholte ich und lachte erneut, aber dieses Mal war mein Lachen voller Schmerz. „Wenn du mich wirklich liebst, warum hat es so lange gedauert, Kai? Warum musstest du es so weit kommen lassen?"

Er antwortete nicht sofort. Seine Augen suchten meinen Blick, als wollte er etwas sagen, das er nicht in Worte fassen konnte. „Weil ich Angst hatte," sagte er schließlich.

Kai wollte noch etwas sagen, aber ich schob ihn weg und griff nach einer neuen Flasche Sekt. „Lass mich einfach in Ruhe, okay? Geh zurück zu deinem perfekten Leben."

„Julian, bitte..."

„Lass mich!" schrie ich, und meine Stimme brach.

Abseits der Gefühle (Bravertz)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt