10. Tas'Hira 2130
„Glaubst du wirklich, es ist eine gute Idee, Mutters alte Schuhe zu verbrennen?", murmelte Boll zweifelnd.
Vier Augenpaare starrten skeptisch auf die alten Schuhe, die er da in der Hand hielt. Eigentlich waren es immer noch schöne Schuhe, wie Trell fand. Aus robustem, rotem Leder mit eingestanzten Blumen und einem kleinen Absatz an den Hacken. Sein Vater hatte Mal erzählt, dass ihre Mutter darin immer zur Wintersonnenwende getanzt hätte. Sie wäre bestimmt böse, wenn sie davon erfahren würde.
„Ich weiß nicht, ob das gut für den Ofen ist", führte Boll seine Überlegungen weiter aus, während Grall, zwei Jahre jünger und damit der Zweitälteste der vier Brüder, ihm die Schuhe aus der Hand nahm, um sie selbst auch noch mal zu begutachten.
„Hmm – da ist Leim dran", überlegte Grall zweifelnd. Mit seinen zehn Jahren hatte er schon eine Menge Sachen aus Spaß an der Freude verbrannt. Schuhe waren bisher aber nicht dabei gewesen.
Boll schob die jetzt freien Hände fröstelnd in die Hosentaschen und zuckte die Achseln. „Hiller hat gesagt, dass das kein Problem ist. ‚Schuhe brennen wie Zunder' hat er gesagt. Und bis Vater mit dem Brennholz zurück ist, dauert es noch ein paar Stunden."
Wie hatte es nur so schnell kalt werden können? Gestern hatte Trell doch noch barfuß diese hübschen weißen Steinchen am Flussufer gesammelt. Wenn seine Fingerspitzen danach tasteten, konnte er sie noch immer in den Taschen seiner Jacke spüren, die er sich übergezogen hatte. Doch die Kälte konnte sie nicht fernhalten. Daher war Vater vor einigen Stunden mit Pferd und Hänger aufgebrochen um ihre leeren Brennholzvorräte aufzufüllen. Doch es würde noch lange dauern, bis er zurück sein würde.
Fröstelnd kuschelte sich Trell enger an Fill, mit dem er sich eine Decke teilte. Wortlos legte dieser einen Arm um den Jüngsten der vier Brüder, um noch ein bisschen mehr seiner kaum vorhandenen Wärme abzugeben.
Es war wirklich ein scheußlich nass-kalter Herbstmorgen.
Fast so kalt, wie der Frühlingsmorgen, an dem er seine Mutter das letzte Mal gesehen hatte. Trells Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Die Erinnerung tat weh. Im Gehen hatte sie seine wachen Augen gesehen, die jedem ihrer Schritte gefolgt waren. Dabei hatte er sie in dem diffusen Licht, das immer der Morgendämmerung voraus ging, kaum sehen können. Doch ihre lächelnden Lippen, als sie die Tür geöffnet hatte, standen ihm klar vor Augen. Denn darüber hatte sie ihren Finger gelegt, um ihn zu bedeuten, leise zu sein. Er hatte keinen Mucks von sich gegeben, hatte sie nur angesehen. Dann war die Tür ins Schloss gefallen und die Dunkelheit war erneut in den kleinen Schlaf-Wohnraum ihres Hauses eingekehrt.
Seitdem war ein halbes Jahr vergangen.
War es seine Schuld, dass sie nicht zurückgekommen war?
Er wollte nicht, dass sie länger böse auf ihn war. „Können wir nicht etwas anderes nehmen?", flüsterte Trell schließlich leise in das anhaltende Schweigen hinein.
„Ja, was denn?", herrschte Boll den fünfjährigen gereizt an. „Draußen ist alles feucht. Und wir können ja schlecht unsere Kleider oder Vaters Werkzeug in den Ofen schmeißen."
„Können wir nicht Holger fragen?", schlug Fill leise vor, woraufhin Grall den Kopf schüttelte. „Der hat doch auch nichts. Vater holt doch auch Holz für ihn was mit."
Wieder richteten sich alle Blicke auf die roten Schuhe in Gralls Händen.
Boll seufzte geschlagen. „Na gut. Probieren wir es."
Noch während Grall sich dem Ofen nährte, sprang Trell mit einem plötzlichen Schrei auf und langte nach den Stiefeln. „Ich will aber nicht Mamas Schuhe verbrennen!"
Reflexartig hielt der Größere seine Hände in die Höhe. Trotzdem versuchte Trell mit vergeblichen Sprüngen da ranzukommen.
In dem Moment stürzten sich Boll und Fill auf ihren jüngsten Bruder, um ihn festzuhalten. Das darauf folgende Handgemenge war kurz und laut. An dessen Ende wand sich Trell am Boden und versuchte verzweifelt den harten Griff seiner Brüder zu entkommen, doch vergeblich.
„Aber wenn wir ihre Schuhe verbrennen, wird sie ganz furchtbar böse sein!", schluchzte der Fünfjährige hilflos auf.
Boll blinzelte. Doch das konnte nicht über die Tränen hinwegtäuschen, die sich auch in seinen Augenwinkeln breit machten. Trotzdem war seine Stimme hart. „Quatsch. Es ist ihr scheißegal. Sie kommt nicht zurück!"
Trell schrie auf und wehrte sich noch verbissener, doch der Griff seiner Brüder war unerbittlich. „Ich will aber nicht!"
„Nun mach schon, Grall!", herrschte Boll seinen Bruder an, der das ganze Schauspiel unschlüssig angestarrt hatte. Trell schrie noch lauter, doch in seinen Ohren übertönte das nicht die Ofentür und den schweren Rums mit dem die roten Schuhe im Feuer landeten.
Augenblicklich brach Trells Schreien ab und eine gespenstische Stille breitete sich zwischen den vier Brüdern aus.
Dann zischte der Ofen bedrohlich. Alle vier Augenbrauen richteten sich auf den schmalen, verglasten Schlitz in der Ofentür, durch den man die Schuhe und die kleinen Flammen, die begannen an ihnen hinaufzuzüngeln, geradeso noch erkennen konnte.
Trell schauderte. Von der Kälte spürte er nichts mehr. Nur noch dumpfe Taubheit, die sich über seinen ganzen Körper zu legen schien, während es noch immer im Ofen zischte.
Und dann knallte es. Immer wieder.
„Das muss der Leim sein", murmelte Grall.
Doch weder das noch die sich langsam ausbreitende Wärme machten das monotone, laute Wummern besser. Selbst dann noch, als schwarzer dicker Rauch ihnen die sicht versperrte, bevor er durch den Schornstein abzog, konnten die vier Kinder ihren Blick nicht von dem Schlitz in der Ofenluke wenden. Immer wieder tauchten die roten Schuhe auf, während sie von der Hitze krachend an die eisernen Wände geschleudert wurden, als würden sie ein letztes Mal tanzen.
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Lichtis Quatschecke:
Die Idee zu diesem One Shot bekam ich, als mein Vater mir mal erzählte, dass er jung und ahnungslos, wie er damals war, ein Paar alte Schuhe in den Ofen geschmissen hatte– und es kurz darauf sehr bereute, weil es nicht nur laut war, sondern quasi auch die ganze Straße eingenebelt hat. xD
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Tropfen im Regen
RandomDas ist eine Sammlung an One Shots, deren Protagonisten Nebencharaktere aus meiner Hauptgeschichte "Des Wassermanns Weib" sind. Das schicke Cover hier stammt von der wundervollen @KreativVanessa. Noch einmal vielen Dank dafür!