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Ein einsames Grab im Norden

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Textdaten
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Autor: Friedr. Pilzer
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Titel: Ein einsames Grab im Norden
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 773–775
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[773]
Ein einsames Grab im Norden.

Conradin Kreutzer’s Ruhestätte auf dem Friedhof in Riga.

Nicht von archäologischen Forschungen, nicht von aufgefundenen Hünengräbern und Thränenurnen, auch nicht von dem sagenumwobenen tausendjährigen Grabe eines Nordlandshelden will ich erzählen. Nein, das Grab im Norden, welches ich meine, steht mit seinen geweihten Aschenresten unserm Herzen näher als alle nordischen Mythen. Es ist die Ruhestätte eines deutschen Sängers, dessen Lippen einst überströmten in blühender Sangesfülle, dessen holde Weisen unsterblich im deutschen Volksmunde fortklingen.

[774] Es war erst kurze Zeit, daß ich mich in Riga befand. „Heute werde ich Ihnen einige Sehenswürdigkeiten dieser baltischen Metropole zeigen,“ sagte zu mir der Musikdirector C. –

Wir wanderten durch den alten Stadttheil zum Ufer der Düna. Die große Anzahl von Seeschiffen, das Stöhnen und Rauschen der Dampfer, das Hinüber- und Herübergleiten unzähliger kleiner Boote – kurz das ganze lebendige Treiben der Seestadt fesselte mich. Aber immer fremdartiger und unheimlicher wurde es mir, je mehr wir uns, das Ufer entlang gehend, der Moskauer Vorstadt näherten. Statt der lustig beflaggten Schiffe mit Masten und Takelwerk erblickte ich schließlich nur noch eine Menge von Strusen, jenen großen häßlichen Fahrzeugen, die, zeltartig mit gelbgrauen Matten überdeckt, schon oft mit riesigen Schildkröten verglichen worden sind. Sie kommen die Düna herunter und bringen der Stadt und den ausländischen Schiffen Produkte und Waaren aus dem Innern. Unangenehm gelbgrau wie die Farbe der Fahrzeuge ist auch die ärmliche Kleidung ihrer Bemannung. Mich überkam bei dem Anblick ein heimwehartiges Frösteln, das von dem fremdartigen Idiom, welches ich da ausschließlich sprechen hörte, gewiß nicht gemildert wurde.

„Lassen Sie uns hinweg von hier,“ sagte ich zu meinem Führer, „dies ist für einen Fremden nicht uninteressant, aber die Umgebung durchschauert mich der Art, daß ich mich fortsehne.“

„Sie werden alsbald einen Anblick haben, der Ihnen mehr als alle Andre die deutsche Heimath herbeizaubern wird,“ erwiderte mein Begleiter.

Wir wendeten uns in das Innere der Moskauer Vorstadt. Die Leute auf der Straße sprachen fast nur russisch. Mein Freund führte mich zu einem Begräbnißplatz. Frauen und Männer wandelten daselbst auf und ab. Statt russisch hörte ich jetzt fast nur polnisch sprechen. Es war der katholische Kirchhof, auf welchem viele Polen begraben liegen.

„Sie wollten mich, um jenen beklemmenden fremdartigen Eindruck zu verwischen, in eine recht heimathlich deutsche Umgebung führen,“ sagte ich zu meinem Führer, als wir durch die Gräberreihen schritten, „ich bemerke davon sehr wenig, jene Trauernden reden eine Sprache, welche mir ebenso unverständlich ist, wie die Inschriften vieler dieser Grabmonumente.“

Plötzlich stand ich wie gebannt. In dieser fremden Umgebung, die mich an alles Andere eher als an Deutschland erinnern konnte, strahlte mir von der schwarzen Fläche eines schlanken Kreuzes in Goldlettern der Name „Conradin Kreutzer“ entgegen.

Conradin Kreutzer, der Schöpfer des „Nachtlagers von Granada“! Erschütterung, Freude und Wehmuth waren die aufeinander folgenden Stadien der Empfindung, welche der Anblick in mir erregte. Wohl hatte ich längst in einer Biographie des Componisten gelesen, daß er in Riga begraben sei, daran gedacht hatte ich, ich gestehe es, seitdem nicht wieder.

Wie ich jetzt das Grab vor mir sah, war es mir die Verkörperung der alten wehmuthvollen Geschichte von dem Erdenwallen deutscher Künstler. Wie viele tausend deutscher Herzen hast Du, Conradin Kreutzer, nicht erquickt und erwärmt durch den gemüthvollen Reiz Deiner Melodieen, und wie viel tausend Herzen feiern Dich nicht fort und fort, indem sie nicht lassen können von Deinen süßen, milden, echt deutschen Weisen! Wenn es eine Statistik über Ständchen gäbe – keines Tonschöpfers Harmonieen haben so häufig die anmuthigen Schlummerstörer gemacht, als die Deinen. Das „süße Grauen und geheime Wehen“ Deines Sanges, hat es nicht hineingeschauert in die beseligenden Träume unzähliger Menschen? Giebt es irgendwo auf dem weiten Erdenrund einen Verein deutscher Sänger, dem nicht gerade Deine Lieder die innigste Freude bereitet haben? – Und was bot man Dir für alle die herrlichen Geschenke, mit denen Du die Deutschen bedacht? Mühe und Leid, ein ruheloses Wandern, ein stilles trübseliges Ende und – ein Grab in der Moskauer Vorstadt von Riga!

Von alledem ist das Letzte vielleicht das Beste. Der Wanderzug, der Dich vom Süden zum Norden getrieben, brachte Dich in den nördlichsten der Bereiche, wo deutsche Sitte, deutsches Wesen sich eine Stätte gegründet haben. Da schlummerst Du nun, und Dein Grab ist uns ein fortwährender ernster Gruß aus dem Mutterlande.

Conradin Kreutzer’s Grab wird nicht durch ein glänzendes Monument geziert. An dem von einer Kette umgebenen Grabhügel steht auf einem unbehauenen Granitsockel ein einfaches schlankes Kreuz, das auf der einen Seite in Goldlettern die Daten der Geburt und des Heimgangs, auf der andern den Namen Conradin Kreutzer erhält. Der bloße Name ist gewiß das schönste Epitaph, welches man wählen konnte, und des ganzen, übrigens wohlgepflegten Grabes Einfachheit, über die man sich verschiedentlich aufgehalten, weil sie in keinem Verhältniß zu der Bedeutung des Verstorbenen stehe, entspricht durchaus der stillen Bescheidenheit, welche Kreutzer im Verkehr mit der Welt zeigte.

So war er im Herbst des Jahres 1848 nach Riga gekommen, ohne daß man im größeren Publicum eine Ahnung von seiner Ankunft gehabt hätte. Diese wurde erst weiter bekannt, als eines Abends im Theater während einer Opernvorstellung eine allgemeine Bewegung unter den Orchestermitgliedern und deren fortwährend auf einen Logenplatz gerichtete Aufmerksamkeit auffiel. Der Gegenstand derselben war Conradin Kreutzer, der sich zum ersten Male im Rigaer Stadttheater befand.

Seiner Bescheidenheit und einem doch wiederum mit derselben verbundenen heimlichen Stolze ist es zuzuschreiben, daß er, wie ja auch an Orten seines früheren Aufenthaltes, hier in ziemlich knappen pecuniären Verhältnissen lebte, ohne daß man hätte Veranlassung nehmen können, ihm seine Existenz zu erleichtern.

Er war nicht, wie irrthümlich berichtet wird, wegen eines Engagements als Capellmeister, sondern nur in Begleitung seiner Tochter hier, die am hiesigen Stadttheater als Sängerin engagirt und noch immer seine Schülerin war. Mit Frau und Tochter lebte er von der Gage der letzteren und von dem geringen Honorar, welches ihm einige Gesangstunden einbrachten. Nur einmal ist er hier öffentlich als Dirigent aufgetreten, und zwar am 16. Februar 1849, als „das Nachtlager von Granada“ zum Benefiz seiner Tochter gegeben wurde. Mit dieser ausnahmsweisen Leitung seiner eigenen Oper zum Besten seiner Tochter schloß Kreutzer’s Dirigenten-Thätigkeit. Das hiesige Publicum nahm die Gelegenheit wahr, dem berühmten Componisten die lebhaftesten Sympathieen zu zeigen. Er wurde mit allen möglichen Beweisen des Beifalles und der Verehrung überschüttet.

Seine Thätigkeit als Componist schloß mit einem coupletartigen Liede: „Mädchen und Blumen“, welches er aus Gefälligkeit für den damals hier engagirten Komiker Hermann Butterweck, den Verfasser des Textes, componirt hatte, der es zu seinem Benefiz als Einlage in dem komischen Volksgemälde: „der Unbedeutende“ sang. Das Lied erschien hier später im Druck. Es trägt den Charakter einer unbedeutenden Gelegenheitsarbeit und zeigt keine Spuren von der einst so blühenden Kreutzer’schen Melodik. Es ist seine letzte Composition, und so viel ich erfahren konnte, hat er hier, auch vorher, nichts Anderes producirt.

Die stille Zurückgezogenheit, in welcher er hier lebte, mag theils mit seiner drückenden pecuniären Lage im Zusammenhang gestanden haben, zum größeren Theil hatte sie aber einen tieferen Grund. Hätte Kreutzer hier noch die Elasticität des Geistes und Gemüthes gehabt, die ihm früher eigen gewesen war, so würde er sicher versucht haben, in das hiesige Musikleben auf die eine oder andere Weise, direct oder indirect, fördernd und belebend einzugreifen, und es würde dann auch wohl von selbst gekommen sein, daß man, auf den Werth einer solchen Impuls gebenden Persönlichkeit mehr aufmerksam gemacht, ihn in einer auch seiner pecuniären Lage zu Gute kommenden Weise zu entsprechender Thätigkeit herangezogen hätte. Dieses unterblieb, weil der große Tonkünstler sich leider in einer Passivität verhielt, die von aufmerksamen Beobachtern ebensosehr einem durch Mißerfolge der letzten Jahre seiner künstlerischen Thätigkeit bestimmten Gemüthszustande als dem herannahenden Alter zugeschrieben wurde. Es hatte sich seiner eine Apathie bemächtigt, die ihn von seiner früheren Art, sich künstlerisch und gesellschaftlich zu geben, wesentlich unterschied, und aus der er nur hier und da momentan auflebte.

Obwohl er nur von mittlerer Mannesgröße war, so hatte seine Persönlichkeit noch wenige Jahre vorher stets etwas Imponirendes gehabt. Seine Haltung war stattlich-aufrecht, sein Gesichtsausdruck, bei aller Weichheit, klar, bestimmt und ingeniös gewesen. Das Alles hatte sich, als er hier war, geändert. Seine körperliche Vollkraft war fast zur Corpulenz geworden, in der unzweifelhaft schon der Keim seines Todes, die Ursache zu dem Schlagflusse lag, der ihn im folgenden Jahre hinwegraffte. Sein Wesen [775] hatte etwas Stilles, Gedrücktes angenommen, was ihn nur selten verließ. Durch gute Musik oder lebhafte Unterhaltung über dieselbe angeregt, loderte zuweilen wie aus verglimmenden Kohlen die alte Flamme seiner Kunstbegeisterung auf. Es war dieses meist der Fall an den Musikabenden, die bei kunstsinnigen Privatleuten, z. B. im Hause des hiesigen Brauereibesitzers Zigra, veranstaltet wurden, wo man in kleinem Künstlerkreise Kammermusik trieb. Da trug Kreutzer mit freundlichster Bereitwilligkeit Clavier-Piecen vor, und wenn er phantasirte, soll noch manchmal aus den Tasten in anziehender liebenswürdiger Weise sein alter Genius hervorgeschwebt sein, zuweilen allerdings ganz, als wolle er wehmüthig Abschied von dem Meister nehmen, denn dieser war nur zu oft gleich nach dem Vortrage wieder still und in sich gekehrt.

Am 14. December 1849, nachdem der Componist wenige Wochen vorher seinen siebenundsechszigsten Geburtstag gefeiert hatte, befreite ihn, wie bereits erwähnt, ein Schlagfluß von einem Leben, an welchem er, wie der ganze Eindruck seiner Persönlichkeit während seines Hierseins bewiesen, wenig Freude mehr empfunden hatte. Da inzwischen der Contract der Tochter mit dem hiesigen Theater abgelaufen und nicht erneuert worden war, so befand sich diese mit ihrer Mutter in der bedrängtesten Lage. Ein zum Besten derselben veranstaltetes Concert lieferte ein Ergebniß, welches wenigstens vor der Hand der äußersten Noth steuerte. Die Tochter soll bald darauf die Gattin eines auswärtigen Kaufmannes geworden sein.

Die „Rigaer Liedertafel“, damals der einzige hiesige Männergesangverein, sorgte für eine würdige feierliche Bestattung des Verstorbenen und ist noch fortwährend die Hüterin seines Grabes.

Friedr. Pilzer.