Kapitel 4

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Hayden
Erster Oktober
Schon mal uralte Schallplatten nach Genre und Jahreszahlen sortiert?
Wenn ja, versteht man, wie tierisch langweilig das Ganze eigentlich sein kann.
Es ist neunzehn Uhr und ich könnte mir definitiv etwas Spannenderes vorstellen, als das hier.
Meine einzige Rettung ist der Energydrink, den mir Chases Schwester Jenna in die Hand drückt. Die Heilige!
Nachdem ich sie dankend anlächle, setzt sie sich mit kleinem Abstand neben mich.
„Alles klar bei dir?", fragt sie und lächelt mich zaghaft an.
Nein, es ist nicht alles klar bei mir.
Meine Mutter hat mich gestern mitten in der Nacht angerufen und mein schlaftrunkenes Ich hat ohne nachzudenken angenommen.
Das Erste, was sie getan hat, war, mich lallend anzuschreien, wie undankbar ich doch sei. Dass ich ihres und das Leben meines Vaters ruiniert habe und dann von einem auf den anderen Tag einfach so abgehauen bin.
Sowas sollte mich aus ihren Mündern nicht mehr verletzen, aber trotzdem verfolgt es mich bis jetzt.
Ich will das Jenna nicht sagen und sie damit auch runterziehen. Deswegen antworte ich ihr einfach das, was sie hoffentlich zufrieden stellt.
"Ja, alles gut. Bei dir?"
"Auch alles gut.Ich bin noch am überlegen, wie ich meine Haare für Halloween färben kann, ohne dass sie dann eine gefühlte Ewigkeit grün bleiben."
Ich muss mal wieder unwillkürlich lächeln. Vielleicht sollte ich ihr sagen, dass sie auch mit grünen Haaren noch wunderschön aussehen würde. Was hat mein Boss Matthew eigentlich für gute Gene? Jenna sieht ohne Spaß wie ein Model aus, Chase ist zugegeben heiß, sie haben noch einen Bruder, der zwar den Nerd-Look durchzieht, jedoch trotzdem süß aussieht. Von der Jüngsten weiß ich nichts außer den Namen und ihr Alter. Keine Ahnung, ob sie wie Chase braune oder wie Jenna und Anthony hellblonde Haare hat. Ob ihre Augen hellblau wie die von Anthony und Jenna oder grünlich wie die von Chase sind. Vielleicht wird mir Emmy immer ein Rätsel sein. Allem in allem sind die Geschwister, die ich kenne alle echt umwerfend. Man könnte sie glatt als Kinderbuch Familie bezeichnen. Ich wünschte, ich könnte dasselbe über mich und meine Eltern sagen.
Und schon wieder mit den Gedanken woanders.
Aus Frust greife ich nach dem Energy Drink den ich neben mich gestellt habe und trinke ihn fast komplett aus. Danach greife ich nach einer Schallplatte aus den frühen Achtzigern und ordne sie ein. Scheint Heavy Metal zu sein.
"Wollen wir heute Abend mit Kelly in den Skatepark. Du wirkst bedrückt. Ich werde dich nicht drängen, es mir zu sagen, aber ich möchte dich wissen lassen, dass du nicht immer alles alleine verkraften musst, Hayden. Es hilft mit anderen zu reden", sagt Jenna ganz plötzlich in die Stille hinein.
Ich habe absolut keine Ahnung, wie sie es immer schafft, jeden um sich herum zu durchschauen. Es ist wie ihre Superkraft.
Langsam gehe ich ihre Worte noch einmal gedanklich durch. Heute Abend. Skatepark. Kelly. Gute Kombination, die wahrscheinlich meinen Tag etwas verbessern wird.
Ich habe Kelly heute noch kein einziges Mal gesehen, da sie bei ihren Eltern gefrühstückt hat. Ich nehme es ihr nicht übel. Ihre Eltern sind großartig. Ich war schon früher oft bei Kelly und habe ihre Eltern deswegen über die Zeit gut kennengelernt.
Als meine Mutter mich einmal grundlos mitten in der Nacht aus der schäbigen Wohnung geschmissen hat, bin ich sofort zu Kelly gerannt. Ihre Eltern haben mir sofort die Tür geöffnet, mir eine Decke und ein Kissen gegeben, mir etwas zu essen gemacht und mir eine kleine Umarmung gegeben. Das ist danach noch mehrmals passiert. Ich habe ihnen nie gesagt, warum ich dauernd von zu Hause fliehe, weil mein Vater mir früher gedroht hat, mich sonst zu schlagen. Trotzdem hat Kellys Familie mich mehr willkommen geheißen als meine eigene.
Fünfzehn Minuten später schließen Jenna und ich den Laden ab und machen uns auf den Weg zum Skatepark. Ich habe mein Skateboard unter den Füßen während sie es bevorzugt, zu Fuß zu gehen.
Gerade versuche ich, sie über ihr Studium auszuhorchen. Medizin. Dabei bemerke ich, dass sie ganze vier Jahre älter als ich ist. Ich bin siebzehn. Sie ist einundzwanzig und studiert Medizin. Trotzdem sind wir uns ziemlich ähnlich. Wie beide haben den Drang, es immer jedem Recht zu machen. Immer das Gute in jedem Menschen zu sehen. Ich habe versucht, das Gute in meinen Eltern zu sehen. Ohne Erfolg. In ihrer Welt bin ich nichts weiter als ein Haufen Enttäuschungen. Fehler. Entscheidungen, die sie ihr Leben lang bereuen werden. Sie haben den Titel "Eltern" nicht verdient.
Ich kann von Glück sprechen, dass Kellys Eltern mir und Kelly die Wohnung gefunden haben. Wir müssen zwar die Miete zahlen, aber besser als gar nichts.
Besser als weiterhin alle drei Tage aus der Wohnung geschmissen zu werden.
Ich skate weiterhin neben Jenna, die weiter über ihr Studium redet. So sehr es mich auch interessiert, was sie studiert, interessiert es mich mehr, dass ich Kellys Schatten ein paar Meter sehe.
Sofort nehme ich Geschwindigkeit auf und fahre auf sie zu. Die kälte des Herbstes fährt mir durch die Knochen und meine haare sehen wahrscheinlich echt blöd aus. Tun sie aber immer, also was solls. Ich bereite mich mental schon auf eine Umarmung von ihr vor und als ich endlich bei ihr ankomme, bremse ich abrupt. Sehr blöde Entscheidung, denn ich lege mich auf den Asphalt. Sofort stehe ich wieder auf und umarme sie. Gerade möchte ich nichts anderes als diesen beschissenen Tag einfach zu vergessen.
Ich vergrabe mein Gesicht in ihrer Schulter, was sie mit einem Lachen quittiert.
"Mom hat mich in der Nacht angerufen", sage ich ihr und sie zuckt leicht zusammen. Ihr habe ich von allem erzählt und es nie bereut. Sie hat mir geholfen, es etwas besser zu verkraften und deswegen bin ich auch so froh, sie jetzt zu sehen.
Sie trägt eine Lederjacke und darunter einen hellen Pullover. Dazu werden ihre Beine von einer tief auf ihrer Hüfte sitzenden Hose bedeckt. Ich mag Kellys Style. Unsere Wohnung hat damit auch schon Bekanntschaft gemacht. Mir ist es eigentlich komplett egal, wie unsere Inneeinrichtung aussieht. Wenn Kelly unbedingt eine Pinterest Wohnung haben möchte, komme ich damit klar. Außerdem bin ich, was meine "Maskulinität" angeht, echt entspannt. Ich verstehe nie, warum manche Männer immer gleich ausrasten, wenn andere Männer Make-up mögen oder pink tragen. Mein Vater ist so. Ich habe mir einmal einen Lippenbalsam im Winter gekauft, da meine Lippen wirklich spröde waren und er hat sich eine ganze Stunde lang deswegen aufgeregt. Ich wollte ihm am liebsten ins Gesicht spucke und ihn auslachen, nur das wäre wohl etwas nach hinten losgegangen.
Kelly erblickt Jenna hinter mir und ihr Gesichtsausdruck verändert sich. Unglaublich, dass ich das mal sage, aber ich kann es nicht deuten. Ob es Ekel, Verzweiflung, Freude, Wut, Enttäuschung oder Trauer ist. Ich habe keinen blassen Schimmer. Was ich aber weiß ist, dass ich mich raushalten sollte.
"Ich gehe dann mal zur Rampe. Bis gleich", sage ich so schnell es geht, bevor ich mein Skateboard schnappe.
Der Park ist etwas abseits von unserer Wohnung. Kein ewig langer Weg, aber gut dreißig Minuten sind es schon.
Gerade als ich zur Rampe möchte, ruft mich eine Stimme.
"Hey, du! Komm mal her!", ruft niemand geringeres als Avery Brooks. Er ist in Kellys und Chases Jahrgang und der absolute Schnösel. Außerdem Kapitän des Schwimmteams.
Ich gehe selbstbewusst zu ihm, obwohl mir zum kotzen ist.
Kurz mustert er mich und zündet sich dann einen Joint an. Was auch sonst...
"Ich feiere eine Halloweenparty. Es sollen so viele Leute wie möglich kommen. Lad ein paar Leute ein, wenn du willst", sagt er in dieser abgehobenen Art, die mich absolut nervt. Avery ist echt oft im Skatepark, kann aber nicht mal skaten. Er ist ein totaler Poser.
Kurz darauf bemerke ich den Kerl neben ihm. Groß, muskulös und braune Haare. Sein Blick ist kalt. Ein kleines bisschen erinnert er mich an Chase.
Avery scheint meinen Blick zu bemerken, denn sofort brabbelt er wieder los.
"Das ist Benny."
"Kann Benny nicht für sich selbst sprechen?", frage ich bissig nach.
Avery grinst einfach nur sein typisches Lächeln und zieht wieder an seinem Joint.
Aus irgendwelchen Gründen erinnert Avery mich an Draco Malfoy. Benny scheint wohl sein Crabbe und Goyle zwei in eins zu sein.
Ich nicke den beiden kurz stumm zu und gehe dann zur Rampe.
Vielleicht wäre es Vorteilhaft meinen Helm zu tragen, doch ich habe ihn bei meinen Eltern vergessen. Wie immer finde ich den Begriff unpassend für sie.
Ich stelle mich oben an den Rand der großen Rampe und stelle mein Skateboard vor mich. Vorsichtig platziere ich einen Fuß auf der rauen Oberflächen und atme kurz durch. Dann stelle ich auch meinen zweiten Fuß auf mein Skateboard und rase die Rampe runter. Jegliche Gedanken verschwinden im Hintergrund und alles, was ich wahrnehmen kann, ist die Kälte des Herbstes und das Adrenalin, das durch meine Venen schießt und alles kunterbunt färbt. Ich würde am liebsten meine Augen schließen und für immer an diesem Gefühl festhalten, nur leider geht das nicht. Erstens, weil hier kleine Kinder auf Rollschuhen rumdüsen und zweitens, weil ich nicht mein ganzes Leben aus Skateboarden bestehen lassen kann. Obwohl es mir neben Gitarre spielen und Singen wahrscheinlich den meisten Spaß im Leben bereitet. Es ist immer mein Ventil. Wenn ich Streit mit meinen "Eltern" habe, traurig bin oder sonst irgendwas, kann ich daran immer meinen Frust auslassen.

Sorry not sorry deutschWo Geschichten leben. Entdecke jetzt