✧ 𝘒𝘢𝘱𝘪𝘵𝘦𝘭 𝘏𝘶𝘯𝘥𝘦𝘳𝘵𝘯𝘦𝘶𝘯𝘻𝘦𝘩𝘯 ✧

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POINT OF VIEW
JULIAN BRANDT

Das Training war an diesem Morgen besonders intensiv, aber ich liebte jede Sekunde davon. Der Ball klebte förmlich an meinen Füßen, und alles fühlte sich plötzlich wieder so leicht an. Es war, als hätte jemand eine unsichtbare Barriere eingerissen, die ich seit Jahren mit mir herumgeschleppt hatte. Und das Beste daran war: Kai und ich waren wieder ein Team. Nicht nur auf dem Platz, sondern irgendwie auch abseits davon. Es war nicht so wie früher – noch nicht –, aber es war ein Anfang.

„Jule, lauf!" hörte ich Kai rufen, und ein Grinsen breitete sich unwillkürlich auf meinem Gesicht aus. Ich sprintete nach vorne, nahm den Pass an, den er perfekt in meinen Lauf gespielt hatte, und leitete den Ball mit einem schnellen Rückpass wieder zu ihm weiter. Er schoss, und der Ball zischte ins obere rechte Eck.

„Boom!" rief Kai triumphierend und drehte sich zu mir um, während die anderen applaudierten.

„Nicht schlecht, Harvey," sagte ich, und wir klatschten uns ab.

„Nicht schlecht?" Er hob eine Augenbraue und grinste breit. „Das war perfekt, Jule. Du musst das mal zugeben."

Ich zuckte mit den Schultern, versuchte, das Grinsen zu unterdrücken, das sich immer breiter auf meinem Gesicht ausbreitete. „Na ja, ich hab den schwierigen Teil gemacht."

„Ach ja?" Er schüttelte den Kopf, aber er schien amüsiert. „Bleib bei der Wahrheit, mein Freund."

Der Trainer pfiff, und wir liefen zurück zu unseren Positionen. Aber dieser Moment, dieser kurze, unbeschwerte Austausch, fühlte sich so vertraut an. Es war wie eine Zeitreise zurück nach Leverkusen, als wir genau so zusammenspielten – als wäre der Rest der Welt egal, solange wir auf dem Platz waren.

Das Training ging weiter, und es wurde klar, dass wir immer noch dieses blinde Verständnis hatten. Ich wusste genau, wohin Kai den Ball spielen würde, noch bevor er ihn überhaupt berührte. Und genauso schien er zu wissen, wo ich hinlaufen würde. Es war nicht perfekt, aber es fühlte sich gut an – wie ein Tanz, den wir nie wirklich verlernt hatten.

Zwischendurch warf ich ihm immer wieder Blicke zu, und jedes Mal sah ich dieses leichte Grinsen auf seinem Gesicht, das mir sagte, dass auch er das spürte. Dass auch er wusste, dass wir immer noch dieses „etwas" hatten, das man nicht erklären kann. Wir brauchten keine Worte, um uns zu verstehen. Der Ball sprach für uns.

„Das war stark, Brandt, Havertz!" rief der Trainer irgendwann, als wir eine besonders gute Kombination gespielt hatten. „Mehr davon!"

Ich nickte, atmete schwer, während Schweiß über mein Gesicht lief. Es war anstrengend, aber ich fühlte mich lebendig – und vor allem: ich fühlte mich frei. Es war so lange her, dass ich mich auf dem Platz so gut gefühlt hatte.

Nach dem Training gingen wir alle in die Umkleide, die Stimmung war ausgelassen. Die Jungs lachten und redeten durcheinander, während die Luft von einem Gemisch aus Schweiß und Duschgel erfüllt war. Ich zog meine Schuhe aus und ließ mich auf die Bank fallen, um meine Socken abzustreifen.

Kai stand ein paar Meter weiter und zog sich sein Trikot über den Kopf. Mein Blick wanderte unwillkürlich zu ihm, bevor ich mich zwingen musste, wegzusehen. Aber dann fiel mein Blick wieder auf ihn, als er sein Trikot ablegte. Seine Haut war leicht gerötet vom Training, und Schweißperlen glitzerten auf seinem Rücken, als er es sich über den Kopf zog. Seine Muskeln spannten sich bei jeder Bewegung, und ich ertappte mich dabei, wie ich ihn länger ansah, als ich sollte.

Was machst du da, Julian? rief ich mich innerlich zur Ordnung. Aber es war, als hätte mein Körper seinen eigenen Willen. Es war keine bewusste Entscheidung – es war einfach ein Reflex.

„Alles okay, Jule?" fragte Benni, der sich gerade neben mich gesetzt hatte und sich die Schnürsenkel seiner Schuhe löste.

„Ja, klar," antwortete ich schnell, riss meinen Blick von Kai los und versuchte, so normal wie möglich zu wirken.

Ich schnappte mir mein Handtuch und ging schnell Richtung Dusche, um meine Gedanken zu sortieren. Unter dem warmen Wasser ließ ich meinen Kopf gegen die kühlen Fliesen sinken. Was war los mit mir? Ich hatte mich unter Kontrolle, oder?

Zurück in der Umkleide schien Kai nichts gemerkt zu haben, oder er ließ es sich zumindest nicht anmerken. Er grinste nur, als er an mir vorbeiging, und ich zwang mich, zurückzugrinsen.

„Du bist heute echt stark gelaufen," sagte er beiläufig, während er sich seine Tasche schnappte.

„Danke," murmelte ich, unsicher, ob ich ihm in die Augen sehen sollte. „Du warst auch nicht schlecht."

Er lachte leise. „Nicht schlecht? Jetzt machst du Witze, Jule."

Ich schüttelte nur den Kopf und zog mir mein Shirt über, bevor ich meine Tasche packte. Die anderen Jungs verabschiedeten sich nach und nach, und bald waren wir die letzten beiden in der Umkleide. Die Stille zwischen uns war nicht unangenehm, aber sie war da – schwer, fast greifbar.

„Weißt du," begann Kai schließlich, während er sich seine Schuhe zuband, „es ist echt gut, wieder mit dir zu spielen. Ich hab das vermisst."

Ich sah ihn an, überrascht von seiner Offenheit. Aber bevor ich etwas sagen konnte, zuckte er mit den Schultern und stand auf, als wollte er das Thema wechseln.

„Ich geh schon mal vor," sagte er und warf sich seine Tasche über die Schulter. „Bis später, Jule."

„Ja, bis später," murmelte ich, während er aus der Umkleide verschwand.

Als ich schließlich allein war, ließ ich mich zurück auf die Bank fallen und atmete tief durch. Es war komisch, wie normal sich alles auf dem Platz anfühlte – und wie kompliziert es sofort wurde, sobald wir nicht mehr spielten. Aber vielleicht war das einfach unsere Dynamik: zwei Leute, die sich blind aufeinander verlassen konnten, solange ein Ball im Spiel war – und die sich in allem anderen immer wieder verloren.

Abseits der Gefühle (Bravertz)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt