Es war vergnüglich, mit Alexander zu spazieren. Als sie die Enge des Ateliers gegen die Weite der Stadt tauschten, fühlte es sich für Florentine an, als schweiften ihre Gedanken mit den Wolken dahin. Obwohl sie die Intimität genossen hatte, so war sie jetzt froh, wieder unter Menschen zu sein und sich alltäglichsten Themen zuzuwenden. Vorbeispazierende grüßten Alexander höflich und ließen auch sie als seine Begleitung nicht aus. Es war ihr, als schliche sie perfekt getarnt durch das Reich ihres Feindes. Und alle hielten sie für ihresgleichen. Der Unterschied zwischen den Ständen war kleiner, als Florentine es bisher gesehen hatte. Schon ein Kleiderwechsel, die richtige Begleitung und höfliche Worte machten aus ihr eine Adlige. Ob Laurenz diese Verwandlung ebenfalls schaffen würde? Sie zweifelte daran. Zwar war er zu Galanterie in der Lage, so wie sie es in ihrem schauspielerischen Tun einstudiert hatten, aber ihm würde der Wille fehlen, dieses Theater durchzuhalten. Insbesondere wenn es um Frauen ging. Alexanders Verhalten hatte ihr klargemacht, dass ein Edelmann jeden intimen Kontakt vor der Ehe vermied. Laurenz, hingegen pflegte es jede Frau zu küssen, die ihm auch nur mit einem Schmollmund ihre Zuneigung verdeutlichte.
Sie bogen auf die Steindammstraße ab, die sie auf direktem Wege zur Seidenweberstraße führen würde. Der Tag neigte sich dem Abend zu und Florentine beschleunigte ihre Schritte. Heute stünde ihr noch eine Vorstellung bevor und sie wollte es nicht ihrem Bruder gleichtun und zu spät auftauchen. Während sich ihre Gedanken schon um ihr eigenes Leben drehten, galten Alexanders noch dem ihrigen. Er machte des Öfteren halbernste Versuche, ihre Gründe zu erraten, warum er sie nicht bis nach Hause begleiten konnte. Sie war fast versucht, ihn mitzunehmen. Aber so viel Schneid brachte sie noch nicht auf. Sie konnte ihn nicht auf die Probe stellen. Zu zerbrechlich war das Band, das sie miteinander geknüpft hatten.
Florentine wünschte sich, in ihn hineinzusehen oder in die Zukunft. Wüsste sie mit Sicherheit, dass sie unverletzt landen würde, wenn sie den Sprung wagte, dann zögerte sie nicht. Doch er hatte ihr keine eindeutige Antwort gegeben. Selbst als sie ihn mit der Frage provoziert hatte, ob er sie auch als Bäuerin nähme. Seine Entgegnung war elegant gewesen, durchaus, aber er hatte eigentlich in charmanter Weise ausgedrückt, dass er es als unmöglich betrachtete, dass sie nicht seinem Stand entsprach. Endlich bogen sie auf die Einkaufsstraße der Adligen ein und Florentines Zweifel zerstoben. Ein weiterer Tag war gut vergangen. Es war, als fiele die Last einer schweren Prüfung von ihr ab. Jedes Wort musste bedacht sein. So vertraut sie mit Alexander war, so konnte sie doch nicht mit ihm sprechen, wie sie es mit Laurenz getan hätte. Würde sie sich zu sehr fallen lassen, fiele die Maskerade von ihr ab wie das Schuppenkleid einer Schlange.
„Ich nehme an, ich soll Euch wieder an unserem üblichen Treffpunkt verabschieden?", fragte Alexander, nachdem er eine Weile, ob ihrer dürftigen Auskünfte auf seine Fragen, geschwiegen hatte.
„Gleich neben Eurem liebsten Ballkleid", erwiderte Florentine und konnte sich ein gehässiges Grinsen nicht verkneifen.
„Was werden wir nur machen, wenn sich jemand dazu entscheidet, dies überteuerte Stück Stoff zu erwerben?"
„Vielleicht soll dieser Tag in die Geschichte eingehen, da ihr mich nach Hause begleiten dürft."
Alexanders Augen glitzerten vergnügt. „Bringt mich nicht in Versuchung, Mademoiselle." Er setzte gerade zu einem Handkuss an, da sah Florentine eine vertraute Gestalt in Begleitung einer anderen auf sie zukommen.
Elsa war in ein sandfarbenes Kleid mit breiter Schleife um die Hüfte gekleidet. Ihre Mutter, wie Florentine annahm, trug einen mehrlagigen türkisfarbenen Rock, darüber ein mit Stickereien verziertes Mieder unter einer hüftlangen Weste. Auf ihrem Kopf thronte ein mit Chiffon und Schleifen geschmückter Hut.
„Alexander, ich dachte, du arbeitest in deinem Atelier?" Seine Mutter legte den Kopf schief und begutachtete mehr Florentine als ihren eigenen Sohn.
Alexander drehte sich zu ihr um und neigte das Haupt. „Mutter, was für eine unerwartete Freude. Darf ich Euch Mademoiselle Freymar vorstellen?"
Florentine machte einen leichten Knicks und Madame Arlings Gesicht hellte sich in freudiger Erregung auf.
„Fräulein Freymar, das ist meine Mutter, Gräfin von Arling. Meine Schwester kennt Ihr ja bereits."
„Freymar ... Seid Ihr neu in der Stadt?", fragte seine Mutter, worauf Alexander sich gleich einmischte.
„Mutter, bringt Sie nicht sogleich mit Eurer Fragerei in Verlegenheit."
„Ich bitte dich." Sie sah von ihm zu Elsa und wieder zurück. „Ich muss ja fragen, nachdem meine zwei Kinder mich völlig im Dunkeln lassen."
„Es ist mir eine Freude, Euch kennenzulernen, Madame", sagte Florentine höflich.
„Ich muss Euch sagen, Teuerste, ich bin ehrlich überrascht. Ich habe meinen Sohn nie in Begleitung einer Frau gesehen. Ich frage mich, ob Ihr seine erste seid oder ob er sie bisher nur gründlicher versteckt hielt?"
„Ich habe Euren Sohn erst kürzlich kennengelernt, das müsst Ihr wohl mit ihm ausdiskutieren."
„Was treibt euch beide hierher?", wechselte Alexander das Thema.
„Falls es dir entgangen ist, der Ball der Dingelfurths findet in zwei Tagen statt. Ich wollte mich persönlich davon überzeugen, dass Elsas Kleid ihrer offiziellen Einführung in die Gesellschaft gerecht wird."
„Ich bitte um Entschuldigung, die Damen. So gerne ich mich weiter mit Euch unterhalten würde, ich muss doch langsam zurück", sagte Florentine.
„Du begleitest Sie also nach Hause, Alexander?" Seine Mutter sah ihn mit erhobenen Brauen an.
„Mein Bruder erwartet mich gleich um die Ecke, sicher wartet er schon auf mich", antwortete Florentine eilig, worauf Elsas Gesicht einen vorfreudigen Ausdruck annahm.
„Und ich dachte bereits, ihr hättet den Tag allein verbracht", sagte Madame Arling amüsiert.
Florentine und Alexander setzten ein gezwungenes Lächeln auf. Elsa wusste sich das Lachen kaum zu verkneifen. Ihre Mutter bedachte sie mit einem gestrengen Seitenblick. „Nun, meine Tochter scheint es kaum erwarten zu können. Werdet Ihr auf dem Ball der Dingelfurths erscheinen, Teuerste? Ihr habt doch sicher eine Einladung erhalten?"
„Sie ist meine Begleitung", sagte Alexander vorschnell, worauf er einen sträflichen Blick Florentines erhielt, den er mit einem schelmischen Grinsen erwiderte.
„Das freut mich zu hören. Wir müssen unbedingt einmal miteinander reden. Alexander hatte bisher nur üble Worte für die langweilige, stickende und Lieder trällernde Damenschaft, wie er sie zu schimpfen pflegte. Sie müssen eine einzigartige Frau sein. Alexander, du musst sie zum Essen einladen."
Sie verabschiedeten sich höflich voneinander und Alexander tat es ihnen gleich, nachdem Florentine versichert hatte, dass sie den Weg bis zu ihrem Bruder allein bewältigen konnte. Sie besprachen noch den Ball, zu dem zu kommen Alexander sie genötigt hatte. Er wollte sie wieder abholen, da sie es pflegte, ohne Geleit durch die Stadt zu wandern. Aber Florentine beteuerte, in Begleitung zu erscheinen, so wie es sich für eine Dame geziemte.
Aufgeregt wanderte sie die Seidenweberstraße herunter. Sie hatte seine Mutter kennengelernt und war froh darüber, dass Alexander verhindert hatte, sie allzu sehr auszuquetschen. Ihm mochte sie ihre Herkunft verschweigen, doch seine Eltern würden es als pietätlos betrachten, wenn sie sich derartig verschloss. Wie konnte sie die Einladung zum Essen ablehnen, ohne dass Alexander sich dadurch versetzt fühlte?
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Tanz der Stände
Historical FictionTeil 1 der Tanz-Trilogie Auf der Bühne ist Florentine eine Königin, in den Straßen nur eine Frau des niedersten Standes. Die junge Zirkusartistin sehnt sich nach einem Leben fern des Trubels in den sicheren Armen einer Liebeshochzeit. Als Florentin...