Die zweite Idee

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Es ist kalt. Für die meisten Leute ist es einfach nur ein besonders kalter, verregneter Novembertag, aber für mich bedeutet es so viel mehr.

Unterschlupf. Wo schlafe ich, wenn es so kalt ist? Straße wäre reiner Selbstmord. Wärmere Orte wie Lüftungsschächte sind vermutlich besetzt - und mir fehlt sowohl die Energie als auch die Kraft, um um einen guten Platz zu kämpfen. Und alle anderen Orte, an die ich mich instinktiv zurückziehen würde, werden besonders in dieser Jahreszeit gut bewacht.

Der letzte Polizist, der mich vertrieben hat, hat sogar halbherzig mit seinem Stock nach mir geschlagen, weil ich nicht sofort aufgestanden bin.


Meine Geschichte ist weder besonders rührend, noch besonders tragisch. Es ist die Version, die man bei vielen Leuten wie mir findet, die jetzt auf der Straße leben: Es fängt mit einer kleinen Niederlage an. Die Freundin macht Schluss. Man wird gefeuert. Die Firma geht pleite.


Die Leute sagen immer, ein Fehler heißt nichts. Eine Niederlage ist nur ein weiterer Schritt nach vorne.


Sie verschweigen, dass nach vorne manchmal auch ein Tiefflug sein kann.


Die eine Niederlage führt zur nächsten. Eine Kette von Niederlagen wird ausgelöst. Alkohol macht alles schlimmer. Drogen erst recht.


Wie gesagt, meine Geschichte ist nicht glanzvoll. Sie ist genauso abgetragen wie das Leben, das ich jetzt führe: Nachdem ich vor drei Monaten aus meiner Wohnung herausgeworfen wurde, lebe ich auf der Straße. Meine Habseligkeiten bestehen aus einer Decke, die ich jetzt im Winter immer um meine Schultern gewickelt trage und die schon so schmutzig ist, dass man ihre ursprüngliche Farbe nicht mehr erkennen kann, einer eingedellten Thermoskanne und diversen anderen nützlichen Dingen - unter anderem einem Behälter für das wenige Geld, das ich zusammenkratzen kann.


Die ersten Wochen waren das Schlimmste. Ich habe mich dreckig und unwohl und unbehaglich gefühlt, bei allem was ich tat, und dazu kamen die Blicke der Leute. Bestenfalls wenden sie den Kopf ab, wenn sie an mir vorbeigehen. Schlimmstenfalls beleidigen sie mich. Merkwürdig, dass ich zu ihnen gehört habe, als ich noch eine Wohnung besaß - und merkwürdig, dass ich inzwischen selbst anfange zu glauben, dass ich kein Mensch mehr bin. Dass ich weniger bin als das. Wochen und Monate von Ignoriert werden und gemurmelten Beschimpfungen, und mein Selbstwertgefühl verblasst so sicher wie die Muster auf meiner Decke.


Levi - meine Ex - meinte in den letzten Wochen unserer einst glücklichen Beziehung, dass meine Naivität mich in den Ruin treiben würde.


Ich argumentierte damals einfach, meine Naivität wäre in Wirklichkeit guter Glaube, aber in der letzten Zeit beginnt selbst diese Überzeugung zu schwanken. In der Kälte und in der Einsamkeit verlieren die meisten ihre Hoffnung - und stattdessen kommt das, woran man sich viel einfacher klammern kann: Die Bitterkeit. Die Bitterkeit, wenn man erkennt, wie falsch diese Welt ist. Das Haifischlächeln, mit denen sie uns begegnet - falsch. Das Glück, das sie uns verspricht - gelogen. Das Licht am Ende des Tunnels - in Wirklichkeit nur der grelle Schein der Taschenlampe von der Nachtwache, die abends schlecht gelaunt durch die Gassen schlendert.


Aber ich wäre nicht ich, wenn ich nicht naiv wäre. Ich bin mir irgendwie ziemlich sicher, dass ich diese Charaktereigenschaft von meiner gutgläubigen Mutter geerbt habe. Seltsam, denn aus dem Mund der Frau mit dem blauen Auge, welches mein Vater ihr verpasst hatte, klangen die Worte: "Du musst immer an das Gute in den Menschen glauben, Alexander" nicht besonders überzeugend - doch das kleine Kind, wie ich war, hat es ihr immer geglaubt.

ZoeyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt