verschiedene: Die Gartenlaube (1864) | |
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Wolf – der in der Ecke saß, als den Sohn desjenigen Burschen vor, der Goethe gewöhnlich bei Spaziergängen begleitet, ihm auch Botendienste geleistet hatte. Von diesem erfuhr ich mehrere Anekdoten über Goethe, und sämmtliche Bauern nahmen, während er erzählte, großen Antheil, ergriffen wohl manchmal bestätigend das Wort, nie aber äußerten sie sich anders über das Verhältniß der Liebenden als mit größter Ehrerbietung für Beide. Die Aussage Aller war: „Er sei ein schöner und gar freigebiger Mann gewesen, und das Pfarrersfräulein habe er so lieb gehabt – man könne gar nicht glauben wie!“
Von dieser Freigebigkeit Goethe’s cursirt namentlich in Sesenheim eine etwas groteske Geschichte, aber eben deshalb wie dazu gemacht, im Andenken der Bauern zu bleiben: Die Bursche des Dorfes machten, wie jedes Jahr, hinter der Kirche zuweilen im November ein Feuer und belustigten sich, mit Stangen drüber zu springen. Der „Herr Goethe“ war auch einmal bei einem solchen Anlaß zugegen und bemerkte unter den Zuschauenden sechs Weiber mit alten zerrissenen Strohhüten. Da sagte er dem Bauer Wolf, er solle die Strohhüte in’s Feuer werfen. Der that’s auch gleich, nur eine ließ sich den Strohhut unter keiner Bedingung nehmen. Als nun die fünf Strohhüte lichterloh brannten, zog der Herr Goethe seinen Geldbeutel hervor und gab jedem der fünf Weiber, die ziemlich verdutzt dastanden, zwei Thaler; jetzt verkehrten sich die sauern Mienen in frohen Jubel; die sechste aber bot nun freiwillig ihren Strohhut an; als ihr Goethe gar keine Aufmerksamkeit schenkte, warf sie voll Verdruß ihren Hut selbst in’s Feuer, erntete aber auch für diese heroische Aeußerung ihrer Unzufriedenheit nichts als den Spott des ganzen Dorfes. Als Moral dieser Geschichte setzte der Bauer Wolf, der mir dieselbe erzählte, hinzu: „Einem so vornehmen Herrn muß man eben Zutrauen schenken.“
Oft habe auch Goethe die Buben angefeuert, gymnastische Spiele aufzuführen, ihnen dergleichen sogar gezeigt. Den Sieger habe er dann jedesmal reichlich beschenkt. Um seine Freigebigkeit, wie man sieht, dreht sich die Sesenheimer Tradition; denn bei gar vielen Leuten hat nichts so guten Klang, wie klingende Münze. Man ersieht hieraus, daß alle Tradition etwas Subjectives ist.
Am folgenden Tage besuchte ich in der Frühe jenen Hügel, den Goethe in „Wahrheit und Dichtung“ erwähnt, wo er schon am zweiten Tage der jungen Bekanntschaft dem reizenden Mädchen seine Liebe erklärt hatte. Die Stelle verdient nicht den Namen eines Hügels; im Dorf heißt sie der Buckel; es ist eine Erderhöhung von kaum sechs Fuß Höhe. Zu Goethe’s Zeit war sie mit Wald und Hecken gekrönt und es waren daselbst Bänke aufgeschlagen, „von deren jeder man eine hübsche Aussicht gewann“. Hier war jenes Bret mit der Inschrift: „Friederikens Ruhe“, worunter sich Goethe einst froh und ahnungslos gesetzt hatte, ganz dem aufkeimenden Gefühl hingegeben und nicht denkend, daß er gekommen sei, diese Ruhe vielleicht für immer zu stören.
Die Bänke stehen längst nicht mehr, der Wald ist ausgerottet, man hat den Pflug über das traute Plätzchen geführt. Aber es war doch noch die gleiche Erde, und gerade so, wie heute auf mich, schaute damals auf die Liebenden, der helle, blaue Himmel hernieder, und darum bückte ich mich und pflückte – man lache über meine Sentimentalität – ein vom Morgenthau feuchtes Veilchen, meine erste Reliquie von Sesenheim.
Nachdem ich wieder in’s Dorf zurückgekehrt war, begann ich auf dem Kirchhofe nach dem Grabmal des Pfarrer Brion zu suchen. Eine Bäuerin, die ich um Auskunft befragte, sagte mir, sie wisse, das Grab sei nicht hier, sondern bei der Kirche, aber genauer konnte sie mir die Stelle nicht bezeichnen. Endlich fand ich es; ein liegender, schwärzlicher Stein deckt die Ruhestätte des guten Mannes. Die Inschrift lautet:
der
Hochwürdige und hochgelahrte Herr
Johann Jacob Brion.
Treueifriger Lehrer hiesigen Kirchspiels.
Seines Alters 70 Jahre 6 Monate.
Den Vers darunter konnte ich nur mit Mühe lesen und zwar erst, nachdem ich den Grabstein gewaschen und in die Umrisse der Schrift, damit dieselben mehr hervortreten möchten, Kalk von der Kirchhofsmauer eingerieben hatte. Der Vers heißt:
„Sei still und weine,
Christ und Menschenfreund;
Hier ruhen die Gebeine
Eines Mannes, der vereint
Tugend pries und Tugend übte,
Gott in seinem Leben liebte.“
Während ich diese Worte schrieb, fielen auf einmal drei oder vier Schüsse hinter der Kirchhofmauer, und als ich erstaunt aufschaute, gewahrte ich eben einen Brautzug, der sich in die Kirche bewegte. Natürlich schloß ich mich an und wohnte der Feierlichkeit bei. Das war also die Kirche, wo einst Goethe an der Seite der Pfarrerstochter „eine etwas trockene Predigt des Vaters nicht zu lang fand“ und wo er sich die Vorzüge seiner Geliebten, „ihre besonnene Heiterkeit, Naivetät mit Bewußtsein, Frohsinn mit Voraussehen,“ wiederholte und auch darüber nachdachte, wie er es wohl vermeiden könnte, beim Pfänderspiel seine Geliebte zu küssen; denn seine Lippen waren ja von jener leidenschaftlichen Straßburger Schönen, deren Neigung er nicht erwiderte, verwünscht worden. Am gleichen Nachmittage lösten sich indessen alle Bedenken, wie wir oben gesehen haben. Als die Einsegnung des Paares vorüber war, begab ich mich nach dem Pfarrhause, welches der Kirche gegenüber liegt. Es ist von einem Gartenzaun eingeschlossen, vor der Thür stehen niedrige Tannenbäume.
Der Pfarrer, Namens Lucius, ein gastfreier Herr, nahm mich sehr freundlich auf, als er den Zweck meines Kommens erfahren hatte, und führte mich überall umher. Vom alten Pfarrhofe ist nur noch eine Scheune übrig; er stand mehr links, als der neue. An der Stelle, wo sonst Goethe mit der Familie Brion zu wohnen pflegte, wachsen jetzt Bohnen und andere Küchenkräuter, und der kleine Sohn des Herrn Pfarrers war emsig beschäftigt, dieselben vom Unkraut zu säubern. Ganz hinten im Garten steht aber noch, an die erwähnte alte Scheune angelehnt, jene berühmte „Jasminlaube von Sesenheim“, in der Goethe das Märchen, das er später unter dem Titel „Die neue Melusine“ Wilhelm Weister’s Wanderjahren einverleibte, zum ersten Male erzählte. Daß ich auch hier Reliquien sammelte, versteht sich von selbst.
Hierauf zeigte mir der Pfarrer ein Autograph Friederike’s; sie bittet ihren Verwandten Heintz um ihr langes Halstuch (ein Pathengeschenk eben jener Anna Maria Vix), er möge es ihr nach Rothau schicken. Im Wohnzimmer hängt an der Wand beim Clavier ein Bild des greisen Goethe; nirgends ist mir dieses Bild so bedeutsam vorgekommen, wie hier; ich mußte mich unwillkürlich an Rückert’s Gedicht von Chidder, dem ewig jungen, erinnern.
Ich nahm nun Abschied von dem gastfreien Herrn Pfarrer und verließ das Haus. Am Ausgang des Dorfes, vor dem Schulhause, war die ganze liebe heranwachsende Jugend von Sesenheim versammelt. Die Mädchen tanzten eben einen Ringeltanz um ihre Lehrerin herum; ich schaute mir die Gesichter wohl an, aber es war keine Friederike unter ihnen!
Und so zog ich denn weiter gegen Fort Louis hin; ehe ich aber in den Wald kam, schaute ich noch einmal zurück nach dem lieben Dorf, und wie ich’s so vor mir liegen sah und des gestrigen Abends und der einstigen Zeiten gedachte, überkam mich eine Stimmung, in die sich Andacht und Wehmuth theilten.
Von Rudolph Löwenstein.
Vom Fischerdorfe zur Weltstadt, vom Bauernkarren zur Droschke und von der Droschke zum Omnibus – welch riesiger Fortschritt weltgeschichtlicher Cultur! Fünfhundert Jahre bedurfte Berlin, bis die Umwandlung aus dem Anglernest in den Angelpunkt deutscher Intelligenz als vollzogen betrachtet werden konnte, und fast ein halb Jahrhundert verstrich, ehe sich der kosmopolitische Omnibus der heimischen, particularistischen Droschke zugesellte. Wie lange es dauern wird, bis die Berliner Droschke sich zu einem der Residenz
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 332. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_332.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)