"... Eine Idee, wie wir hier rauskommen?"
Jiang Chengs Blick war auf das Desaster vor sich gerichtet, welches den Ausgang blockierte. Er spürte die Schamesröte auf seinen Wangen brennen und war froh, dass Wei Wuxian es in dem spärlichen Licht – und unter dem ganzen Dreck ohnehin – nicht bemerken würde.
Lange hatten sie in ihrer Umarmung verharrt. Bis die Tränen längst versiegt waren und die Gemüter sich beruhigt hatten. Bis sich Scham in seine Brust schlich und er begonnen hatte zu hoffen, Wuxian möge doch bitte die Atmosphäre anständig deuten und ihn freigeben. Natürlich konnte man bei diesem Querschläger auf sittliches Verhalten lange warten, und so wurde aus Jiang Chengs peinlicher Berührtheit ein ausgewachsenes Im-Boden-Versinken-Wollen, so dass er den anderen schließlich selbst mit einem gemurmelten "Jetzt ist aber gut! Hast du immer noch keinen Anstand?" sacht von sich drückte. Für einen kurzen Moment sah er noch das amüsierte Funkeln in den Augen seines Bruders, dann hatte er den Blick bereits abgewandt.
'Bruder' ...
Es fühlte sich an wie ein Traum, ein weiteres seiner Wunschdenken. Sollte er sich tatsächlich erlauben dürfen, wieder so von Wei Wuxian zu sprechen? Und wenn ja, zu was für Brüdern machte sie das jetzt? Jiang Cheng konnte nicht leugnen, dass da plötzlich eine Nähe zwischen ihnen war, eine Vertrautheit, wie er sie seit vielen Jahren nicht mehr gespürt hatte. Und doch war sie wie ein verwundetes Reh, das in seinem langen, traurigen Leben zu viel Leid hatte erfahren müssen, um nun noch einmal bereitwillig seinen Kopf nach der dargebotenen Hand ausstrecken zu können. – Vor allem, nachdem es besagte Hand fürchterlich gebissen hatte. Mehrmals. Wie könnte er ihre dargebotene Wärme derart schamlos ausnutzen? Wenn Jiang Cheng daran dachte, was er alles angerichtet hatte! Gerade jetzt erst wieder angerichtet hatte! Wie er Wei Wuxian zugerichtet hatte, beinah getötet hätte in seiner blinden Wut-
Er riss seine Gedanken gewaltsam aus dem Strudel aus Übelkeit, Angst und Selbsthass. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, sich damit auseinanderzusetzen. Statt in Selbstmitleid zu versinken, sollte er zusehen, wie er seinen Bruder hier rausschaffen und seine Verletzungen versorgen lassen konnte. Genauso wie Jin Lings. Sie waren nun bereits seit einer ganzen Weile hier eingeschlossen, so lange, dass ihm sogar das Atmen allmählich schwerer fiel und sich erste Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Das bedeutete, dass es in der Richtung, aus der das Yao gekommen war, keinen Ausgang geben dürfte. Jin Ling sollte noch immer in Ordnung sein, sonst hätte er Veränderungen an der Barriere, mit der er ihn umgeben hatte, gespürt. Aber es ließ ihm dennoch keine Ruhe.
Jiang Cheng ließ einen Strom Qi durch seine Hand und in die Geröllwand fließen, um ihre Dicke und Beschaffenheit zu ergründen. Aus dem Augenwinkel konnte er wahrnehmen, wie Wei Wuxian dasselbe tat.
Der Einsturz war mehrere Meter breit. Es war nicht unmöglich, sich durch den Fels zu sprengen, aber es war aufwendig und er fürchtete, dass sich weitere Teile der Felsdecke über ihnen lösen könnten.
"Wir sollten unsere Kräfte koordinieren", erklang Wei Wuxians Stimme neben ihm.
Jiang Cheng nickte.
"Dein Qi ist besser auf direkte Angriffe ausgerichtet. Ich stabilisiere die Decke."
"Ich habe einige Talismane dabei, die hierfür ganz nützlich sein könnten. Das ist eine gute Gelegenheit, sie endlich auszuprobieren."
Jiang Chengs Augenbraue zuckte in die Höhe.
"'Auszuprobieren'?"
"Nichts Gefährliches", winkte Wei Wuxian ab. "Vertrau mir. Aber vorher ..." Und damit drehte er sich vollends zu Jiang Cheng um und musterte diesen von oben bis unten, wobei sein Blick schließlich an dem verletzten Bein verweilte. "... würde ich mir gern dein Bein ansehen."
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Bruder
FanfictionKnapp ein halbes Jahr war seit dem Kampf gegen Jin Guangyao im Guanyin-Tempel vergangen und noch immer waren viele Probleme der Vergangenheit nicht aufgearbeitet. Vor allem Jiang Cheng, eigenbrötlerisch und allein mit sich und seinen Gedanken am Lot...