Zwei 16-Jährige auf der Flucht vor ihren Vätern. Auf der Flucht vor der Meinung anderer. Auf der Flucht vor den Fäusten. Auf der Flucht vor sich selbst.
Es war erschreckend, wie ähnlich wir einander waren. Wie ähnlich unsere Welten waren, aus denen wir entkommen wollten. Hätte ich eine Wahl, dann hätte ich ihm mein Herz geschenkt. Es in seine schmalen Hände gelegt und ihn mit all meiner Liebe überschüttet. Ich wäre mit ihm weggelaufen. Ganz weit weg. Dorthin, wo uns die Wut der Welt nicht mehr einfangen konnte.
Aber ich konnte es mir nicht aussuchen. Und er auch nicht. Deshalb klammerte er sich an seinen Traum und ich mich an einen Menschen, der meine Gefühle niemals erwidern würde. Es tat weh. Schrecklich weh.
Wir belogen unsere Familien. Und uns selbst. Wir versuchten den Kopf über Wasser zu halten, obwohl wir längst ertrunken waren.
„Hast du jemals daran gedacht?"
Alex strich sich eine blonde Strähne hinter das Ohr und sah zu mir rüber. „Ans Sterben oder an Sex?"
„Beides."
„Ja."
„Ans Sterben oder an Sex?"
„Beides."
Ich nickte leicht und griff nach einer Frühlingsrolle.
„Und du?"
„Ich auch." Ich biss ab. Sie war kalt, aber das war mir egal.
„Mit einer Frau?"
„Nee."
„Ich auch nicht."
Wir waren uns einig. Wir waren uns immer einig. Alex und ich. Vielleicht hatte es uns deshalb beide an diesen Ort geführt. Hier waren alle irgendwie verrückt und merkwürdig und einzigartig. Niemand entsprach wirklich der Norm. Nicht so wie in der Schule. Dort hatte ich mich nie wohl gefühlt. Und Alex auch nicht. Das hatte er mir erzählt, als wir beide hier angefangen hatten. Am Theater. Er als Make-Up Artist und ich als Schneider. Wir lernten es und es machte viel mehr Spaß als Schule. Sehr viel mehr Spaß.
Anfangs wusste ich nicht, was ich von Alex halten sollte. Wie ich ihn ansprechen sollte. In ihm verschwammen irgendwie Junge und Mädchen. „Ist mir egal", hatte er gesagt. „Ist das nicht das gleiche?" Er hatte mir die Wahl gelassen, wie ich ihn ansprechen wollte. Ich mochte seine Einstellung.
„Wann gehst du nach Hause?", fragte er mich. Wir waren die letzten im Theater. Wie immer. Wir zögerten es so weit hinaus wie möglich. Keiner von uns wollte wirklich nach Hause gehen.
„Am liebsten gar nicht."
Er nickte nur und schob sich eine Ladung kalter Nudeln in den Mund.
„Vielleicht übernachte ich einfach hier. Dann ist der Weg morgen nicht so weit."
Er lachte. „Dann darfst du aber wohl nie wieder nach Hause."
„Nicht schlimm." Seufzend legte ich mein Kinn auf dem Knie ab. „Ich halte es dort nicht mehr aus. Aber meine Kohle reicht ja kaum für die Fahrkarte."
„Scheiß Theater."
„Scheiß Theater."
Wir meinten es beide nicht so. Und wir hatten schon vorher gewusst, dass wir hier nicht so viel Geld bekommen würden wie woanders. Aber das war egal gewesen. Schließlich konnten wir hier für ein paar Stunden wir selbst sein, bevor wir in unsere Rolle zurück schlüpften.
Meine Eltern dachten, ich würde die Ausbildung bei einem vernünftigen Herrenschneider machen. Tatsächlich wurde meine Bewerbung dort auch angenommen. Ich hatte die Wahl gehabt. Sicherlich hätte es mir dort auch mehr gefallen als in der Schule. Jedoch nicht mehr als hier. Das würden meine Eltern allerdings nie verstehen. Mein Vater würde das niemals verstehen. Deshalb hatte ich gelogen. Es war besser so. Manchmal war Lügen eben der unkomplizierte Weg. Ich mochte es unkompliziert.
„Scheiße, ich krieg echt 'nen Einlauf, wenn ich mich nicht gleich auf den Weg mache." Alex rappelte sich auf und räumte das Essen zusammen. Die Dielen knarrten, wenn er so hin und her lief.
Ich beobachtete seine Füße, hatte keine Lust mich zu bewegen. Aber mir ging es nicht anders als ihm. Mein Vater würde Fragen stellen, wenn ich nach ihm nach Hause käme. Darauf hatte ich noch weniger Lust. „Ich hasse mein Leben..."
„Hass ist ein schreckliches Wort, Raffi." Alex bewarf mich mit meiner Jacke. „Komm!"
Schwerfällig erhob ich mich vom alten Holzfußboden, während ich mir meine Lederjacke überzog. „Ich verabscheue mein Leben."
„Schon besser." Mein bester Freunde grinste mich an und patschte mir seine Hände an die Wangen. „Bis morgen, Raffi."
Dann drückte er mir einen kurzen Kuss auf die Lippen und verschwand.
Ja, wenn ich die Wahl hätte, dann würde ich ihn lieben wollen.
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Wolke null [boyxboy]
Teen FictionDer 16-jährige Raffaele hat es nicht immer leicht. Seine Brüder gehen ihm auf die Nerven und dem Vater kann er es auch nicht recht machen. Und dann ist da noch Tommy... Schweigen, Lügen und die erste Liebe. Dies ist ein Einblick in die Vergangenheit...