✧ 𝘒𝘢𝘱𝘪𝘵𝘦𝘭 𝘍𝘶𝘦𝘯𝘧𝘶𝘯𝘥𝘷𝘪𝘦𝘳𝘻𝘪𝘨 ✧

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POINT OF VIEW
JULIAN BRANDT

Ich saß auf der anderen Seite des großen Mahagonischreibtisches, die Hände in meinem Schoß vergraben, während Torsten, mein Manager,  mir gegenüber saß und eine Mappe durchblätterte. Seine Stirn war leicht gerunzelt, und er nickte hin und wieder, als würde er innerlich eine Liste abhaken. Ich wusste, dass er über die Zahlen sprach, über Statistiken und Angebote, aber ich konnte mich nicht richtig konzentrieren.

„Also, Julian", begann er schließlich und legte die Mappe zur Seite. Seine Stimme war ruhig, professionell, aber da war auch ein Hauch von Stolz. „Die Saison war wirklich stark. Du hast dich bewiesen. Nicht nur bei Bayer Leverkusen, sondern auch darüber hinaus. Die Leute haben dich bemerkt."

Ich nickte langsam, wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Es war schön zu hören, dass ich erfolgreich war, aber ich hatte mich nie für diese Art von Gesprächen begeistern können.

„Es gibt einige Anfragen", fuhr er fort und lehnte sich zurück. „Ein paar kleinere Vereine, die dich unbedingt haben wollen. Aber..." Er zog eine andere Mappe aus seiner Tasche und legte sie vor sich hin. „Dann gibt es da noch das hier."

Ich sah ihn an, mein Interesse war geweckt. „Was ist das?"

Er schlug die Mappe auf und schob sie leicht in meine Richtung. „Borussia Dortmund", sagte er mit Nachdruck. „Eine echte Chance für dich, Julian. Sie wollen dich. Und sie sind bereit, eine Menge Geld zu zahlen, um dich zu bekommen."

Mein Magen zog sich zusammen. Dortmund. Ein großer Verein, einer der besten in der Bundesliga. Es war eine Möglichkeit, meine Karriere auf ein neues Level zu bringen, etwas zu erreichen, wovon die meisten Fußballer nur träumen konnten. Aber gleichzeitig fühlte es sich an, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen werden.

„Dortmund?", wiederholte ich leise, und Torsten nickte.

„Ja, Julian. Das ist die Art von Angebot, die man nicht ignoriert. Sie sehen in dir großes Potenzial. Und seien wir ehrlich – du könntest bei ihnen viel mehr erreichen als hier bei Leverkusen."

Ich senkte den Blick, mein Kopf war plötzlich voller Gedanken. Ich hatte mich hier wohlgefühlt, zum ersten Mal seit Jahren. Kai war hier. Meine Mannschaft war hier. Und jetzt sollte ich alles hinter mir lassen?

„Ich weiß, dass das eine große Entscheidung ist", sagte Torsten, und seine Stimme klang fast beruhigend. „Ich erwarte heute keine Antwort. Aber du solltest darüber nachdenken, Julian. Das hier ist die Chance, die nur wenige Spieler bekommen."

Ich nickte langsam, obwohl sich mein Kopf anfühlte, als wäre er mit Watte gefüllt. „Okay. Ich denke darüber nach."

„Gut", sagte Torsten und lächelte leicht. „Das ist alles, was ich von dir verlange. Denk darüber nach, sprich mit deiner Familie. Aber lass uns nicht zu lange warten, ja?"

Ich verabschiedete mich und verließ sein Büro, aber die Worte hallten in meinem Kopf wider. Dortmund. Chance. Erfolg. Ich wusste, dass Torsten recht hatte. Es war eine Gelegenheit, die jeder in meiner Position sofort ergreifen würde. Aber warum fühlte es sich dann an, als würde etwas in mir dagegen rebellieren?

Später saß ich in der Küche zu Hause, Jannis gegenüber, der wie immer mit einer Tasse Kaffee in der Hand entspannt wirkte. Ich hatte ihm von dem Angebot erzählt, und jetzt beobachtete ich, wie er mich aufmerksam musterte.

„Dortmund, hm?", sagte er schließlich und stellte die Tasse ab. „Das ist groß, Jule. Richtig groß. Du kannst nicht leugnen, dass das eine verdammt gute Möglichkeit ist."

„Ich weiß", sagte ich leise und rührte in meinem Tee, obwohl ich keinen Durst hatte.

„Dann warum siehst du aus, als hätte dir jemand einen Ball ins Gesicht geschossen?", fragte er und lehnte sich zurück.

Ich seufzte und ließ den Löffel in die Tasse fallen. „Es ist nicht so einfach, Jannis. Klar, es klingt toll. Aber..."

Er beugte sich leicht vor, seine Augen verengten sich. „Aber?"

Ich zögerte, bevor ich schließlich weitersprach. „Ich weiß nicht, ob ich das will. Ich meine, was, wenn es da wieder so ist wie früher? Was, wenn ich wieder der Neue bin, der nirgendwo reinpasst?"

Jannis nickte langsam, und ich konnte sehen, dass er verstand, was ich meinte.

„Jule", begann er, und seine Stimme war diesmal sanfter. „Ich weiß, dass das schwer für dich ist. Aber du bist nicht mehr der Junge von früher. Du hast dir hier was aufgebaut. Du hast gezeigt, dass du dazugehören kannst. Und wenn du willst, kannst du das auch woanders."

„Aber was, wenn nicht?", fragte ich und sah ihn direkt an. „Was, wenn ich da wieder allein bin? Was, wenn ich niemanden finde, der..." Ich brach ab, weil ich wusste, dass ich etwas sagen wollte, das ich eigentlich nicht laut aussprechen wollte.

Jannis hob eine Augenbraue und musterte mich genau. „Was, wenn du niemanden findest wie Kai, meinst du?"

Ich sah ihn überrascht an, und er lächelte leicht. „Ich bin dein Bruder, Jule. Ich sehe das doch. Kai ist wichtig für dich. Das ist okay."

Ich seufzte und lehnte mich zurück. „Er ist mein bester Freund, Jannis. Zum ersten Mal seit... ich weiß nicht, seit immer? Habe ich jemanden, der mich versteht. Der mich nicht nur akzeptiert, sondern wirklich mag. Ich will das nicht verlieren."

„Und glaubst du, dass das passiert, wenn du gehst?", fragte er ruhig.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber ich will es nicht riskieren."

Jannis sah mich lange an, bevor er schließlich nickte. „Okay, ich verstehe das. Aber, Jule... du musst auch an dich denken. Du kannst nicht immer nur bleiben, weil du Angst hast, was passieren könnte, wenn du gehst. Vielleicht wird es schwer. Aber vielleicht wird es auch besser, als du denkst."

Ich wusste, dass er recht hatte, aber es änderte nichts an der Angst, die in mir nagte. Dortmund war eine Chance, ja. Aber es war auch ein Risiko. Und ich hatte so viel Angst, dass ich das verlieren könnte, was ich hier aufgebaut hatte.

„Denk einfach darüber nach", sagte Jannis schließlich und griff nach seiner Tasse. „Du musst dich nicht sofort entscheiden. Aber lass dich nicht von der Angst leiten, Jule. Das bist du dir selbst schuldig."

Ich nickte langsam, obwohl meine Gedanken noch immer ein Chaos waren. Es war keine leichte Entscheidung. Aber ich wusste, dass ich sie irgendwann treffen musste.

Abseits der Gefühle (Bravertz)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt