Vergangene Woche hat das Bundesverfassungsgericht sein Urteil in der Frage verkündet, inwieweit Musiker kurze Stücke anderer Künstler für eigene Werke benutzen dürfen. Bislang war das – ohne explizite Einwilligung – nicht möglich. Die Düsseldorfer Elektropioniere von Kraftwerk waren gegen den Musikproduzenten Moses Pelham vorgegangen, weil dieser einen zwei Sekunden langen Schnipsel eines ihrer Songs benutzt hat, um damit einen eigenen Song zu erschaffen. Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes gegen ihn musste Pelham das Stück zurückziehen.
Das Verfassungsgericht entschied nun, dass solche Benutzung unter gewissen Voraussetzungen doch erlaubt sein soll – ein Sieg für die Remix-Kultur und die moderne Pop- und Dance-Musik, die stark von Samples lebt. Die Kunstfreiheit sei berührt, durch dieses Verbot sei faktisch eine ganze Musikrichtung behindert, so das Gericht. Das Verfahren wurde an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen, der nun in diesem Sinne entscheiden soll.
Der Urteilstext des Bundesverfassungsgerichts ist hochspannend. Dort heißt es zum Beispiel: Es »gebietet die Eigentumsgarantie … nicht, dem Tonträgerhersteller jede nur denkbare wirtschaftliche Verwertungsmöglichkeit zuzuordnen. Vielmehr ist es Sache des Gesetzgebers, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen; er muss von Verfassungs wegen nur sicherstellen, dass das, was dem Leistungsschutzrechtsinhaber ›unter dem Strich‹ verbleibt, noch als angemessenes Entgelt für seine Leistung anzusehen ist.« Damit stellt das Verfassungsgericht klar, dass ein Künstler nicht pauschal jede Art der Nutzung seines Werks untersagen darf. Es darf sehr wohl erlaubt sein, seine Songs in einer fairen Art und Weise zu nutzen, wenn dem Künstler noch eine angemessene Entlohnung seiner Arbeit verbleibt. Die Grenzen dafür darf der Gesetzgeber festlegen.
Wir alle stehen auf den Schultern von Giganten. Jede Erfindung, jedes Werk bedient sich gewisser Ideen, Teile und Konzepte von Erfindungen und Werken zuvor. Das ist künstlerischer, kultureller, wissenschaftlicher Fortschritt. Eine derartig weite Auslegung des geistigen Eigentumsbegriffs, dass auch kleinste Teile erlaubnis- und vergütungspflichtig sein sollen, behindert diese Fortentwicklung. Man stelle sich vor, der erste Erfinder des Autos hätte den folgenden Autoherstellern die Nutzung des Lenkrades untersagt: Eine Autoindustrie wäre nie entstanden.
Ein Künstler muss in einen künstlerischen Dialog mit vorhandenen Werken treten können, die durch ihre Veröffentlichung nicht mehr dem Urheber alleine gehören, sondern in den gesellschaftlichen Raum getreten seien, urteilt das Gericht. Es muss aber ein ausreichender Abstand zum Ursprungswerk eingehalten werden. Hip-Hop und moderne Dance-Music nutzen Sampling intensiv. Es gibt eine ganze Remix-Kultur, die auf vorhandenen Werken aufbaut und daraus etwas Neues, Eigenständiges schafft. Als Rohmaterial für neue Lieder kann ein Musiker nun Teile von Werken der Künstler vor ihm verwenden, wenn er dies fair tut, also den kommerziellen Erfolg des Vorgängers damit nicht behindert. Damit wird einem Auswuchs des »geistigen Eigentums« Einhalt geboten.
Doch auch ein anderer Auswuchs könnte vom Urteil berührt sein: das Leistungsschutzrecht für Presseverleger. So sagt das Gericht: »Der Grund dafür, dem Tonträgerhersteller ein besonderes gesetzliches Schutzrecht zu gewähren, war nicht, ihm Einnahmen aus Lizenzen für die Übernahme von Ausschnitten in andere Tonaufnahmen zu sichern … Der Schutz kleiner und kleinster Teile durch ein Leistungsschutzrecht, das im Zeitablauf die Nutzung des kulturellen Bestandes weiter erschweren oder unmöglich machen könnte, ist jedenfalls von Verfassungs wegen nicht geboten.« Doch genau das tut das Leistungsschutzrecht für Presseverleger: »Snipplets«, also kleine Textauszüge, die zum Beispiel Suchmaschinen als Textanreißer in ihren News-Suchergebnissen benutzen, sind erlaubnis- und vergütungspflichtig. Die Verleger berufen sich auf ihre verfassungsmäßig garantierten Eigentumsrechte, und der Gesetzgeber hat die Nutzung solcher auch kurzer Textauszüge lizenzpflichtig gemacht. Damit befindet sich aber dieses Leistungsschutzrecht in klarem Widerspruch zum Bundesverfassungsgerichtsurteil: Es darf in Analogie zu diesem Urteil gerade eben nicht um das Generieren von Einnahmen bei Übernahme von Textausschnitten gehen, und die Nutzung dieses kulturellen Bestandes darf dadurch nicht erschwert werden. Das Leistungsschutzrecht für Presseverleger steht im Lichte dieser Entscheidung auf wackligen Beinen.
Dieser Artikel erschien am 08. Juni 2016 als Gastkommentar im Neuen Deutschland.