"Wie läuft es denn mit der Nachhilfe, Colin? Habt ihr das am Wochenende mal ausprobiert?"
Die Frage von Herr Chung traf mich nicht unvorbereitet, denn ich hatte schon damit gerechnet, dass er nachfragen würde, allerdings würde ihm die Wahrheit wohl nicht wirklich gefallen. Es gab nämlich keine Nachhilfe.
Das ganze Wochenende über hatte ich Noah kaum gesehen und auch nicht mit ihm gesprochen. Nachdem am Freitag alles irgendwie eskaliert war und ich ihm meine Meinung gesagt hatte, war er noch weniger im Zimmer als zuvor. Ich hatte nicht mit so einem Ausbruch bei mir gerechnet, aber ich konnte es nicht zurückhalten. Sein Verhalten konnte so einfach nicht weitergehen. Dieses ständige hin und her konnte ich nicht mehr länger mitmachen. Als wir Freitagabend endlich ein normales Gespräch geführt hatten und er mir sogar ein paar Kleinigkeiten über sich und seine Familie erzählt hatte, da hatte ich wirklich geglaubt, dass wir endlich auf einem guten Weg waren und vielleicht doch miteinander auskommen würden. Leider hatte Noah das komplett anders gesehen und als es ihm wieder zu persönlich wurde, wollte er wieder zumachen und nicht mehr reden. Genau dieses Verhalten, hatte dazu geführt, dass ich ihm meine Meinung gesagt hatte. Womit ich nicht gerechnet hatte, war wie wütend genau das Noah machen würde. Irgendwie waren wir uns durch diese Wut viel zu nah gekommen, denn er war mal nicht weggelaufen.
Noch immer konnte ich die Kälte spüren, die von ihm ausging und wenn ich meine Augen schloss, sah ich sein Gesicht wieder so nah an meinem, dass ich seinen warmen Atem auf der Haut spüren konnte. Seine Augen waren so dunkel gewesen, wie das Meer kurz vor einem Sturm oder wie der Himmel bei einem Gewitter. So viele Gedanken und Emotionen tobten hinter diesen Augen, wie die Wellen bei Sturm. Dieser Moment zwischen uns hatte sich in meinem Kopf eingebrannt und ich konnte diese wenigen Sekunden einfach nicht vergessen. Die Nähe zu ihm hatte sich wie kleine Stromschläge angefühlt und er war wie ein Magnet, dem ich mich einfach nicht entziehen konnte und der mich immer wieder in seine Nähe zog. Noch nie hatte mein Herz so schnell geschlagen. Ich verstand mich selbst nicht mehr. In diesem kleinen Augenblick, als ich seinem Blick standgehalten hatte, kam es mir so vor, als konnte ich hinter all der Wut den echten Noah sehen. Den, der kein Idiot war, sich aber vor dem Leben versteckte und lieber ein Schauspieler war, der alle anderen von sich fernhalten wollte. Er und alles was er tat sollte mir egal sein, doch das war er nicht. Irgendwie war Noah zu einem Rätsel geworden, dass ich wirklich lösen wollte, egal wie schwer es sein würde. Da konnte keine Matheaufgabe mithalten.
"Ja, also... läuft." Natürlich war das eine Lüge, aber ich wollte mir mein Scheitern nicht eingestehen. Noah hatte meine Hilfe für einen kurzen Moment angenommen, aber alles war irgendwie aus dem Ruder gelaufen, bevor ich ihm Mathe überhaupt erklären konnte.
Herr Chung lächelte erfreut. "Das freut mich sehr zu hören." Dann wanderte sein Blick zu Noahs leerem Platz. Natürlich war er nicht da. Er war den ganzen Morgen noch nicht in der Schule gewesen. "Wo ist er denn überhaupt? So langsam muss ich seine Eltern informieren, wenn er nicht bald regelmäßig im Unterricht erscheint."
Ich wusste nicht warum, aber bei diesen Worten schrillten meine Alarmglocken, denn seine Eltern waren für Noah sowieso ein sensibles Thema. "Noah ist... also..." Ich biss mir auf die Lippe, denn ich sollte das nicht tun. Er hatte es nicht verdient, aber mein Mund war schneller als mein Kopf. Noah versuchte nicht mal mit mir zu reden und seit Freitag ging er mir konsequent aus dem Weg. Alles was zwischen uns passierte, warf aber auch mich aus der Bahn und ständig machte ich mir Gedanken über alles und vorallem über ihn. Am Wochenende hatte ich kaum geschlafen und mich nur hin und her gewälzt, so, dass ich es sogar gehört hatte, als Noah lange vor Sonnenaufgang unser Zimmer verlassen hatte und am Freitag sogar um kurz nach Mitternacht. Zu gerne wollte ich wissen, wohin er immer verschwand.
"Noah ist?" Die fragende Stimme von Herr Chung riss mich wieder aus meinen Gedanken und ich erinnerte mich, dass ich noch einen Satz zu beenden hatte.
"Also... Noah ging es nicht so gut. Er ist im Internat geblieben." Ich war so ein schlechter Lügner. Als Schauspieler würde ich keinen Preis bekommen.
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Irgendwo Ankommen || Nolin
FanfictionDie Geschichte von Colin und Noah komplett neu und komplett anders erzählt. Colin und Noah kommen beide nach den Sommerferien als neue Schüler in das Internat des Albert-Einstein-Gymnasiums in Erfurt. Während Colin zwar offen für neue Erfahrungen un...