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MKL1888:Humōr

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Humōr“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 8 (1887), Seite 794
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Humōr. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 8, Seite 794. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Humōr (Version vom 18.04.2022)

[794] Humōr (lat. Hūmor) bedeutet ursprünglich „Feuchtigkeit“ und wird im metaphorischen Sinn auf die (leichtblütige oder schwermütige) Gemütsstimmung angewandt, welche nach der (längst verlassenen) Galenischen Ansicht von dem jeweiligen Mischungsverhältnis der sogen. vier Hauptsäfte des Organismus: Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim, abhängig sein sollte. Wie Naturell und Temperament (s. d.) den aus Leicht- und Schwerflüssigem gemischten leiblichen, so drückt die Bezeichnung H. (ital. umóre, franz. humeur, engl. humour) einen aus Spott über und Mitleid mit unsersgleichen gemischten Gemütszustand aus. Derselbe steht als gemischter dem reinen Gemütszustand (sowohl dem ungemischten Spott, wie ihn das Komische, als der Furcht und dem Mitleid, wie sie das Tragische erzeugt), als aus Spott und Mitleid gemischter dem aus Achtung und Furcht gemischten Gemütszustand, der Ehrfurcht, wie sie das Erhabene einflößt, gegenüber. Jean Paul hat daher den H., eigentlich dessen Gegenstand, das Tragikomische, das „umgekehrte Erhabene“ genannt. Durch den Umstand, daß Spott und Mitleid nur unsersgleichen gelten, während Furcht und Ehrfurcht ein Höheres voraussetzen, ist der H. mit der Wirkung des Komischen, durch den Umstand, daß Mitleid das Leid eines andern (und zwar ein solches, das uns ebensogut wie ihn treffen kann: nil humani a me alienum) voraussetzt, mit jener des Tragischen verwandt. Mit jenem teilt er die Neigung, „das Erhabene in den Staub zu ziehen“, mit diesem die Menschenliebe und die Rührung durch das Unglück. Wie der Spott (und Witz) Verstandessache, so ist der H. Gemütssache. Der Komiker gibt den Thoren dem Gelächter, der Tragiker den Unglücklichen dem Mitleid preis; der Humorist verlacht die Thorheit und bemitleidet den Thoren (der Narr im „Lear“). In seinen Augen ist die Thorheit das Erbteil und Unglück der Menschheit, daher ihm das Laster weniger eine Verkehrung des Willens als der Einsicht scheint. Zugleich aber weiß er sich selbst mit jenem Erbteil behaftet; in seinesgleichen, dem Thoren, verlacht und bemitleidet das humoristische Gemüt sich selbst. Der H. ist ein „Lachen unter Thränen“, ein Spott, der dem Spötter das Herz zerreißt, der Gegenstand desselben, der tragikomische Held, zugleich belachens- und bemitleidens-, ja unter Umständen liebens- und bewundernswert (Don Quichotte; Walt in den „Flegeljahren“; der Landprediger von Wakefield). Je nachdem in der Stimmung die komische Seite, welche die Furcht vor dem Unglück als Thorheit, oder die tragische, welche die Thorheit als Unglück faßt, vorherrscht, läßt sich ein guter (leichtblütiger) oder böser (schwermütiger) H. unterscheiden; ersterer (Weltscherz) ist dem sanguinischen, letzterer (Weltschmerz) dem melancholischen Temperament verwandt. Die Auflösung des Humors erfolgt entweder nach jener Seite hin in reine Komik, welche die Welt der Thorheit und des Unglücks als bloßen Schein, die wirkliche Welt für einen Ausbund von Weisheit und Glückseligkeit erklärt (optimistische Weltanschauung); oder nach dieser Seite hin in reine Tragik, welche den (humoristischen) Glauben, daß das Unglück nur Folge der menschlichen Thorheit sei, für Schein und die wirkliche Welt für einen Ausbund von Dummheit und Unseligkeit erklärt, deren Folge die menschliche Thorheit sei (pessimistische Weltanschauung); niemals dagegen nach der Seite des Erhabenen, denn der H. ist „der Todfeind des Erhabenen“. Der H. kann auftreten in lyrischer Form (humoristische Lyrik: Heine), in epischer (der humoristische Roman: Cervantes, Swift, Sterne, Goldsmith, Smollet, Fielding, Dickens, Thackeray, Hippel, Jean Paul, Immermanns „Münchhausen“) oder in dramatischer Form (die „Alte Komödie“ des Aristophanes, Shakespeares Lustspiele, Goethes „Jahrmarkt von Plundersweilern“, Tiecks Komödien). Vgl. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik; Bahnsen, Das Tragische als Weltgesetz und der H. als ästhetische Gestalt des Metaphysischen (Lauenb. i. P. 1877).