Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour) | |
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weil nämlich ihre Beschäftigung zu ermüdend ist. Vigano läßt sie das Ballett in der „Jüdin von Toledo“ alle Tage von zehn Uhr vormittags bis vier Uhr nachmittags und von Mitternacht bis drei Uhr morgens proben. Außerdem müssen sie alle Abende zweimal tanzen.
Das hat mich an Rousseau erinnert, der Emil viel zu gehen empfiehlt. Als ich heute um Mitternacht mit den kleinen Tänzerinnen in der Frische am Meeresstrand einen Spaziergang machte, kam mir in den Sinn, wie unbekannt dieser überirdische Genuß der frischen Seebrise unter dem Himmel von Valenzia beim Anblick der schimmernden, hier so nahen Sterne in unserem traurigen, nebligen Norden ist. Er allein lohnt schon eine Reise von vielen hundert Meilen, er verhindert durch die Fülle der Empfindungen das Denken. Ich dachte, daß die Enthaltsamkeit meiner kleinen Tänzerinnen sehr gut erklärt, warum der männliche Stolz in England den Weg des Trunkes geht, um Haremssitten inmitten eines Kulturvolkes langsam wieder einzuführen. Man weiß, daß manche junge Engländerin trotz ihrer Schönheit und ihres reizenden Gesichtsausdruckes in geistiger Hinsicht recht zu wünschen übrig läßt. Trotz der Freiheit auf dieser Insel und der bewundernswerten Eigenart des Volkscharakters fehlt es den Engländerinnen an anregenden und ursprünglichen Gedanken. Oft haben sie nichts Bemerkenswertes, als die Verschrobenheit ihres Zartgefühls. Das ist leicht erklärlich; in England ist die Schamhaftigkeit der Frauen der Stolz ihrer Ehemänner. Aber so unterwürfig eine Sklavin auch sein mag, ihre Gesellschaft wird doch bald zur Last. Daher
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_162.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)