Berlin bei Nacht
Von Franz Wallner.
Ein Schrei des Entsetzens scholl durch ganz Berlin, als am 19. April d. J. früh Morgens am Sperrbalken, zwischen dem Stralauer- und Frankfurterthor – dem sogenannten Oberbaum – ein blutiger Sack entdeckt wurde, der die furchtbar verstümmelte Leiche des Prof. Gregy, einer bekannten Persönlichkeit, enthielt, und unverkennbare Spuren auf einen inmitten der Stadt begangenen Raubmord hinwiesen. Fast schien es, als ob die rastlose Thätigkeit der Stützen der Berliner Criminalpolizei[1] zur Erforschung der Urheber des gräßlichen Verbrechens fruchtlos sein sollten; Tag um Tag verging, und weder die beispiellose Aufopferung der Gerichtsbeamten noch die ausgesetzte hohe Belohnung des Polizeipräsidiums für den, der auf die Spur der Thäter leiten könne, brachte das geringste Licht in das grauenvolle Dunkel. Die Erzählungen der Einzelnheiten des schauerlichen Vorfalls bildeten das Tagesgespräch vom Palast bis zur Hütte. Vergebens die successive Erhöhung des ausgesetzten Preises für die Entdeckung der Mörder, vergeblich die rastlose Mühe der routinirtesten Criminalcommissäre; es schien, als ob die Nacht, welche das Verbrechen erzeugt, einen ewigen dichten Schleier über dasselbe ausgebreitet habe. Auch durch das öffentlich an den Anschlagsäulen befestigte photographische Bild des Ermordeten, in seiner gewöhnlichen Kleidung, konnte nicht ermittelt werden, wo das Original die letzten Lebensstunden zugebracht habe.
Allein Blut schreit um Licht, und der Mord will an den Tag, und so kam es endlich dahin, daß man inmitten der Stadt ein vollständiges Raubnest entdeckte, in welchem der unglückliche Franzose, freilich nicht ohne eigenes Verschulden, sein grauenvolles Ende finden sollte.
Das Weitere in diesem Drama haben die sämmtlichen Journale ausführlich geschildert, und die letzten Acte vor den Assisen und dem Schaffot werden wohl nicht lange auf sich warten lassen. Dies Ereigniß hat aber gezeigt, in wie vielerlei Gestalten sich in großen Hauptstädten das Verbrechen vor dem Auge der Gerechtigkeit verbirgt, in wie viele Stufen die Schlupfwinkel zerfallen, in welche die Feinde der Gesellschaft flüchten.
Vielleicht brauche ich darum den Leser der Gartenlaube nicht um Verzeihung zu bitten, wenn ich ihn auf einen Moment in diese Regionen einführe, in welche nur selten ein flüchtiger Blick dringen kann; denn es ist nothwendig, durch diese entsetzliche Nachtseite im Leben unserer modernen Großstädte sich von Zeit zu Zeit recht eindringlich daran mahnen zu lassen, welche furchtbare Schatten sich hinter dem blendenden Glanze unserer heutigen Civilisation verstecken, wie fern das Ziel noch liegt, welches die menschliche Gesellschaft anzustreben hat.
Berlin hat eine Reihe anrüchiger Locale, wo sich der Leichtsinn, die Prostitution und das Verbrechen breit machen und – verstecken, Plätze, welche das scharfe Auge der Sitten- und der Sicherheitspolizei unablässig beobachtet. Von den goldstarrenden, lichtumstrahlten Balllocalen: Musenhalle, Orpheum, Ballhaus etc. etc. bis zu den elendesten Tanzkneipen herab, stehen alle diese Locale unter der strengsten Controlle. Nur selten verirrt sich der schwere Verbrecher in die glänzenden Räume des wirklich höchst geschmackvollen Orpheums oder in die Musenhalle; nur der Lehrling der Gesetzwidrigkeit, der junge Kaufmannsdiener, der bereits Eingriffe in die Casse seines Herrn versucht, und der feine, raffinirte Gauner verkehren hier mit den eleganten, aber für Jeden zugänglichen Dirnen. Der Officier, welcher die Uniform mit der Civilkleidung vertauscht, um im bunten Gewühle unerkannt eine kleine Orgie zu feiern, der Fremde, den der etwas mehr als zweideutige Ruhm dieser Locale dahin lockt, das sind neben jenen die Elemente, aus denen das Publicum derselben zusammengesetzt ist.
Das Orpheum hat alle die zahlreichen ähnlichen Etablissements der preußischen Hauptstadt durch den wirklich märchenhaften Glanz seiner Ausstattung weit überflügelt; namentlich kann der Garten mit seinen tausenden von geschmackvollen Gaskörpern mit Mabille und Chateau des fleurs in Paris siegreich in die Schranken treten. Schade, daß dieser behagliche Aufenthalt dem eigentlichen anständigen Publicum Berlins eine terra incognita bleiben muß.
Einen gewaltigen Sprung machen wir, wenn wir uns in die Kürassierstraße, in die sogenannte „Kitzelpelle“ begeben, ein Local, welches in letzterer Zeit nicht mehr den bösen Ruf verdient, in dem es steht. Früher bestand das Stammpublicum dieses Tanzlocals notorisch fast gänzlich aus Verbrechern, Dieben, Einbrechern, Fälschern, Dirnen der untersten Classen und allenfalls den in der Nähe arbeitenden Fabrikmädchen. Sogar das Orchesterpersonal war aus bestraften Subjecten zusammengesetzt. Ueber der Casse prangte eine Tafel mit der an diesem Orte ungemein burlesk wirkenden Inschrift: „Vor Taschendieben wird gewarnt“. Bei einem plötzlichen Ueberfall der Polizei, der sich öfter ereignete, als den Besuchern lieb war, fand man den Boden bedeckt mit rasch weggeworfenen Nachschlüsseln, Dietrichen und anderen Diebswerkzeugen. Jetzt ist das Publicum dort schon mehr gemischt; es finden sich ab und zu einige ehrliche Elemente aus den unteren Ständen ein, Handwerksbursche und ihre Mädchen, die, in der Absicht sich um jeden Preis zu amüsiren, sich im frohen Kreise herum wirbeln – den Mittelpunkt dieses Kreises bilden freilich noch Polizeibeamte von der Criminal- und Sitten-Abtheilung, theils in Uniform, theils in Civil. Ein Genremaler könnte hier die wirksamsten Studien machen, hier wo die wahrste Gleichberechtigung herrscht und die rauschende Seidenrobe in friedlichster Eintracht neben dem ärmlichsten Kattunkleide walzt und polkt. Der eigentliche schwere Verbrecher verkehrt jetzt hier selten, er wohnt entweder bei der „Seinigen“ oder er sucht, zu einem beabsichtigten Fang, seine Gesinnungs- und Geschäftsgenossen an einsameren Orten auf, wo das Auge der Sicherheitsbehörde weniger belästigend sein Treiben verfolgt, wo er mit Muße die Stunde abwarten kann, in welcher sein Nachtwerk beginnt. Der routinirte Gauner wendet sich nach Mitternacht den sogenannten „Kaffeeklappen“ und nächtlichen Conditoreien zu, die erst nach zwölf Uhr geöffnet werden und wo er bei einer Tasse sogenannten Moccakaffees, der sechs Pfennige kostet, Gelegenheit hat, seine Operationspläne mit den Cameraden zu verabreden und ersteren die frische That folgen zu lassen.
Diese Kaffeeklappen an der Königsmauer, am Oranienburgerthor und anderen wenig besuchten Orten dienen dem Verfolgten auch zuweilen als Asyl. Ein sehr ergötzliches Intermezzo bildete [457] einst eine locale Überschwemmung, welche durch das Platzen der Wasserleitungsröhren entstand und aus einem in der Alexanderstraße befindlichen Verbrecherkeller den wirthlichen Hehler und seine verborgenen Gäste gleich nassen Mäusen an’s Tageslicht und in die Hände der darüber selbst erstaunten Polizei trieb. Merkwürdig ist die Anhänglichkeit, welche die Verbrecherdirnen zu dem Gegenstand ihrer Neigung entwickeln. Sie greifen zu allen möglichen Mitteln, bringen jedes Opfer, um mit ihrem Geliebten in Verkehr zu treten, wenn er „Unglück hat“ und in Untersuchungshaft geräth; sie nehmen vor der Abführung der Verurtheilten im Gefängnißhof den rührendsten Abschied, sie berechnen Tag und Stunde, wenn derselbe seine Strafe überstanden hat, und wallen an den Ort seiner Haft, um ihm bei seiner Freiheit die offene Hand und in derselben die mühsam ersparten Pfennige entgegenzubringen. Wehe dem Unglücklichen aber, wenn er sich dieser Opfer unwürdig macht, wenn er Grund zur Eifersucht giebt! Aus der heiß Liebenden wird eine rachsüchtige Megäre, welche zuerst die tiefsten Geheimnisse des Verbrechers der Polizei offenbart. Gewiegte Criminal-Commissäre benutzen diese erfahrungsmäßige Leidenschaft, lassen dieselbe auf geschickte Weise durch schlaue Vigilanten zur hellen Flamme anfachen, um sich da Licht zu schaffen, wohin sonst kein Späherauge eindringen kann.
Aehnliche Anstalten, wie die „Kitzelpelle“, sind der „Todtschlag“, ein düsteres Local in der Ackerstraße, zu welchem man über einen langen Hof gelangt. Der „Todtschlag“ hat auch sein eigenes Liebhabertheater, und die Künstler nehmen es sehr übel, wenn ihren Leistungen nicht die gehörige Aufmerksamkeit gewidmet wird, ja vorlaute Unterbrechungen werden von dem Darsteller oder der Darstellerin sogleich mit einem sehr empfindlichen „Ich verbitte mir dergleichen“ gerügt. Die „Linde“ vor dem Cottbusser Thore hat ihr Spitzbubenpublicum verloren und wird, seit die Säle umgebaut und vergrößert worden, nur von Handwerkern besucht. Der „Schmortopf“ vor dem Stralauer Thor, ein furchtbar heißer kleiner Tanzsaal im ersten Stockwerk, wird meistens von Schiffern, Holzarbeitern und nur sporadisch von Personen frequentirt, die schon über irgend einen Paragraphen des Criminalgesetzbuches gestolpert sind.
Die Berliner Criminal-Commissäre sind schon so vertraut mit der Art und Weise, in welcher berüchtigte Verbrecher bei ihren Manipulationen vorzugehen pflegen, daß sie aus der Art und Weise der letzteren die Personen errathen, welche bei Hauptanschlägen beschäftigt waren. Vor längerer Zeit setzten z. B. einige mit beispielloser Frechheit ausgeführte Einbrüche die Geschäftswelt der Residenz in Angst und Schrecken. So wurden in der Brüderstraße bei dem Seidenwaarenfabrikanten Magnus für zehntausend Thaler Stoffe gestohlen, bei einem Eisenhändler in der Friedrichsstraße ward das Geschäftslocal gewaltsam eröffnet und die schwere eiserne Geldspinde, worin sich ungefähr zweitausend Thaler befanden, ganz ungescheut auf einen Handwagen gepackt und weggeführt. Wenige Tage darauf fand man diesen eisernen Schrank auf dem Köpnicker Felde, seines Inhaltes beraubt, mit einem kreisrunden, künstlich eingeschnittenen Loche in der Thür. Hierdurch wurde der Verdacht der Mitbetheiligung auf einen viel bestraften flüchtigen Dieb, den Kunstschlosser Arnold, gelenkt, auf welchen jedoch die Polizei lange Zeit vergebens fahndete. Neun Einbrüche wurden in ganz kurzen Zwischenräumen mit gleicher Frechheit vollzogen; diese ging soweit, daß die Diebe zweitausend Thaler Wertpapiere, welche sie bei einem Gärtner in der Commandantenstraße gestohlen hatten und nicht unterbringen konnten, unter Couvert per Post an den Criminal-Commissarius Pick zurücksandten. Die amtlichen Recherchen ergaben, daß alle diese Einbrüche mit denselben Werkzeugen, in gleicher Weise verübt worden waren, ja man fand sogar nach einem dieser Einbrüche ein von den Gaunern zurückgelassenes Feuerzeug, welches einige Tage vorher bei Ausübung eines ähnlichen Verbrechens an einem anderen Orte gestohlen worden war. Da hinterbrachte ein Vigilant die Anzeige, daß in einem Blumenkeller in der Alexanderstraße sich verdächtiges Treiben offenbare. Der Eigenthümer, ein gewisser in der Hehlerwelt bekannter Liebscher, wurde in aller Stille aufgehoben, und bei einer Untersuchung der Wohnung fand man nicht nur viele Spuren offenbar gestohlenen Gutes, sondern auch, als Hauptbelastungsbeweis, das aus der Geldspinde des Eisenhändlers Renne ausgeschnittene kreisrunde Stück.
Nun wurde, wie es in der Kunstsprache heißt, „die Klappe aufgemacht“. Sobald die Criminalpolizei sich von der Schuld des Hehlers, einer längst berüchtigten Persönlichkeit, überzeugt hatte, wurde derselbe in Gewahrsam gebracht und in dessen Wohnung einige Beamte in Civilkleidung verborgen. Einer derselben übernahm das Amt des Verkäufers, gab sich bei den „alten Kunden“ des Hauses für einen Verwandten des „Vater Liebscher“ aus, der in Geschäftsangelegenheiten verreist sei, ihm aber ausreichendste Fonds und Vollmachten hinterlassen hätte. In kurzer Zeit waren in dieser Falle nicht nur eine ganze Reihe und zwar zweiundneunzig der bekanntesten Diebe Berlins, welche das gestohlene Gut zu verwerthen kamen, gefangen, sondern auch die unzweifelhaftesten Spuren einer weitverzweigten Einbruchsbande entdeckt, welche seit längerer Zeit die bemittelte Classe der Residenz in Angst und Schrecken gesetzt hatte.
Einmal im Besitze so starker Handhaben, war es den gewiegten Beamten leicht, die ganze Einbruchsbande in die Hände zu bekommen. Diese bestand, inclusive der Hehler, aus fünfzehn Personen, welche sich an den gedachten neun großen Einbrüchen betheiligt hatten. Fast alle Mitglieder dieser Genossenschaft wurden bei ihrer Verhaftung im Besitze scharfer Stichwaffen und geladener Pistolen gesfunden. Die geraubten Gelder, so weit selbe noch vorräthig waren, wurden in den verschiedensten Verstecken aufgefunden, in Vogelbauern, unter Spielkarten, in der Erde der Blumentöpfe etc. Die meisten der Verbrecher gehörten dem feineren Mittelstande an und bekundeten dies durch die Eleganz ihrer Ausdrucksweise in den Verhören und auf der Anklagebank, bei welcher freilich manchmal auch viel Verschrobenheit und Afterbildung hörbar wurde. Als der Criminal-Commissär Pick – einer der tüchtigsten Beamten der hiesigen Sicherheitspolizei – u. A. den erwähnten Schlosser Arnold frug, warum er bei seinen Fähigkeiten nicht auf ehrliche Weise sein Brod verdienen wolle, entgegnete er ihm: „Ich stehe mit der Welt im Kriege und habe das Recht, zu nehmen, was ich bekommen kann, denn schon Moses sagte beim Auszug nach Canaan: ,Nehmt Alles, was den Ungläubigen gehört.“ Auf die Frage, wie er es angestellt habe, das kreisrunde Loch aus dem eisernen Spinde herauszuschneiden, antwortete das Diebsgenie mit Stolz: „Archimedes schon machte sich anheischig, die Welt aus ihren Angeln zu heben, wenn man ihm einen festen Punkt gebe.“
Wenn je das Sprüchwort: „Wie gewonnen, so zerronnen“, seine richtige Anwendung findet, so ist es bei diesem Gelichter. Nach den angestellten Ermittelungen hatten die Gauner das gestohlene Gut auf die tollste Weise verschwendet und zwar durchgehends mit den Damen ihrer Herzensneigung, welche alle der Demi-monde angehörten. Einer der Diebe jener Bande verschleuderte z. B. an einem Tage über tausend Thaler; unter anderen Gegenständen zarter Aufmerksamkeit hatte er seiner Geliebten zwei falsche Haarzöpfe für achtundzwanzig Thaler gekauft.
Das Drama hatte kaum mit der Verurtheilung aller Betheiligten geendet und die Gemüther etwas beruhigt, als neue ununterbrochen stattfindende Einbrüche neues Entsetzen verbreiteten. Diesmal hatten sich die Gauner die am Thiergarten gelegenen vornehmen Straßen zum Schauplatz ihrer Thätigkeit ausersehen. Die Physiognomie der letzteren war stets dieselbe: Uebersteigen der Balcons und Ausschneiden der Thürenfüllungen. Endlich wurde indeß auch diese saubere Sippschaft in einem Weinlocale in der Friedrichsgracht bei dem Hochzeitsfeste eines Spießgesellen überrascht, wo die Bande bereits für 125 Thaler Wein verzehrt hatte. Sämmtliche Gäste dieses Freudenfestes hatten zusammen eine Zuchthausstrafe von 300 Jahren theils hinter sich, theils waren sie dem auf ihre Personen kommenden Antheil durch Flucht aus dem Wege gegangen.[2] Unterstandslose Diebe treiben sich in der Nacht im Thiergarten und zwischen dem Landsberger- und Königsthor herum. Der [458] Sommer ist die ersehnte Zeit für diese Strolche. Dann und wann liefert eine große, treibjagdartige Razzia der Berliner Polizei einen unheimlichen Beweis, wie viel obdachlose Personen die Residenz unsicher machen. Einen riesigen Heuhaufen im Freien fand man bei einem solchen Streifzug in Weißeneee ganz durchwühlt von Dieben und Diebinnen, welche diese sonderbare Herberge zu Schlafstätten erwählt hatten, in die sie von allen Seiten hineingekrochen waren.
Wird’es in Berlin zu unsicher, sieht das Auge der Polizei dem verpönten Treiben einmal zu scharf auf die Finger, so gehen die routinirten Verbrecher nicht selten auf Kunstreisen und verschwinden eine Zeit lang vom Schauplatz ihrer Thätigkeit, um in den Provinzialstädten ihr Talent zu verwerthen und neue Opfer zu suchen.
Die Hehler sind fast noch gefährlichere Subjecte als die Diebe. Während letztere ihnen für verhältnißinäßig kleinen Gewinn die Kastanien aus dem Feuer holen, mästet sich der Hehler mit dem Löwenantheil, sucht sich von allen Seiten, den Behörden gegenüber, schlau zu decken, die Beweismittel abzuschneiden und zieht sich nicht selten als wohlhabender Mann „von’s Geschäft zurück“. Freilich darf er die Frechheit nicht so weit treiben, wie der unlängst ertappte Besitzer eines solchen Hehlerlocals in der Gypsstraße, der in seiner Behausung vollständige Auctionen des gestohlenen Gutes veranstaltete und dies der Nachbarschaft bekannt machte.
Nach und nach beginnen jedoch, Dank der unermüdeten Sorgfalt der noch vom Director Stieber her vortrefflich organisirten Criminalpolizei, die Verbrecherlocale in Berlin immer seltener zu werden; so ist auch der eigentlichste dieser Keller, in welchem fast nur bestrafte Personen verkehrten und der inmitten der Stadt – Königsstraße Nr. 36 – lag, vor Kurzem aufgehoben worden. Die geübten Beamten kennen durch ihre ununterbrochene Thätigkeit in ihrem Fache fast alle notorischen Diebe und wissen sie im geeigneten Moment zu finden, ohne einen besonderen Versammlungsort für dieselben toleriren zu müssen, welcher immer der Residenz und den Behörden zur Unehre gereichen würde. Dilettanten und Anfänger im Geschäft fallen ohnehin dem Gericht bald in die Hände.
Schreiber dieses war einst Zeuge eines urgemüthlichen Verhörs, welches der jüngst verstorbene Criminal-Commissär Roggenstein mit einem wieder rückfällig gewordenen alten Diebe hielt, der vor Kurzem eine fünfjährige Zuchthausstrafe in Spandau verbüßt hatte.
Der Gauner, eine ausgeprägte Galgenphysionogmie mit verschmitzten kleinen Aeugelchen, wurde Roggenstein vorgeführt, der ihn lächelnd, einen Fuß auf dem Stuhl, den Ellenbogen in die Kniee gestützt, wie einen alten Freund empfing und anredete: „Na, alter Junge, wieder ein Mal abgefaßt?“
„Ja, mein guter Herr Commissär, habe Unglück gehabt,“ schlau mit den Augen blinzelnd: „Diesmal kann es wohl lange dauern?“
„Ja, wird wohl. Hast ja erst fünf Jahre abgesessen.“
„Drei Jahre, Herr Commissarius.“
„Unsinn! Fünf Jahre!“
„Drei Jahre, Herr Commissarius.“
„Oler[3] Sohn, mach mir nicht dumm. Hier liegen die Acten.
Wegen schweren Diebstahls hast Du fünf Jahr ,Spandau‘ gehabt und bist vor vierzehn Tagen losgekommen.“
„Wirklich,“ entgegnete der alte Sünder, scheinbar ganz erstaunt, „nee sehen Sie, Herr Commissarius, wie die Zeit vergeht.“
Auf die Frage, wie lange er eigentlich in seinem Leben eingesperrt gewesen, antwortete er mit einer Miene, als ob Roggenstein von ihm verlangt hätte, er solle den Mond vom Himmel herabholen: „Aber Herr Commissarius, wie kann denn ich das wissen?“
Durch die scheinbar treuherzige, einfache Art und Weise, mit welcher er mit den Verbrechern verkehrte, wie ungefähr ein guter herablassender Herr mit seinen Dienern, brachte Roggenstein aus jenen Alles heraus. Als er einst einem leugnenden schweren Verbrecher auf den Kopf zusagte, daß er den Einbruch begangen habe, und frug, ob er sich nicht schäme ihn so zu belügen, antwortete dieser: „Nu ja, Herr Commissär, ich will es Ihnen sagen, ich habe es gethan, aber es bleibt unter uns.“
Mit viel gewaltigeren Mitteln pflegte der bekannte Criminaldirector Stieber zu wirken. Lange Verhöre mit den schlau combinirtesten Kreuz- und Querfragen verwirrten den Schuldigen und lockten ihm seine Geheimnisse heraus, ja es ist bekannt, daß Stieber die Mitgenossin eines Mordes dadurch zum Geständniß brachte, daß er sich die verhärtete Sünderin gegen 12 Uhr Nachts zum Verhör rufen ließ und, in feuriger Rede ihr das Bild des Ermordeten vor die Seele führend, sie frug, ob sie jetzt, wo der Zeiger auf Mitternacht weise, die Stunde, wo das Verbrechen begangen worden sei, den Muth habe, die Hände auf das Crucifix zu legen und ihre Unschuld zu betheuern. Die Missethäterin fiel dem Richter schluchzend zu Füßen, bekannte die That und gab ihre Mitschuldigen und einen Kirchhof als den Ort an, wo die Früchte des Raubes vergraben lagen.
Gänzlich verborgen bleibt in Berlin ein großes Verbrechen selten. So wie jüngst bei dem am Eingang dieser Schilderungen erwähnten Mord an Gregy der Chemiker Sonnenstein die dunklen Flecken an der Wand mit Salzsäure berührte und für Menschenblut erklärte, Menschenblut, welches laut um Rache schreie, so verlangt jedes Verbrechen an der beleidigten Gesellschaft seine Sühne, und den Wächtern des Gesetzes stehen hundert Augen zu Gebote, die sich nie schließen und endlich in die Nacht eines jeden Verbrechens eindringen.
- ↑ Die intelligenten Criminalbeamten Pick, Weber und Bornemann.
- ↑ Die Verbrecher gegen das Eigenthum zerfallen in verschiedene Abtheilungen, von denen keine der anderen in’s Handwerk greift. Die gefährlichste Sorte derselben, die Einbrecher, bilden die Aristokratie des Standes und befassen sich nie mit Taschen- oder Nachschlüsseldiebstählen. Zufallsgänger heißen in der Diebssprache die Gauner, welche eben ohne Plan und Vorausbeschluß das nehmen, was ihnen der Zufall in die Hände spielt; Kittenschieber sehen es auf Silberzeug in den unbewachten Küchen ab; der Flatterfahrer besucht die Böden, nach Wäsche fahndend; der Schlafstubendieb sucht den Bewohner entweder im Schlafe auf, um, dessen Ueberraschung benutzend, schnell Uhr und Börse an sich zu reißen, oder, sich mit irgend einer Frage um beliebige Auskunft eindrängend, die Gelegenheit zu einem Fang zu erspähen; die unterste Sorte, die Blamdiebe, scheuen sich nicht, sich wegen eines Gewinnes von einigen Groschen zu blamiren – kurz, Jeder hat seinen streng abgezweigten Geschäftskreis im Diebeshaushalte.
- ↑ Rogggenstein sprach bei Verhören mit Verbrechern stets den Berliner Dialekt der untersten Volksclassen, verstand auch die Diebessprache vollkommen und war unter den Gaunern eine sehr beliebte und geachtete Persönlichkeit.