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Ein Künstlerschicksal und seine Sühne

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Titel: Ein Künstlerschicksal und seine Sühne
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aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 780–783
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein Künstlerschicksal und seine Sühne.

Aus den Papieren eines alten Weimaraners.[1]

Im Juni 1805 kam von Berlin her ein junges Paar von auffallender Schönheit in Weimar an, welches Goethes gewandter und kluger Regisseur Genast (der Vater des 1887 verstorbenen Hofschauspielers) aus dem Chorpersonal der dortigen Bühne ausgehoben und für Weimar engagiert hatte. Die reizende junge Frau entsprach freilich in der Folge künstlerisch nicht den in sie gesetzten Erwartungen, aber in ihrem kaum 21jährigen Gatten hatte das Weimarische Theater einen Schatz gewonnen, wie er keinem der späteren Intendanten mehr beschieden sein sollte.

Wilhelm Deny, so hieß das neue Mitglied, war ein Mensch von ganz hervorragend schauspielerischer Begabung. Vermutlich der französischen Kolonie in Berlin entstammend, hatte er doch so wenig Jugendbildung erhalten, daß es ihm in seiner ersten Weimarer Zeit Schwierigkeiten machte, Geschriebenes fließend zu lesen, und er deshalb gern seine Frau zur Leseprobe schickte, statt selbst zu kommen. Um so merkwürdiger war das schöpferische Talent, mit welchem er sofort jede Rolle ergriff und sie mit solcher inneren Wahrheit darstellte, daß das Publikum stets hingerissen ward und bald auch die Kollegen mit Anerkennung von der großartigen Begabung des jungen Mannes sprachen. Einer der hervorragendsten, der seiner Zeit in weiten Kreisen bekannte und beliebte „alte Oels“, nannte ihn später, geradezu den talentvollsten Schauspieler, den Weimar je besessen habe.

Unterstützt aber wurden Denys innere Gaben durch äußere Mittel, wie sie in solcher Schönheitsfülle auch nur selten einem Schauspieler zu Gebote stehen. Auf einer prachtvollen in allen Teilen harmonischen Gestalt saß ein Kopf von antiker Reinheit der Züge. Und unter der schmalen, von dichtem schwarzen Gelock bedeckten Stirn funkelte ein Paar mächtiger dunkler Augen fast dämonisch heraus und steigerte durch seine leidenschaftliche Ausdruckskraft Denys Mienenspiel zu einer Macht, der sich niemand entziehen konnte. Selbst die Schauspielerinnen, welche sonst ihre Liebesscenen innerlich unbewegt genug abzuspielen pflegten, fühlten sich in seinen Armen von der Leidenschaft ergriffen, die er so unwiderstehlich darstellte, und glaubten, einen persönlichen Ursprung derselben zu spüren. Aber sie sahen nach beendigter Vorstellung enttäuscht wieder die kühle Gleichgültigkeit, welche der schöne Schauspieler im allgemeinen gegen Frauen hervorkehrte – und welche ihn selbstverständlich nur um so begehrenswerter erscheinen ließ. Die einzige Leidenschaft seines Innern war ein hochgespannter Ehrgeiz, der sich, trotz aller Erfolge, stets zurückgesetzt fühlte und unter den Kollegen, von welchen Deny sich mißtrauisch fern hielt, nur Feinde und Neider sah. Hierin bestärkte ihn noch seine Frau, welche es nicht verschmerzen konnte, daß sie keine bedeutenden Rollen zu spielen bekam, obgleich sie nicht einmal den unbedeutenden zu genügen wußte.

Vermutlich hatte Goethe mit seinem sicheren Blick Denys hervorragendes Talent sofort erkannt und ihn an seiner Hand zu der Stufe schauspielerischer Vollendung hinauf geführt, auf welcher ich ihn später in den Jahren 1819 bis 1822 gesehen habe. Bekanntlich war es nicht Goethes Art, seine Schauspieler gleich von vornherein für ein bestimmtes Rollenfach zu engagieren. Da er meist junge Leute anwarb, so probierte er vielmehr mit ihnen alle Arten von Rollen durch und fand meist bald heraus, wofür sie taugten, zum Nutzen seines Theaters und der Schauspieler selbst. Wer sich überhaupt als talentlos erwies, wurde alsbald wieder abgestoßen.

Fritz Lortzing, der als junger Mann nach Weimar kam und, da er früher bei anderen Theatern in den Rollen von Liebhabern, Bonvivants und im Vaudeville thätig gewesen war, auch in Weimar diese Rollen weiter spielen wollte – erzählte mir, daß er nicht wenig überrascht gewesen sei, als ihm kurz nach seinem Engagement eines schönen Tages von Goethe die Rolle des „Polonius“ zugesendet worden sei. Er habe an ein Versehen des Theaterdieners geglaubt und sei deshalb zu Goethe gegangen, um sein Bedenken auszudrücken. Doch dieser habe gesagt: „Kein Versehen! Bedenken Sie sich die Rolle! Sie werden mir in einigen Tagen dieselbe vorlesen!“ – Mutlos und voll Herzensangst sei er davongeschlichen. Aber Einwendungen habe es zu jener Zeit nicht gegeben. Was war der Erfolg? – Lortzing spielte jene Rolle Goethe und dem Publikum zu Danke und wurde alsbald unter Goethes Führung, der bedeutendste Charakterkomiker, den, nächst Becker, das Weimarische Theater besessen hat. Der berühmte La Roche kam in den gleichen Fall, als ihm Goethe bei der ersten Aufführung seines „Faust“ die Rolle des – Mephisto zuerteilte, die seinem bisherigen Rollenfache durchaus nicht entsprach und in der er doch dann später lange Jahre hindurch am Wiener Hofburgtheater sich besonders auszeichnen sollte.

Einen weniger scharfsichtigen Theaterleiter als Goethe hätte Denys außerordentlich vielseitige Begabung geradezu in Verlegenheit um das geeignete Rollenfach bringen können. Er aber teilte ihm mit weiser Absicht alles zu, was seinen Fähigkeiten überhaupt entsprach, und ließ ihn (nicht aus Schauspielermangel, denn er verfügte stets noch über eine zweite Kraft) so verschiedenartige Rollen spielen, wie sie sich heute niemals mehr in der Hand eines Darstellers befinden. So erschien Deny bis zu seinem früh erfolgten Tode im Jahre 1822 als erster Liebhaber, als jugendlicher Held, als Intrigant, als zärtlicher gesetzter Vater, als Buffo und in ernsten Partien der Oper: eine Vielseitigkeit, die annähernd nur noch ein später (1823) an der Weimarischen Bühne eintretendes Mitglied, der obengenannte La Roche, besaß, welcher derselben bis 1833, bis zu seinem Eintritt in den Verband des Wiener Hofburgtheaters, angehörte.

Ob Deny nun Don Manuel, Roller, Macduff, Dunois, Geßler spielte, oder Wurm, Marinelli und Just, ob er in der komischen Oper als Leporello und Bartolo in Mozarts und Rossinis unsterblichen Werken oder als Purgantius im „Rochus Pumpernickel“ das Publikum zu Lachstürmen hinriß, oder als Thoas in Glucks „Iphigenie“ und als Oberpriester in der „Vestalin“ voll hoher Würde in getragenen Tönen sang – bei jeder Rolle begleitete ihn rauschender Applaus und die Weimaraner konnten nicht mit sich einig werden, in welcher er am vorzüglichsten spiele und am besten aussehe. Immer schien es diejenige zu sein, welche er zuletzt gespielt hatte! Sein schönes klangvolles Organ war unermüdlich und in der Recitation, besonders Schillerscher Verse, von bezauberndem Wohllaut, dagegen stand die gesangliche Ausbildung der Stimme durchaus nicht auf gleicher Höhe der Vollendung. Aber sein großes Talent wußte den Mangel zu verdecken und auch in den Gesangspartien, an welche man damals freilich bescheidenere technische Ansprüche stellte als heutzutage, stürmischen Applaus zu ernten.

Im Jahre 1833 machte ich in München die Bekanntschaft des einst berühmten, steinalt verstorbenen italienischen Sängers Brizzi, der von Karl August im Jahre 1810 und 1811 nach Weimar berufen worden war, um eine italienische Oper einzurichten. Nachdem ich mich ihm als Weimaraner zu erkennen gegeben hatte, war seine erste Frage: Wie geht es Deny? – In wenig Worten erzählte ich ihm, verwundert, daß er davon keine Kenntnis hatte, Denys schon lange erfolgtes tragisches Ende. Dem alten Manne bebten vor Schmerz die Lippen, die Augen wurden feucht, er faltete die Hände und sagte halblaut: „Requiescat in pace! Ich habe einst auf fast allen Theatern Italiens gesungen und doch nirgends einen Buffo gefunden, wie Weimar an Deny besaß. Die Recitative hat keiner gesungen wie er.“

Und diesen Schatz von Begabung und nie versagender Leistungsfähigkeit besaß die Weimarer Bühne um 550 Thaler jährlich, aber nur in seinen letzten Zeiten. Früher mußte sich Deny mit einer weit geringeren Summe begnügen!

Mehr als ein Jahrzehnt war verstrichen, seit er sich vom namenlosen Anfänger zum Liebling des Publikums emporgeschwungen hatte, da sollte der April des Jahres 1817 den traurigen Konflikt bringen, welcher Goethe vom Weimarer Theater schied. Jedermann kennt seinen Widerspruch gegen die berüchtigte „Hundekomödie“ sowie die Thatsache, daß die Freundin des [782] Herzogs Karl August, die Schauspielerin Jagemann, die Aufführung trotzdem durchzusetzen wußte. Ihr konnte es ja nur willkommen sein, wenn Goethe die Direktion niederlegte und somit sie selbst einen Einfluß gewann, der undenkbar war, so lange sein machtvoller Geist das Ganze beherrschte.

Auch Deny war in jener „Hundekomödie“ mit einer Rolle bedacht, aber er hatte sie sich durchaus nicht selbst erbeten, wie Gotthardi in seinen „Weimarischen Theaterbildern“ irrtümlich angiebt, sondern er empörte sich mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines Wesens gegen die Zumutung, gemeinschaftlich mit einem dressierten Hunde zu agieren. Er verweigerte unter den heftigsten Ausbrüchen künstlerischen Zornes und unter schonungslosen Schmähungen gegen die Urheberin jenes Skandals die Annahme der Rolle, in der Ueberzeugung, daß ihm Goethe den Rücken decken würde.

Hiervon konnte nun freilich nicht mehr die Rede sein. Eine so offene Auflehnung und Weigerung war aber damals etwas ganz Unerhörtes und Karl August, der, was den Gehorsam seiner Diener betraf, keinen Spaß verstand, ließ Deny nur die Wahl zwischen Annahme der Rolle oder 14 Tagen Arrest auf der Hauptwache. Solchen Arrest hatte früher einmal Unzelmann zu kosten bekommen, der gegen das Verbot des „Extemporierens“ gesündigt hatte. Deny spielte nun; aber selbst noch während der Vorstellung stieß er laute und maßlose Verwünschungen gegen die Urheberin des Skandals und deren Genossen aus.

Von der Zeit an warf jene Frau, die nach Goethes Abgang von der Direktion unbeschränkte Beherrscherin des Theaters wurde, einen tödlichen Haß auf Deny. Sie drangsalierte und quälte ihn, wie und wo sie immer konnte, und führte sein trauriges Ende unter Beihilfe ihrer Kreatur, des Schauspielers Hunnius, herbei, welchen sie zum Regisseur machte, als Oels nach Goethes Abgange die Regie freiwillig niederlegte und Graf Edling als Intendant an Goethes Stelle trat. Oels konnte mir die Qualen nicht lebhaft genug schildern, die ihm jene „Hundekomödie“ durch die Verhandlungen mit Karl August, Goethe, der Jagemann und dem Grafen Edling verursacht hatte.

Im Jahre 1820 fiel Deny infolge eines heftigen Aergers in eine lebensgefährliche Krankheit, welche zur traurigen Folge hatte, daß ihm von da an sein Gesangsorgan nicht mehr unbedingt gehorchte. Gewisse Töne schlugen ihm bisweilen und unvermutet in der Fistel um. In der komischen Oper hatte das weniger zu bedeuten, störend war es dagegen in der opera seria.

„Das Publikum sind alle Leut’,
Drum ist es dumm und auch gescheut“ –

und so kam es denn, daß einige von den „Dummen“ lachten, wenn Deny jenes Malheur passierte, uneingedenk der bekannten, höchst reizbaren Empfindlichkeit des Künstlers, welchem man so viele große und unvergeßliche Genüsse verdankte. Denys Stolz wurde dadurch aufs schärfste gekränkt, zumal er sich einredete, jene Lacher seien von seiner Feindin, der Jagemann, gedungen. Aber in richtiger Erkenntnis seiner Lage bat er wiederholt und dringend, ihn fortan von den Partien in der ernsten Oper zu entbinden. Umsonst! – man ließ ihn abschlägig bescheiden. Ja, es schien in der Folge, als werde er jetzt erst recht mit derartigen Partien bedacht. Seine gewiß wohlbegründete Entrüstung steigerte sich allmählich bis zur Wut gegen Hunnius und dessen Gebieterin.

Da – am 12. Januar 1822 – wurde die Oper „Wittekind“ gegeben, eine Komposition von dem damaligen zweiten Flötenbläser Lobe, welcher später, als Kapellist pensioniert, zum Professor des Leipziger Konservatoriums aufrückte und mancherlei Mitteilungen aus der Kunstwelt veröffentlichte. Deny sang den Clodion, obersten Heerführer der Sachsen. Gleich in seiner ersten Scene schlug ihm ein Ton um, und wiederum ließ sich jenes halblaute Gelächter vernehmen, das für Denys empfindliches Ohr so entsetzlich war. Er brach, nachdem er von der Scene abgegangen, in Wutflüche gegen Hunnius aus, der es für gut befunden hatte, ihm aus dem Wege zu gehen, und war nur mit Mühe zum Wiederauftreten zu bereden. – Unglücklicherweise geschah es an diesem Abende ein zweites Mal, daß ihm die Stimme umschlug. Das verhängnisvolle Gelächter ward diesmal noch hörbarer und da mit einem Male – es war ein fürchterlicher Augenblick, den ich selbst mit durchlebt habe – ging blitzschnell eine Veränderung mit ihm vor, welcher die Zuschauer vor Entsetzen erstarren ließ. Seine Gesichtsmuskeln begannen auf eine schreckliche Weise zu zucken, der Ausdruck veränderte sich ins Grauenhafte, die Augen stierten wild um sich her – der Unglückselige war plötzlich wahnsinnig geworden!

Noch in halbem Bewußtsein stürzte er sich auf einen Statisten, riß diesem eine Pike aus den Händen und raste von der Scene fort, um – Hunnius zu durchbohren.

Der Vorhang fiel. Eine lautlose Stille herrschte im Zuschauerraume. Keiner wagte auch nur zur Seite zu blicken, keine Verkündigung erfolgte von der Bühne herab, daß die Oper nicht zu Ende geführt werden könne. Schweigend und tief erschüttert erhob sich einer nach dem andern und verließ das Haus, das nach zehn Minuten vollständig geleert war. Draußen hörte man dann die Kunde von dem grauenvollen Auftritt hinter den Coulissen, der die Bestätigung der schlimmsten Befürchtungen gab.

Hunnius hatte sich schleunigst in Sicherheit gebracht; gleichzeitig stürzte man sich von allen Seiten auf Deny, um ihm die Waffe zu entwinden. Der Angriff brachte bei ihm die Tobsucht vollständig zum Ausbruch, er setzte sich wütend zur Wehr, bis es endlich gelang, ihn zu überwältigen.

Geknebelt an Händen und Füßen, wurde der beklagenswerte Mann aus dem Theater und tags darauf in die Irrenheilanstalt nach Jena gebracht. Dort raste er sich in kurzer Zeit zu Tode.

Der Schmerz um den Verlust des als Schauspieler allgemein beliebten Deny und die Teilnahme für seine Familie war in allen Kreisen eine große. Noch hoffte man auf Rettung. Aber schon damals wendete sich die Entrüstung der empörten Gemüter gegen die bekannten Urheber des traurigen Ereignisses.

Im Zuschauerraume des damaligen Weimarischen Theaters sah es anders aus als in dem heutigen. Während jetzt die Männer von höherer Bildung und Stellung sich vielfach vom Besuche des Theaters abgewandt haben, waren damals die derselben Gesellschaftsklasse angehörenden Männer fast sämtlich regelmäßige Besucher des Theaters. Das Parterre namentlich war es, welches in jener Zeit ein ganz anderes Gesicht zur Schau trug als jetzt. Dort saßen regelmäßig die Räte, Assessoren und Sekretäre der „Regierung“, wie vordem das Landesjustizkollegium hieß, der Landesdirektion, des Landschaftskollegiums und andere desselben Ranges und derselben Bildung. Der Abonnementspreis war so niedrig – ungefähr 5 Mark jetzigen Geldes im Parterre für 12 Vorstellungen –, daß selbst ich als Gymnasiast von meinem Taschengelde denselben erschwingen und meine grenzenlose Theaterlust befriedigen konnte. Jenes Parterre nun bildete das Tribunal, von welchem Stücke und Schauspieler abgeurteilt wurden, und das übrige Publikum erkannte es willig und unbedingt als obersten Gerichtshof an. – Man applaudierte den Schauspielern, sofern sie gefallen hatten, jedesmal bei ihrem Abgange, aber nur mäßig mit 4 bis 6 Schlägen, nach dem Beispiele Goethes, der dieses Maß nie überschritt. Das genügte dem Schauspieler jener Zeit. Mußte er aber ohne dieses Beifallszeichen von dannen gehen, so war das für ihn eine schwere Demütigung. Sogenannter „rasender und nicht enden wollender Applaus“ kam nie vor. Nie störte man den Gang und Zusammenhang einer Scene durch einfallendes Klatschen. Der Hervorruf, mit dem jetzt sogar bei offener Scene von dem Theaterpublikum ein solcher Unfug getrieben wird, daß dadurch jede Illusion zerstört wird und daß er längst für den vernünftigen Schauspieler jeglichen Wert verloren haben sollte, war nur für außerordentliche Gäste und nur am Ende des Stücks erlaubt, kam aber auch da selten vor. Ich erinnere mich, ihn damals nur bei Iffland, der 1813 das letzte Mal in Weimar gastierte, bei Eßlair und Ludwig Devrient erlebt zu haben. Des überdies streng verbotenen Pfeifens und Pochens als Ausdrucks der Mißbilligung bedurfte es folglich auch nicht. Ein Schauspieler, der in einer bedeutenden Rolle ohne jenes Zeichen des Beifalls abgehen mußte, fühlte sich tiefer gedemütigt als heute ein zehnmal ausgepfiffener. Es kam dies auch äußerst selten vor, Deny zum Beispiel hatte es nie erlebt.

Mit ängstlicher Spannung und tiefer Teilnahme vernahm jetzt ganz Weimar die von Jena herkommenden Nachrichten von seinem Zustande. Leider lauteten sie sehr betrübend, und als am 9. März die Meldung kam: Deny ist in Raserei gestorben, ging durch die Stadt ein Schrei der Entrüstung gegen die, welche man offen seine Mörder nannte, und ein tiefes Bedauern um seinen Verlust. Dieses allgemeine Gefühl vereinigte das Publikum zu einem Racheplan, der jedoch in aller Stille vorbereitet wurde. Als der Vorstellungsabend kam – es wurde die „Reise zur Hochzeit“ [783] gegeben – stieg Herr Friedrich von Germar vom Balkon, dem vorzugsweise von Adeligen besetzten ersten Rang, herunter in das Parterre und verkündete dort laut: „Es bleibe bei der Verabredung für heute abend!“ Hunnius spielte den Gastwirt Schnipfer. Sowie er auf der Bühne erschien, geschah, was im Weimarischen Theater bis dahin nie erlebt worden: das gesamte männliche Publikum, vom Parterre bis zur Galerie, begann ein so fürchterliches Pochen und Pfeifen, daß es mich eiskalt überlief und man nicht anders glaubte, als das alte wackelige Haus werde zusammenbrechen. Viele junge Mädchen, Frauen und Kinder ergriffen, schreiend vor Schrecken, die Flucht aus dem Hause. Dabei waren aller Blicke wie aus einem einzigen Auge auf die Jagemann gerichtet, Hunnius’ intime Freundin und Beschützerin, welche ihren Platz auf dem linken Balkon hatte. Zitternd, totenbleich, beinahe bewußtlos saß sie da, als das furchtbare Gericht über sie erging.

Noch sehe ich den „alten Herrn“, den Herzog! Er saß an jenem Abend, wie er oft pflegte, nicht in der sogenannten Herrschaftsloge, sondern ziemlich in der Mitte des linken Balkons. Als das Gericht begann, erhob er sich, und beide Hände auf die Brüstung stemmend, sah und hörte er, dem furchtbaren Lärm gelassen zu, bei welchem seine Minister, Räte und Hofherren kräftig mitwirkten.

Der unverschämte Mensch, welchem diese allgemeine Kundgebung hauptsächlich galt, war frech genug, sich vorn an die Rampe zu stellen und – beide Hände in die Rocktasche steckend – mit lächelnder Miene die Achseln zu zucken, als wollte er sagen: „Macht’s mit ihr aus, meiner Gebieterin! Mir könnt Ihr nichts anhaben.“ Als jene Dame sich einigermaßen erholt hatte, stand sie auf und verließ schwankenden Schrittes das Haus, welches sich unter lautem Getöse bis auf einige wenige entleerte, vor denen das Stück weiter gespielt wurde. So geschah es im Hoftheater zu Weimar am Montag den 11. März 1822, zwei Tage nachdem die Nachricht von Denys Tode eingetroffen war.

Sonnabend darauf, am 16. März, war das damals sehr beliebte Singspiel „Fanchon, das Leyermädchen“ von Kotzebue und Himmel zur Aufführung bestimmt, in welchem Deny durch seine graziöse Erscheinung als Husarenlieutenant St. Val das Publikum immer entzückt hatte. Hunnius spielte den Tapezier Martin. Sobald das Publikum ihn erblickte, erneuerte sich der grauenhafte Lärm in womöglich noch heftigerer Weise als am elften, denn das Haus war heute gedrängt voll. Dann verließen wieder drei Vierteile des Publikums das Theater. – Der „alte Herr“ schaute wieder ruhig zu. Die Dame war, nichts Gutes ahnend, gar nicht erschienen. Ein junger talentvoller und hübscher Schauspieler – Thieme – spielte Denys Rolle, den St. Val, recht gut, konnte sich aber nicht des mindesten Beifallszeichens erfreuen.

Hunnius, ein gar nicht übler Schauspieler, wurde von da an nie wieder applaudiert und kam einige Jahre danach um seine Pension ein, die ihm gewährt wurde. Am Tage der dritten Aufführung nach Denys Tode verkündeten Plakate an sämtlichen Eingangsthüren zum Theater mit Riesenlettern, „daß zu sofortiger Arrestation geschritten werden würde, wenn sich Scenen ähnlicher Art wie neulich im Publikum wiederholen sollten“. Im offiziellen Weimarischen Wochenblatt erschien an der Stelle der Ministerial-Bekanntmachungen die folgende:

„Die Voraussetzungen, unter welchen bisher alle ausdrücklichen Verbote eines unanständigen Betragens in dem Großh. Hoftheater allhier überflüssig waren, scheinen leider wegfallen zu wollen. Zum Schutze des Publikums vor Störungen und zur Sicherung des Anstandes und der Sitte, durch welche die fortdauernde Oeffnung des Großh. Hoftheaters für dasselbe bedingt ist, wird andurch alles Pfeifen, Pochen und Lärmen im Schauspielhause bei ernster Ahndung untersagt. Der Zuwiderhandelnde hat, ohne Ansehen der Person, zu erwarten, daß er aus dem Schauspielhause und zu polizeylicher Haft werde gebracht werden.

Weimar am 19. März 1822.
Großherzogl. Hof-Theater-Intendanz.“ 

Die Wachen, die bekannten Leibhusaren, denen die Exekutive der Theaterpolizei oblag, waren verdoppelt. Es war dies unnötig. Das Publikum hatte sein Urteil gesprochen und die Strafe an Hunnius öffentlich mit bisher unerhörter Strenge vollzogen. Damit war seinem Rechtsgefühl vorläufig Genüge geschehen.

Am 23. März erschien Madame Jagemann zuerst wieder auf den Brettern in der Oper „Mahomet“ von Winter als Seïde.

An die allgewaltige Freundin des gnädigsten Herrn, wagte man sich denn doch nicht in gleicher Weise wie an einen gewöhnlichen Schauspieler, zumal man überzeugt sein konnte, daß Karl August mit der angedrohten Arrestation sofort Ernst machen würde. Aber es gab ein anderes Mittel zu einer nicht weniger empfindlichen Strafe!

Madame Jagemann war als ausgezeichnete Sängerin und Schauspielerin ebenso wie die anderen ersten Mitglieder an regelmäßigen Applaus gewöhnt, ein Ausbleiben desselben hatte sie noch nie erlebt.

Darauf nun war der Schlag berechnet. Das Publikum hatte einmütig beschlossen, ihr bei ihrem nächsten Auftreten gar nicht, den Mitspielenden desto lebhafter zu applaudieren. Und so geschah ihr am 23. März 1822. Nur die Hände von zwei oder drei käuflichen Wichten, deren es damals ebensogut wie zu allen Zeiten gab, wollten sich rühren, wurden aber durch ein allgemeines und entschiedenes Zischen sofort und für den ganzen Abend zur Ruhe gebracht. Die „Husaren“ unterließen es jedoch, gegen die Protestler einzuschreiten.

Dieser Schlag traf die Dame hart. Am andern Tage erzählte der Kammermusikus Eberwein uns an der Mittagstafel im „Schwan“, gestern abend habe die Darstellerin des Sklaven Seïde nach dem ersten Akte sich heulend vor Wut auf die Ottomane ihres Ankleidezimmers geworfen und durchaus nicht weiter singen wollen. Da habe Stromeyer, ihr Günstling, ihr vorgestellt, sie dürfe dem Publikum den Triumph nicht bereiten, sie von der Scene vertrieben zu haben. Das habe gewirkt.

Das Publikum aber, welches sein Verhalten gegen die Dame bis zum Schluß der Oper konsequent durchsetzte, schwelgte im Genuß seiner Rache, als es in den folgenden Akten die verweinten Augen und das Zittern des schwer getroffenen Sklaven Seïde bemerkte …

Umsonst! Umsonst! Alles umsonst! Deny war durch das seinen Manen dargebrachte Sühnopfer nicht wieder zu erwecken. Das Weimarische Publikum hatte seinen Liebling, das deutsche Theater einen seiner begabtesten Künstler unwiederbringlich verloren. Und wie jung war er dem grausigen Tod zum Opfer gefallen! Wilhelm Deny stand, als er starb, im siebenunddreißigsten Jahre.


  1. Die hier der Oeffentlichkeit übergebenen Erinnerungen an die klassische Zeit der Weimarer Bühne rühren von einem jetzt verstorbenen zuverlässigen Kenner der dortigen Theaterverhältnisse her und sind durchaus authentisch. Die Redaktion.