Kapitel 9

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Chase
Leise stecke ich den Schlüssel in das Schloss der Haustür und drehe ihn, so dass die Tür sich öffnet. Ich schleiche in unser Apartment und flüchte zum Badezimmer um zu duschen. Mittlerweile ist es zirka 23 Uhr. Trotzdem schläft die ganze Familie schon. Dad hatte, soweit ich weiß, heute wieder ein Date. Besonders viel weiß ich nicht über sie, außer, dass sie anscheinend rote Haare hat und dadurch nicht wie Mom aussieht. Unnötig zu erwähnen, dass ich sie hasse, ohne sie zu kennen. Genau wie Hayden. Den ich mit viel zu hohem Alkohol und Drogeneinfluss geküsst habe. Und danach weggerannt bin. Zu meinem Glück ist ein Uber vor dem Haus gestanden und ich habe noch Geld dabei gehabt.
Im Badezimmer angekommen, werfe ich die hässliche Maske in eine wahllose Ecke. Irgendwie pelle ich mich aus dem Lederanzug und stehe nur noch in Boxershorts vor dem Spiegel. Mein Blick fällt auf die Narbe eines kleinen Unfalls. Ich bin gerade einen steilen Berg heruntergefahren, bis sich das Vorderrad meines Bikes an einem etwas größeren Stein verhakte und ich über den Lenker gefallen bin. Dabei hat ein spitzer Ast meinen unteren Bauch erwischt. Mittlerweile ist es gut verheilt, aber man sieht noch die Konturen.
Mit einer Hand fahre ich mir durch die hellbraunen Haare und seufzte. Ich beiße in die Innenseite meiner Wange, bis ich Blut schmecke und sofort aufhöre.
Nach dem Unfall ist Mama direkt zu mir gerannt und hat mir aufgeholfen. Danach hat sie ein Pflaster mit einem Bike auf den Bauch geklebt. Über die Wunde hat sie "wahre Helden geraten, auch in Unfälle" geschrieben. Sie hat mir wieder auf mein Bike geholfen und mich motiviert, einfach weiter zu fahren. Hat mir geholfen, mich davon nicht unterkriegen zu lassen. Jetzt gehe ich fast täglich zu ihrem Grab und versuche nicht zu weinen, denn nun tröstet mich niemand mehr, wie sie es getan hat.
Um wie immer vor den zu düsteren Gedanken zu fliehen, ziehe ich den letzten Fetzten Kleidung aus und flüchte in die Dusche.
Das immer kälter werdende Wasser spült jegliche Gedanken von meinen Schultern. Ich schließe die Augen und lehne mich gegen die kalte Wand aus Fliesen. Das Wasser läuft über mein Gesicht. Dadurch kann ich nicht mehr atmen, aber das ist mir gerade egal. Selbst Atemlosigkeit ist besser als dieser Selbst-Ekel, den ich bis eben verspürt habe. Ich greife nach dem Shampoo und gebe es auf meine Hand. Ich reibe es mir in die Haare und massiere meine Kopfhaut in dem Versuch, den Druck verschwinden zu lassen. Danach wasche ich meinen Körper. Meine Finger gleiten über meine nasse Haut und hinterlassen Spuren von Schaum. Bis sich der Scharm eher wie ein Rauschen im Hintergrund anfühlt. Bis der Kuss nicht mehr jeden Gedanken einnimmt.
Kurze Zeit später stehe ich wieder vor dem Badezimmerspiegel. Dieses Mal in einer Jogginghose und einem Kompressionsshirt. Meine Haare sind noch etwas nass, jedoch gehe ich trotzdem in den Flur, ohne sie zu föhnen. Wahrscheinlich würde ich Emmy damit aufwecken.
Gerade als ich das Badezimmer verlasse, steht sie mit müden Augen in ihrem Bären Schlafanzug vor mir. Es ist ein Einteiler mit Kapuze, an der sich kleine Bärenohren befinden.
"Warum duscht du noch um diese Uhrzeit?", fragt sich und reibt sich mit einer Hand ihr rechtes Auge. Unter beiden Augen befinden sich große Augenringe.
"Bis wann warst du noch wach? Hat Anthony dich nicht ins Bett gebracht?" Nervös tritt sie von einem Bein auf das andere.
"Werd nicht sauer!"
"Okay...?"
"Anthony war nicht zu Hause. Deswegen war ich, nachdem ich auf Süßes oder Saures Tour war, alleine hier."
Meine Hände ballen sich zu Fäusten, aber ich versuche trotzdem, die Ruhe zu bewahren.
"Alles klar. Bis wann warst du also wach?"
Sie wirkt wieder nervös.
"Bis... gerade eben."
"Emmy...", seufze ich verzweifelt und massiere meine Schläfen. Sie schaut schuldbewusst auf den Boden.
"Der Film war so spannend..."
Ich nicke möglichst verständnisvoll. Es sollte mich nicht mehr verwirren, dass sie eine kleine Nachteule ist. Bin ich nämlich auch.
"Ich habe einen Deal für dich", sage ich und bin schon auf meinem Weg zur Garderobe.
"Wir fahren für fünfzehn Minuten Bike und dann geht's ins Bett, alles klar?"
Eifrig nickt sie und ich werfe ihr im selben Moment Helm und Sturmhaube zu. Zu meinem eigenen Schutz nehme ich ebenfalls Helm, Sturmhaube und noch eine Lederjacke.
Ein paar Minuten später fahren wir durch die nächtlichen Straßen Brooklyns. Für Herbst ist die Temperatur sogar einigermaßen angenehm. Sie zieht einem nicht so durch die Knochen.
Der Wind weht mir zum Glück nicht durch die nassen Haare, da ich ja den Helm trage. Trotzdem wünsche ich mir leicht, dass es so ist. Einfach die Herbstkälte durch die Haare spüren und einfach fühlen und nicht alles so verstauen, dass ich im Endeffekt ein Breakdown habe. Wie nach dem Kuss, von dem ich mir bisher jeden Gedanken verboten habe. Der Kuss, der ein bisschen zu gut war. Unsere Lippen haben sich irgendwie wie Puzzle Teile ergänzt.
Nachdem ich von dieser Fahrt erstmal etwas Frust ablassen konnte, fahren Emmy und ich wieder zurück nach Hause. Dort angekommen, verziehen wir uns in ihr Zimmer.
"Willst du mir sagen, was los ist, Chasey?", fragt sie vorsichtig, um kein Salz in irgendwelche Wunden zu streuen.
"Ich... sollte dir vielleicht etwas gestehen."
Sie zieht eine Augenbraue in die Höhe. Ich weiß, dass sie nicht böse reagieren wird oder mich gar beleidigen wird, aber trotzdem fühle ich mich unwohl. Dieses Gefühl frisst sich praktisch durch meine Organe und sorgt für eine unangenehme Gänsehaut auf meinem Körper.
"Ich habe Kelly betrogen..." Bei diesem Satz weiten sich Emmys Augen, aber sie verurteilt mich nicht.
"Mit wem?"
Ich schlucke und starre sie an. Ich sehe wohl aus wie ein kleiner verschreckter Hund.
"Mit Hayden..." Ich schließe die Augen. Bis zu diesem Moment hat sich alles noch so surreal angefühlt. So als wäre alles nur ein Traum, doch nachdem ich es jetzt ausgesprochen habe, rasst die Realität auf mich ein.
"Ist Hayden ein Mädchen oder... ein Junge?", stellt sie dann wieder typisch sachlich in Frage.
Ich schaue zu meinen Füßen und als ich das nächste Mal aufsehe, ist mir klar, dass sie mich mit dieser Geste schon enttarnen kann. Sofort geht sie auf mich zu und schließt mich in ihre Arme. So verharren wir ein paar Minuten. Sie in meinen Armen und ich am Heulen. Sie versucht mich zu beruhigen, nur leider fühle ich mich gerade wie damals auf Moms Beerdigung. Es hat geregnet und Emmy gerade mal ein paar Wochen alt. Mom ist direkt nach Emmy Geburt gestorben. Es war von Anfang an klar, dass es besser gewesen wäre, einen Kaiserschnitt zu machen, nur da war es schon zu spät. Die Ärzte sind in und aus dem Kreißsaal gerannt, während ich Anthony gefragt habe, ob es meiner Mama gut geht.

Sorry not sorry deutschWo Geschichten leben. Entdecke jetzt