POINT OF VIEW
JULIAN BRANDTDer Abend war still geworden. Luisa war bereits nach Hause gegangen, und Sophia hatte sich mit einem gähnenden „Ich bin totmüde" nach oben verabschiedet. Jetzt saß ich allein mit Kai an der Feuerschale. Das Feuer glomm noch leicht, warf goldene Lichtspiele auf sein Gesicht, das trotz des blauen Auges makellos wirkte.
Ich beobachtete ihn eine Weile, wie er mit einem Stock in den Glutresten stocherte. Seine Bewegungen waren langsam, fast mechanisch, als wäre er in Gedanken ganz woanders. Ich räusperte mich schließlich und stand auf, um mich neben ihn zu setzen. Die Bank knarzte leicht, als ich Platz nahm, und Kai sah kurz zu mir hinüber.
„Harvey", begann ich, meine Stimme war leiser, als ich erwartet hatte. „Ich muss wissen, was wirklich los ist."
Er seufzte, legte den Stock beiseite und lehnte sich zurück. Seine Schultern wirkten schwer, als hätte er die Last der ganzen Welt darauf getragen. „Jule, es ist nichts. Ehrlich."
„Bitte lüg mich nicht an", sagte ich und sah ihn direkt an. „Du weißt, dass ich dir nicht glaube. Das mit der Tür kannst du jedem erzählen, aber nicht mir."
Kai lächelte schief, aber es erreichte seine Augen nicht. „Ich hab's mir fast gedacht."
„Also?", fragte ich, und mein Herz schlug schneller, weil ich spürte, dass jetzt der Moment kam, in dem er mir die Wahrheit sagen würde.
Kai schwieg eine Weile, seine Augen waren auf die Flammen gerichtet, die tanzenden Lichter spiegelten sich in seinen blauen Augen. „Meine Familie... ist kompliziert", sagte er schließlich, seine Stimme war ruhig, aber ich konnte die Bitterkeit darin hören. Ich sagte nichts, gab ihm den Raum, weiterzusprechen.
„Meine Schwester, Mirella... sie war immer die Perfekte. Die Klügere, die Erfolgreichere. Meine Eltern haben sie immer bevorzugt. Es war, als könnte sie nichts falsch machen."
Er lachte leise, aber es klang nicht fröhlich. „Und ich? Ich konnte nichts richtig machen. Egal, was ich tat, es war nie genug. Nie gut genug."
Ich sah ihn an, mein Herz zog sich bei seinen Worten zusammen.
„Und mein Vater...", fuhr er fort und hielt inne, als würde er nach den richtigen Worten suchen. „Er hat mich schon immer bestraft, wenn ich was falsch gemacht habe. Früher, als ich ein Kind war, hat er mich als Bestrafung geschlagen. Mit der Hand, mit dem Gürtel... was auch immer gerade da war."
Ich sog scharf die Luft ein, unfähig, etwas zu sagen.
„Das hat irgendwann aufgehört", sagte Kai und zuckte mit den Schultern, als wäre es nichts. „Aber manchmal... manchmal passiert es eben wieder. So wie neulich, als ich nach der Geburtsurkunde gefragt habe. Er hat sich aufgeregt, weil ich widersprochen habe."
Ich starrte ihn an, fassungslos. „Kai...", begann ich, aber er hob die Hand, um mich zu stoppen.
„Es ist nicht so schlimm, wie du denkst, Jule", sagte er schnell. „Ich hab's überlebt. Und außerdem... es ist jetzt vorbei. Ich werde nicht mehr zurückgehen."
„Nicht so schlimm?", wiederholte ich und konnte die Wut und den Schmerz in meiner Stimme nicht verbergen. „Harvey, dein Vater hat dich geschlagen. Das ist... das ist das Allerschlimmste, was ein Elternteil tun kann."
Kai zuckte wieder mit den Schultern, aber ich konnte sehen, dass es ihm unangenehm war, darüber zu sprechen. „Es ist, wie es ist. Ich will nicht weiter drüber reden."
„Doch, wir müssen darüber reden", sagte ich entschieden. „Kai, das darfst du nicht auf dir sitzen lassen. Niemand verdient es, so behandelt zu werden. Vor allem nicht von seiner eigenen Familie."
Er sah mich an, sein Blick war schwer zu deuten – eine Mischung aus Dankbarkeit und Unbehagen.
„Jule, bitte. Lass es gut sein", sagte er leise.
Ich schluckte und nickte schließlich, obwohl es mir schwerfiel. Ich wollte ihn nicht drängen, nicht jetzt.
Behutsam hob ich eine Hand und strich mit dem Daumen vorsichtig über die Haut um sein blaues Auge. „Tut es noch weh?", fragte ich, meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Kai schüttelte den Kopf. „Nicht mehr so sehr." Unsere Blicke trafen sich, und für einen Moment schien die Welt um uns herum stillzustehen. Die Flammen flackerten, das Holz knackte, aber alles, was ich wahrnahm, war das tiefe Blau seiner Augen.
Ich wollte etwas sagen, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Schließlich war es Kai, der den Blick abwandte und das Schweigen brach. „Danke, Jule."
„Wofür?", fragte ich leise.
„Dafür, dass du dich um mich sorgst", sagte er und lächelte leicht.
Ich nickte, wusste aber, dass ich mehr für ihn tun wollte. „Kai, stimmt das mit Weihnachten? Dass deine Familie verreist ist?"
Er hielt kurz inne, bevor er antwortete. „Nein. Sie wollen mich nicht mehr sehen. Mein Vater hat gesagt, ich soll Weihnachten woanders verbringen."
Mein Herz zog sich erneut zusammen, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut zu fluchen. „Das ist so unfair", sagte ich schließlich. „Das ist nicht okay."
Kai zuckte mit den Schultern, als wollte er es herunterspielen, aber ich ließ ihn nicht. „Weißt du was? Komm an Weihnachten zu uns. Du und Sophia. Meine Familie wird euch mit offenen Armen empfangen."
Kai sah mich überrascht an. „Das ist nett, Jule, aber ich will mich nicht aufdrängen."
„Du drängst dich nicht auf", sagte ich entschieden. „Titus liebt dich, meine Mom macht genug Essen für eine Fußballmannschaft, und ich will nicht, dass du alleine bist."
Kai sah mich lange an, bevor er schließlich leicht nickte. „Okay. Aber nur, wenn Sophia auch einverstanden ist."
„Das wird sie sein", sagte ich lächelnd.
In diesem Moment wusste ich, dass ich alles tun würde, um Kai zu helfen. Er war nicht nur mein bester Freund – er war Familie. Und Familie ließ man nicht im Stich.
DU LIEST GERADE
Abseits der Gefühle (Bravertz)
FanfictionSeine Stimme war ruhig, doch ich spürte den Schmerz darin. „Wie kannst du jemanden lieben und gleichzeitig planen, eine andere zu heiraten?" » Kai Havertz und Julian Brandt könnten unterschiedlicher nicht sein: der eine beliebt und unnahbar, der and...