✧ 𝘒𝘢𝘱𝘪𝘵𝘦𝘭 𝘏𝘶𝘯𝘥𝘦𝘳𝘵𝘻𝘸𝘦𝘪 ✧

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POINT OF VIEW
KAI HAVERTZ

Die Luft war klar und frisch, als ich durch die kleine Schotterstraße lief, die sich durch das Tal zog. Die Berge um mich herum wirkten fast erdrückend in ihrer Größe, als wollten sie mich daran erinnern, wie klein und unbedeutend meine Probleme im großen Ganzen waren. Aber meine Gedanken ließen sich davon nicht beeindrucken.

Es war spät am Nachmittag, und die Sonne begann bereits, hinter den Gipfeln zu verschwinden. Lange Schatten legten sich über den Weg, und ich zog die Kapuze meiner Jacke etwas tiefer, als eine kühle Brise über mein Gesicht strich.

Ich war gerade erst angekommen, ein bisschen später als die anderen. Der Bundestrainer hatte uns Chelsea-Spielern erlaubt, später einzutreffen, da wir einen längeren Flug hinter uns hatten. Die meisten anderen Jungs waren schon auf ihren Zimmern, wahrscheinlich dabei, sich für das Abendessen vorzubereiten. Aber ich brauchte noch ein bisschen Zeit für mich.

Ich atmete tief durch und sah mich um. Die Landschaft hier war wunderschön – so ruhig, so unberührt. Ich wusste, dass ich diese Momente schätzen sollte, doch meine Gedanken waren überall, nur nicht hier. Ich dachte an das Training, an die anstehenden Spiele, an Sophia, die sich zu Hause auf die Hochzeit vorbereitete. Und dann, wie aus dem Nichts wieder an ihn.

Ich schüttelte den Kopf, als wollte ich die Gedanken vertreiben. Zwei Jahre war das jetzt her. Zwei Jahre, in denen ich es geschafft hatte, alles zu verdrängen, was passiert war. Zwei Jahre, in denen ich mich daran erinnert hatte, wer ich wirklich bin. Julian war ein Teil meiner Vergangenheit, nichts weiter. Ein Fehler, den ich gemacht hatte, weil ich damals emotional durcheinander war.

Ich bog um eine Ecke und blieb plötzlich stehen. Ein Mann kam mir entgegen. Der Weg war schmal, und ich konnte ihn zuerst nicht genau erkennen. Er trug eine schwarze Jacke, die offen war und sich im Wind bewegte. Seine Hände steckten in den Taschen, und er schien in Gedanken versunken. Doch als er näher kam, setzte mein Herz einen Schlag aus.

Julian.

Ich wusste es sofort, obwohl er sich verändert hatte. Sein Gesicht war markanter geworden, seine Schultern breiter. Sein blondes Haar war ein bisschen länger, und sein Gang wirkte selbstbewusster. Er sah nicht mehr aus wie der Junge, den ich damals gekannt hatte. Er sah aus wie ein Mann.

Er bemerkte mich, und sein Schritt stockte. Für einen Moment sah er so aus, als wollte er einfach umdrehen und weglaufen. Aber stattdessen blieb er stehen, genauso wie ich.

Unsere Blicke trafen sich, und plötzlich fühlte ich mich, als würde die Zeit stillstehen. Es war, als wären wir allein in dieser riesigen, stillen Welt. Die Berge, der Himmel, die Bäume – alles verschwamm in meinem Kopf. Es gab nur ihn und mich.

Ich wollte etwas sagen, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. In meinem Kopf tobten tausend Gedanken gleichzeitig. Was sollte ich sagen? Was konnte ich überhaupt sagen, nachdem ich ihn zwei Jahre lang ignoriert hatte?

Julian schien genauso überfordert zu sein wie ich. Wir standen einfach nur da, starrten uns an, ohne uns zu bewegen. Sein Blick bohrte sich in meinen, und ich konnte sehen, dass er genauso viele unausgesprochene Worte hatte wie ich. Doch niemand von uns wagte, den ersten Schritt zu machen.

Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, bis ich endlich das Schweigen brach.

„Hallo", murmelte ich, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

Julian zuckte fast zusammen, als hätte er nicht erwartet, dass ich etwas sage. Seine Augen verengten sich für einen Moment, und dann nickte er knapp.

„Hallo", sagte er zurück, genauso leise.

Es war nichts. Nur ein einziges Wort. Doch es fühlte sich an wie eine Explosion in meinem Kopf.

Julian zögerte nicht lange. Er drehte sich um und ging weiter, ohne noch einmal zurückzusehen. Ich blieb stehen und sah ihm nach, bis er hinter der nächsten Biegung verschwand.

Mein Herz schlug schneller, als ich es mir eingestehen wollte. Mein ganzer Körper fühlte sich angespannt an, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Und doch hatte ich kaum ein Wort gesagt.

Ich setzte mich wieder in Bewegung, aber mein Kopf war ein Chaos. Was war das gerade gewesen? Warum fühlte ich mich so... leer?

Ich dachte an Julians Gesicht. Er sah anders aus, aber seine Augen waren die gleichen. Diese Augen, die ich früher so gut gekannt hatte. Diese Augen, die mich damals angesehen hatten, als hätte ich die Welt für ihn bedeutet.

Doch jetzt war da nichts mehr. Nur Distanz.

Ich versuchte, mich zu beruhigen, indem ich meine Schritte zählte. Eins, zwei, drei... Doch die Gedanken ließen mich nicht los.

Hatte ich das Richtige getan? Hätte ich mehr sagen sollen? Oder hätte ich gar nichts sagen sollen?

Ich wusste es nicht. Alles, was ich wusste, war, dass ich Mist gebaut hatte. Nicht nur damals, sondern auch jetzt. Es war komisch, ihn nach all der Zeit wiederzusehen. Er war so anders, und doch... irgendwie auch nicht.

Ich dachte daran, wie sehr er sich verändert hatte. Er wirkte stärker, selbstbewusster. Und doch hatte ich das Gefühl, dass ich ihn immer noch lesen konnte. Hinter dieser Fassade war immer noch der Julian, den ich gekannt hatte.

Aber vielleicht irrte ich mich. Vielleicht war er wirklich ein anderer Mensch geworden. Schließlich war ich es auch. Ich blieb stehen und sah mich um. Die Landschaft war wunderschön, doch sie konnte meine Gedanken nicht beruhigen.

Scheiße", murmelte ich leise zu mir selbst.

Ich schüttelte den Kopf und setzte meinen Weg fort. Der Moment war vorbei, und es brachte nichts, darüber nachzudenken. Doch in meinem Inneren wusste ich, dass ich diesen Moment nicht so schnell vergessen würde.

Abseits der Gefühle (Bravertz)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt