Verschiedene: Die Gartenlaube (1872) | |
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der dort üblichen Begräbnisse beigewohnt hat, der wird diesen Armenkirchhof nicht mit einem heiligen Acker, sondern mit einer großen Kehrichtgrube vergleichen, in welche man die ehemaligen Menschen wie Schutt und Moder achtungslos aufeinander wirft. Und diese Art von Begräbniß wird geleitet von der Stadtbehörde, sie widerspiegelt also den Willen der gesammten Bürgerschaft Neapels.
Eines Abends, als die Tagesgluth der Sonne nachzulassen und die Säume der Berge und Wolken sich zu vergolden anfingen, begab ich mich durch das Gewühl der von Lebensfluth strömenden Stadt hinaus auf dieses Feld des Todes.
Ich hatte mich auf Erschreckliches vorbereitet, denn viel hatte ich von dieser Unsitte gehört, aber meine Befürchtungen wurden noch weit übertroffen durch das, was ich mit ansehen mußte. – Schon die Gassen, die man passirt, sobald man durch die Porta Capuana die Stadt verläßt, um sich von da nordostwärts nach der Strada del Camposanto zu begeben, entsprechen dem Bilde, das unser wartet. Hohe, schmale, halbverfallene Häuser, mit Fenstern, schmutzig und verklebt, bilden die ziemlich geräumige Straße; Menschen der untersten Classen, halbnackt, verwahrlost, verkommen und jeder bessern Regung baar, blicken aus den Fenstern oder sitzen vor den Thüren oder liegen in unschönen Gruppen auf der Straße und verhindern den Fremden an der freien Benutzung derselben.
Ich fuhr in einem Fiaker, mein Kutscher schlug das Verdeck des Wagens auf, um nicht, wie er sagte, die Verantwortung auf sich zu nehmen, wenn Jemand hinterwärts unberufene Anstalten machen wollte, sich des Wagens zu bemächtigen. Nun fing es an öde und einsam zu werden; hin und wieder tauchte ein Haus, das Bild der Armuth und der Verkommenheit, aus der sonst menschenleeren Ebene hervor. Noch wenige Straßen durch Mauern eingefaßt, hinter denen hervorragende Obst-, Citronen- und Granatenbäume mich wieder daran erinnerten, daß ich mich trotz alledem noch in den Gefilden der Campania felix befand. Der Kutscher hielt an, wir waren an unserm Ziele; ich stieg hinaus und ging bergaufwärts einen schmalen Weg, auf der einen Seite durch eine Mauer, auf der andern durch ein verfallenes, langgestrecktes Gebäude eingezwängt, aus dessen Gewölbe Gerüche von Moder und Verwesung zu mir heraufstiegen. Es war das Todtenhaus, in welchem diejenigen Leichname, die nicht mehr des Abends bestattet werden können, bis zum nächsten Morgen niedergesetzt werden. In der Mitte dieses Hauses befindet sich ein Thor; durch dieses mußte ich gehen, um zu einem großen weiten Platze zu gelangen, und dieser ist endlich das vielbesprochene Campo santo vecchio.
Der Platz ist von quadratischer Form und von allen Seiten mit hohen Wänden eingefaßt, deren Monotonie durch schwach heraustretende Wandpfeiler in bestimmten Zwischenräumen leidlich unterbrochen ist. Die Pfeiler sind oben durch Bögen verbunden, so daß eine Art von Arcadenrelief den Schmuck der sonst verfallenen, von Wind und Wetter geschwärzten Mauer bildet. Dem Eingange gegenüber, in der Mitte der Wand, befindet sich ein Heiligenbild, mit geschmackloser und bizarrer Phantasie flach aus dem Brett geschnitten, wie man sie hier auf Plätzen und an Straßenecken vielfach findet. Dies war das Einzige, was hier an das Christenthum erinnerte.
Der Gesammteindruck ist der des Nackten, Todten, Kalten; ebenso erscheint der Fußboden. Glatt liegen die einzelnen großen Quadersteine in schräger Richtung nebeneinander, von Zeit zu Zeit abwechselnd mit einzelnen quadratischen Steinen, die in gleichen Zwischenräumen von einander den Wänden parallel laufende Reihen bilden. Jeder dieser Steine verdeckt die Oeffnung zu einer Todtenkammer, und da für jeden Tag im Jahre eine solche besteht, so sind im Ganzen dreihundertfünfundsechszig und einige drüber auf der Ebene ausgebreitet. Unter diesen laufen die Mauern, die sich rechtwinklig schneiden und die einzelnen Todtenkammern begrenzen; jeder Stein liegt dann gerade auf der Mitte derselben. – Das ist die Einrichtung dieses Campo santo.
Kein Leben blüht auf dieser Stätte der Einsamkeit; hart wie das Gestein, das dich umgiebt, gefühllos, nackt, still, freudelos und leer ist diese öde Todtenfläche. Da grünt kein Baum, kein Strauch, keine Cypresse; da blüht keine Myrthe, kein Oleander, kein Thymian; nicht ein Grashalm sprießt aus den Fugen der Steine neu hervor; nichts bewegt sich, nur der Todtengräber, ein großer brauner Käfer, wühlt sich aus den einzelnen Fugen und Löchern hervor, läuft mit Windeseile über die Todtenfläche hin und schlüpft wieder hinein, von wo er gekommen. Das ist alles Leben, was du erblickst, gleichsam um dich zu mahnen, daß auch im Tode Leben weilet. Kein Ton ist hörbar; das Einzige, was hier die Luft erfüllt, ist Modergeruch, Leichenfäulniß, höchstens schallen aus der Welt des Lebens die matten Töne ersterbenden Glockengeläutes bis hierher. Du glaubst dich aus der Welt herausverirrt, farbelos, freudelos ist Alles, was dich umgiebt. Doch schau! die Sonne taucht hinab, auch das Licht erstirbt über dieser Stätte, wo Alles todt ist; da bringt man schwarze hölzerne Kasten, aus vier Brettern gezimmert; Männer sind es, die sie auf dem Kopfe tragen, halbverkrüppelt, zerlumpt, vom nagenden Hunger, von bittrer Armuth abgezehrt, gleichgültig auch gegen dieses Gewerbe. Vielleicht noch wenige Monate, und wie sie jetzt tragen, so werden sie von Anderen getragen. Um einen Stein setzen sie die Kästen nieder. – Nun erscheint der Priester, selbst ein Bild des Elends, der Verkommenheit, ein Hohn der Kirche, die uns mahnet: „Du sollst die Todten ehren!“
Ohne jede Spur von Regsamkeit des Herzens segnet er die Leichen ein, sein ganzes Gebet dauert vielleicht eine Minute, dann geht er fort; mit einem Hebel wird der Stein gewaltsam aus seiner Vermauerung gelöst und die Kästen werden geöffnet. – Männer, Frauen, Kinder, ganz entkleidet, entstellt, schmutzig, noch die Spuren ihrer jüngsten Leiden mit sich tragend, liegen darin – dieselben Mäner, die die Todten brachten, zerren nun mit dem Ausdruck völliger Erstorbenheit, niedrigster Gleichgültigkeit die Leichen heraus und werfen sie wie Schmutz und Unrath in die Grube hinab.
Mein Auge wandte sich ab vor Entsetzen, doch das Fürchterlichste war der Ton, der im nächsten Augenblicke an mein Ohr drang.
Die Gruben sind etwa 25–30 Fuß tief; 110 Jahre werden sie gebraucht und jedes Jahr wiederholt man die Barbarei auf derselben Stelle. – Dreißig Leichname werden durchschnittlich an einem Tage hinabgeworfen, so daß in jeder Gruft zuletzt die Reste von 3300 Menschen liegen. – Und wie sie fallen, so läßt man sie auch liegen, bis sie der Zahn der Zeit der Erde gleich gemacht hat.
Die letzten Jahrgänge, noch halb Knochen, halb Fleisch, bilden eine weiche, fürchterliche Masse, auf diese werfen sie die Todten, und wie wenn Jemand von oben herab einen flachen Gegenstand auf eine Wasserfläche schleudert, so hört es sich hier an, wenn in dieser ausgemauerten, dunkeln, feuchten, weiten und tiefen Gruft die Leichen auf den Boden fallen.
Dieser Ton, das ist der Inbegriff des Fürchterlichsten, das sich hier vor uns abspielt!
Ekel, Schauder erfaßt die Brust; wer diesen Ton gehört, dem verhallet er nie wieder!
Man vergleiche die Grabmäler der Aegypter, Perser, Griechen, Römer, Byzantiner; man schaue auf den Prunk, mit dem die Indianer und die Eingebornen Afrikas und Australiens ihre Todten ehren, und man wird zu dem Ausspruch kommen: so roh, so unmenschlich, so widersträubend gegen alles Gefühl von Sittlichkeit wie dieses Volk verfährt kein anderes auf der ganzen Erde! –
Außer den Todtenträgern und dem Pförtner erwies Niemand den Verstorbenen die letzte Ehre.
Wer von den Angehörigen und Freunden möchte es auch über sich gewinnen, dieses Bild des Schreckens an dem zu sehen, der ihm im Leben lieb und werth gewesen! Wenn der Sterbende die Augen geschlossen hat und die Nachkommen besitzen nicht so viel Geld, um wenigstens die dritte Classe der Bestattung zu bezahlen, so müssen sie sich eben an jene Todtengräber wenden. Diese kommen, messen die Größe, holen ihre schwarzen Leichenkasten, die zu derselben passen, legen das nackte Todte hinein und tragen es fort an diese Pforte der Unsterblichkeit.
Nur einen Mann erblickte ich, den ich für den Vater eines todten Knaben hielt. – Der Mann war schwarz und feierlich gekleidet; das Kind hatte ebenfalls an seinem Körper einige armselige Kleider. – Ein Paar zerrissener Schuhe bedeckte die kleinen Füße, ein Hemdchen den abgemagerten Leib, selbst eine Mütze den Kopf. – Um die Brust war ein weißes Tuch gebunden, an
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 607. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_607.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)