Die Beste im Oktober 2022: Helena Adler
In Adlers zweitem Roman bezeichnet sich die Erzählerin als „Berichtbestatterin der eigenen Gegenwart“ – und spannt einen Bogen vom „irdischen Paradies“ der Kindheit über die Exzesse in einer Jugendbande bis zur Mutterschaft.
Schon mit ihrem Buch „Die Infantin trägt den Scheitel links“ (2020) hat sich die 1983 im Salzburger Oberndorf geborene Autorin Helena Adler in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Raum verschafft. In 21 Kapiteln, wovon jedes einzelne den Titel eines Werkes der Bildenden Kunst trägt, machte sich die Schreibende hier in rotzfrecher Art über die eigene Familie her.
Der Vater ein spirituell angehauchter Biobauer, die Mutter eine späte christliche Mystikerin. Die beiden älteren Zwillingsschwestern erscheinen in dem Text als ein doppelköpfiges Ungeheuer, das nur einen Lebenszweck kennt: das jüngste Kind quälen. Am Ende fackelt die kleine Schwester den Hof ab. Spätestens dann stellt sich die Frage, wie groß der autobiografische Gehalt des Buches eigentlich ist.
Die Kritik war begeistert. Man zeigte sich von der wilden Kraft dieses Schreibens angetan. In kaum einer Rezension fehlte der Hinweis auf die spezifisch österreichische Tradition, aus der heraus sich Adlers Stil nährt. Schnell hatte man die passende Punze zur Hand: Anti-Heimatliteratur der dritten Generation. Hans Lebert und Thomas Bernhard die zwei Großväter. Der väterliche Elternteil ein Mischwesen aus Franz Innerhofer und Josef Winkler. Und die Mutter? Gut denkbar als eine späte Emanation von Elfriede Jelinek.
Mit ihrem neuen Buch schreibt Helena Adler jetzt das alte noch einmal. Auch „Fretten“ hat 21 Kapitel, die wieder den Namen von Kunstwerken tragen, von Salvador Dalí bis Maria Lassnig, von Carolee Schneemann bis Jan und Pieter Brueghel, von Andy Warhol bis Gabriele Münter. Zwei der zitierten Werke stammen diesmal von der Autorin selbst. Neben einer „Assemblage“ mit dem Titel „Ein Kanarienvogel unter Karnivoren“ wird „Das Mutterkostüm“ angeführt. Ein „Work in Progress 2014 ff.“, bestehend aus „Öl, Schmalz, Schweiß, Knochen, Federn, Pelz, Blattgold“ sowie „Haut auf Haut“.
Die Motive verlassen die Leinwand. Als Trägermedium dient fortan der Körper der Schreibenden. Helena Adler setzt den körperlichen Furor, die Erregung und Raserei, die es braucht, um in den Prozess des Aufschreibens zu kommen, in den 21 Kapiteln ihres Buches jedes Mal neu in Gang. Schon der erste Satz macht das Prinzip klar: „Ich wache auf im Kindskörper, im Inneren der alten Bauernbaracke.“
Schon ist man mitten in dieser Welt, ohne dass sich aus den Bruchstücken eine ganzheitliche Lebensgeschichte ergeben wollte. Auch eine Musterbiografie des Aufwachsens in einem Salzburger Dorf am Ende des 20. Jahrhunderts wird uns hier gerade nicht geboten. Vielmehr sind es Erregungszustände, in die hinein sich die Autorin begibt, in dem sie die Räume und Konstellationen ihrer Kindheit und Jugend aufruft und ihnen im Akt des Aufrufens selbst eine sprachliche Gestalt gibt.
In einer solchen Literatur kommt es nicht auf Kausalitäten, auf zeitliche Verläufe, auf die Gemengelage von Ursachen und Wirkungen, sondern darauf an, sich ganz auf die sinnlichen Qualitäten der Erinnerung einzulassen. Wie hat es damals gerochen? Wo war der Schmerz? Wo die Scham? Wo befand sich der Übermut? Die Freude? Das sind Fragen, die die Autorin beschäftigen.
Von ihren frühesten Kindheitserinnerungen entwirft Adler in einem Kapitel mit dem Titel „Das irdische Paradies“ ein grandioses Bild. In ihm ist alles rund und wunderbar weich. „Airbags aus Mutterkuchen“ und „Vaterbäuche“ plustern sich auf, um das Kind auch nur ja nirgends anecken zu lassen: „Die Welt roch nach Baumwipfel und Zirbelkiefer. Nach frisch gefallenem Schnee. Nach aufgewühlter Erde und nach meinem Kinderschorf. Ständig schien eine Abendsonne in alle Winkel und Verstecke dieser Welt, und ständig schwirrte irgendetwas durch die Luft.“
Helena Adler: „Fretten“
Erscheinungsjahr: 2022
Roman, 192 Seiten
auch als e-book erhältlich
Jung und Jung
Nicht allein in der Kunstgeschichte, auch in der Literatur ist Adler bewandert. In den 21 Kapiteln ihres Buches tut sich eine Vielzahl mehr oder weniger versteckter Bezüge auf. Die weiche Welt der Frühzeit trägt eine Stifter-Referenz in sich. In dem nachgelassenen Text „Mein Leben“ fand der große, runde Sohn Oberösterreichs seinerseits zu ozeanischen Gefühlen: „Dann schwamm ich in etwas Fächelndem, ich schwamm hin und wieder, es wurde immer weicher und weicher in mir.“
An einer anderen Stelle evoziert Adler den blutigen Kalbstrick, der sich durch das literarische Werk von Josef Winkler zieht. Als eine „Berichtbestatterin ihrer eigenen Gegenwart“ sieht sich die Autorin: „Das frische Blut in meinen Adern sei der rote Faden in meinen Geschichten und die Röte in eurem Gesicht. Mehr als ums Überleben, die Welkwehmut und den Existierzorn geht es nicht. Und wem der Sinn nach etwas anderem steht, der erblinde an diesem Text, der verschlucke sich an seiner eigenen Zunge, der erhänge sich am fehlenden Handlungsstrang.“
Abstrakta werden konkret. Auch diese literarische Technik, die im Katholizismus wurzelt, teilt die Salzburger Übertreibungskünstlerin mit der Literatur des Kärntner Autors. Winkler kommt seit Jahrzehnten nicht von den Bildern los, die er in seinem Heimatdorf Kamering fand. In solchen Wiederholungen nützt sich sein Schreiben aber nicht ab, sondern gewinnt immer wieder neue Qualitäten.
Gleiches gilt für Helena Adler: Sie kehrt mit ihrem Buch „Fretten“ nunmehr das zweite Mal an den Ort ihrer Herkunft zurück. Inhaltlich führt sie die Geschichte jetzt bis zur eigenen Mutterschaft weiter. Bis hin zu einer fast wahnsinnig machenden Sorge um das eigene Kind und bis hin zu Schilderungen eines gegenseitigen Verwachsen-Seins, das am gemeinsamen Körper-Kerker fast alle Valenzen beschwört. Neu ist in „Fretten“ zudem ein Erzählstrang, der von einer wüsten Jugendbande berichtet, der die Schreibende angehört hat, Drogenhandel und Alkoholexzesse inklusive.
Ob das jetzt alles in allen Details wahr ist oder nicht, spielt keine Rolle, denn auf die Rhetorizität des Textes kommt es in „Fretten“ an. Vieles in diesem Buch scheint sprachlich allein deshalb realisiert, weil es als Teil eines mit enormer literarischer Intensität vorgetragenen High-Voltage-Schreibens schlicht und einfach sprachlich realisierbar war.
Das Verb „fretten“ meint süddeutsch/österreichisch „sich abmühen“, „sich plagen“, „mühsam über die Runden kommen“. Das mag in Teilen auf das Leben der Schreibenden zutreffen, für die Sprache des Buches aber gilt es nicht. Denn die sprachliche Kür, die sich hier über mehr als 175 Seiten erstreckt, spult sich letztlich in einer atemberaubenden Leichtigkeit ab und ohne auch nur etwas von der ungeheuren Kraft zu verlieren, die dieses Buch von Beginn an hat.
Text: Klaus Kastberger, Die Presse