fünfzig

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Malu gibt ein Seufzen von sich und schließt dann wieder die Augen. Verständlich - ein Anfall alleine muss schon unheimlich anstrengend sein, aber gleich zwei nacheinander? Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich das anfühlt. Wahrscheinlich wie ein ziemlich intensives Workout.

Ich ziehe meine Jacke aus und lege sie etwas provisorisch über ihre Beine. Ihr wird ziemlich kalt sein. In diesem Moment höre ich Schritte hinter mir. Theo und kurz darauf Emma eilen auf uns zu.

Theo hockt sich auf den Boden. "Hey." Er streicht behutsam über Malus Wange, doch sie rührt sich nicht. Offenbar fällt sie gerade in den Tiefschlaf, der nach einem Anfall immer folgt. Ihr Gesicht entspannt sich ein wenig und ihr Atem geht tiefer. 

Theos Blick wandert erst zu meiner Hand auf Malus Arm, dann trifft er meinen. Vermutlich ist er eigentlich wütend auf mich, denn auch er wird mitbekommen habe, dass ich vor Malus Augen mit einer anderen rumgeknutscht habe. Das Gefühl von Scham macht sich in mir breit - wie konnte ich nur so dumm sein?

Doch in diesem Moment liegt so etwas wie... Erkenntnis in Theos Augen. Als würde er plötzlich irgendetwas verstehen, was er vorher nicht gesehen hat. 

Im nächsten Moment wendet er sich Emma zu, die etwas überfordert hinter uns steht. "Erzähl mal, was genau passiert ist.", fordert er sie auf.

"Sie hat Alkohol getrunken.", fängt Emma an. Theo gibt ein wütendes Geräusch von sich. "Nicht mit Absicht!", fährt sie daraufhin eilig fort. "Irgendwer muss was in die Cola getan haben, als sie in der Küche stand. Aber Malu hat es am Anfang nicht gemerkt, und dann war es schon zu spät."

"Das erklärt einiges.", murmelt Theo bitter. "Und dann?"

"Naja, wir saßen dann noch eine Weile hier, und dann hat sie den ersten Anfall bekommen. Der hat nicht lange gedauert, vielleicht so eine Minute. Danach wurde sie aber nicht wieder so richtig wach. Wir haben zwar geredet, aber wirklich da war sie nicht und sie hat nur einzelne Wörter gesagt. Kurz danach kam schon der zweite Anfall. Dann bin ich losgerannt."

Theo nickt. "Das hast du richtig gemacht. Mehrere Anfälle so dicht hintereinander können gefährlich werden." 

Er legt seine Finger an Malus Hals und tastet ihren Puls, dann nickt er. Sein Blick liegt nachdenklich auf seiner Schwester, er zögert. Ich werfe ihm einen Blick zu. "Notfallmedikament? Zur Sicherheit?", frage ich.

Schließlich nickt er zustimmend. "Ja, ist vielleicht besser." Auch wenn Malu das nicht mag - im Tiefschlaf ist sie jetzt so oder so. Und bevor es wirklich gefährlich für sie wird, ist das die sichere Variante. Wir können nun mal nicht in ihren Kopf schauen und wissen nicht, ob vielleicht noch ein weiterer Anfall kommt, wenn es schlecht läuft.

Ich öffne ihre Tasche und finde das Röhrchen mit dem Medikament zum Glück auf Anhieb. Dann drücke ich es Theo in die Hand. Er verabreicht Malu das Medikament mit einigen routinierten Handgriffen in die Wange.

"Und jetzt?", frage ich schließlich unsicher. Ich gehe nicht davon aus, dass Malu heute noch einmal zu sich kommt. Den Notruf zu wählen wäre aber auch unnötig. Auto fahren kann weder Theo, noch Emma, noch ich, dafür haben wir alle zu viel Alkohol im Blut.

"Ich rufe meine Eltern an.", sagt Theo und zieht sein Handy aus der Tasche. "Die werden nicht begeistert sein, aber es ist eben ein Notfall." Er entfernt sich ein paar Meter, während er mit seinen Eltern telefoniert. Emma kommt stattdessen zu mir und setzt sich auf den Boden. 

"Ich war gerade ganz schön überfordert.", sagt sie. In ihrer Stimme liegt Erschöpfung.

Ich blicke auf. "Ehrlich? Hat man nicht gemerkt." Sie wirkte zwar aufgeregt, aber hat trotzdem alles richtig gemacht. Abgesehen davon war es, soweit ich weiß, der erste Anfall von Malu, den sie miterlebt hat.

Emma zuckt mit den Schultern. "Ich bin froh, dass ich einfach funktioniert habe. Aber ich hatte ganz schön Angst und stand ziemlich unter Strom."

"Das kann passieren, dafür solltest du dir keine Vorwürfe machen.", sage ich ehrlich. "Es ist ja auch eine Ausnahmesituation, gerade wenn man das nicht gewohnt ist." 

Emma schaut mich vielsagend an. Erst verstehe ich nicht, was sie mir mit ihrem Blick sagen will - dann macht es langsam Klick. Diese Worte würde ich zu mir selbst niemals sagen. Mit mir selbst gehe ich, was das angeht, viel härter ins Gericht. Seit Wochen mache ich mich dafür fertig, dass ich ein Blackout hatte. Nur wegen meiner Selbstvorwürfe habe ich Theo und Malu angelogen und mit ihr Schluss gemacht. Weil ich mich selbst für einen Versager gehalten habe, nur weil ich einmal nicht funktioniert habe. In meinem Kopf rattert es. Meine Gedanken werden von Theo unterbrochen, der in diesem Moment wieder zu uns kommt.

"Papa macht sich auf den Weg. Ich schätze, dass er so in zwanzig Minuten hier sein wird.", sagt er. Er setzt sich auf die Hollywoodschaukel und atmet durch. "Ich würde vorschlagen, dass wir so lange einfach hier bleiben, oder was meint ihr?"

Ich nicke. "Klingt vernünftig." Hier ist es zwar etwas kalt, aber wenigstens ist nicht so viel los und Malu ist einigermaßen vor Blicken geschützt. Theo scheint einen ähnlichen Gedanken zu haben, denn er nimmt eine Decke von der Hollywoodschaukel und breitet sie über Malu aus.

Dann heißt es warten. Wir sind alle in unsere eigenen Gedanken versunken. Theo streichelt stoisch und mit leerem Blick über Malus Haare. Emma sitzt im Schneideritz auf dem Boden und knibbelt an ihren Fingern herum - jetzt spüre ich ihre Anspannung. Meine Hand liegt immer noch auf Malus Arm. Die Berührung fühlt sich gleichzeitig ungewohnt und vertraut an.

Die Minuten ziehen sich endlos dahin. Aus dem Haus dringt das Wummern der Bässe und das Grölen der feiernden Menschen, was sich im Kontrast zu der Stimmung hier absurd anfühlt.

Als irgendwann Theos Handy klingelt, zucke ich vor Schreck zusammen, so vertieft war ich in meine Gedanken. Malu reagiert überhaupt nicht - sie scheint wirklich in einer völlig anderen Welt zu sein.

"Wir kommen raus.", sagt Theo kurz angebunden ins Telefon. Dann wendet er sich an uns. "Papa steht vorne vor dem Haus. Ich fürchte, wir müssen durchs Haus, oder?"

Emma schüttelt den Kopf. "Nein, man kommt auch an der Seite vorbei. Vorne ist ein kleines Tor."

"Okay, sehr gut." sagt Theo. Sanft, aber entschieden rüttelt er an Malus Schulter. "Hey, Malu! Kurz wach werden."

Von Malu kommt gar nichts, keine Reaktion. Das Medikament hat sie offenbar komplett ausgeknockt. Eine Weile versucht Theo, Malu wach zu bekommen, doch es ist vergebens - sie ist völlig ohne Bewusstsein.

"Ich nehme sie.", sage ich schließlich - einerseits weil es offenbar aussichtslos ist, andererseits weil Malu mir unendlich Leid tut. Dann schiebe ich meine Arme unter ihren erschlafften Körper und hebe sie hoch.

Ich atme kurz durch. So schlimm die Situation gerade auch ist - am liebsten würde ich diesen Moment einfrieren. So nah wie jetzt war ich ihr schon lange nicht mehr. Malus Kopf liegt an meinem Arm, ihr Atem geht gleichmäßig und tief.

Theo nickt mir zu und geht dann voraus. Zum Glück ist draußen nicht allzu viel los und so schaffen wir es, ohne viel Aufmerksamkeit auf uns zu lenken, am Haus vorbei. 

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