Symon Petljura

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Symon Petljura in den 1920er Jahren

Symon Wassyljowytsch Petljura, auch Petliura oder Petlura (ukrainisch Симон Васильович Петлюра, wissenschaftliche Transliteration Symon Vasyl'ovyč Petljura; * 10. Maijul. / 22. Mai 1879greg. in Poltawa; † 25. Mai 1926 in Paris), war ein für die ukrainische Eigenstaatlichkeit eintretender ukrainischer Politiker, Journalist, Literat und Publizist sowie von 1919 bis 1920 Präsident der Ukrainischen Volksrepublik.

Petljura wurde als Sohn von Stadtkosaken geboren. Als solcher konnte er (anders als die Söhne der weitgehend rechtlosen Bauern) studieren. Er war 1905 Mitbegründer der Ukrainischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei[1][2] (USDRP) und von 1905 bis 1909 Herausgeber der Zeitschriften Slowo und Ukrajinskaja Schysn.

Während des Ersten Weltkrieges diente er in der zaristischen Armee.

Die Mitglieder des Generalsekretariats im Juli 1917. (von links nach rechts) Stehend: Pawlo Chrystjuk, Mykola Stasjuk, Borys Martos. Sitzend: Iwan Steschenko, Chrystofor Baranowskyj, Wolodymyr Wynnytschenko, Serhij Jefremow, Symon Petljura.

Nach der Februarrevolution von 1917 wurde er Mitglied des neuen Parlaments, der Zentralna Rada, das im Juni die Ukraine als autonome Republik ausrief. Im Juli wurde er Generalsekretär für militärische Angelegenheiten (Kriegsminister). Bald darauf besetzten deutsche Truppen die Ukraine teilweise (Operation Faustschlag 18. Februar bis 3. März 1918) und installierten mit dem Hetmanat unter Pawlo Skoropadskyj eine Marionettenregierung.

Am 11. November 1918 unterzeichnete Deutschland den Waffenstillstand von Compiègne. Nach dem Rückzug der deutschen Truppen aus der Ukraine wurde Petljura Ende 1918 eines von fünf Mitgliedern des Direktoriums der Ukrainischen Volksrepublik und militärischer Oberbefehlshaber, 1919 dann Regierungschef. Im Russischen Bürgerkrieg kämpfte er sowohl gegen die Bolschewiki als auch gegen Teile der russischen Konservativen („Weiße“), gegen rivalisierende Ukrainer unter Pawlo Skoropadskyj oder Nestor Machno und gegen Polen. Auf dem Gebiet der Ukraine ereigneten sich Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung der Ukraine.[3] Für einen Teil dieser Pogrome waren Mitglieder der Milizen verantwortlich, die einen Teil von Petljuras Streitkräften ausmachten.

Symon Petljura (rechts) mit dem polnischen Politiker Józef Piłsudski (links)

Nach dem Sieg der Kommunisten floh Petljura nach Polen, wo er als vorgeblich legaler Regierungschef der Ukraine anerkannt wurde und im März 1920 in Lublin ein Friedensabkommen mit der polnischen Regierung unterzeichnete, wobei er im Tausch gegen militärische Hilfe die polnischen Bedingungen für die Grenzziehung im Osten akzeptierte. Im Polnisch-Sowjetischen Krieg gelang jedoch nur eine zeitweise Besetzung von Kiew, und die Wiederherstellung der ukrainischen Unabhängigkeit scheiterte. Petljura führte nun vorübergehend von Tarnów und Warschau aus die ukrainische Exilregierung an, musste Polen jedoch 1923 aufgrund verstärkten sowjetischen Drucks verlassen und ging über Wien und Genf 1924 nach Paris. Dort gründete er die Zeitung „Tryzub“ („Dreizack“, nach dem ukrainischen Wappensymbol), die über die Aktivitäten der ukrainischen Exilregierung berichtete.[4]

Am 25. Mai 1926 wurde er während eines Einkaufsbummels in Paris von dem aus der Ukraine stammenden jüdischen Anarchisten Scholom Schwartzbard auf dem Boulevard-Saint-Michel[5] mit sieben Schüssen[6] aus einem Revolver niedergestreckt und starb kurz darauf. Der Täter wurde von einem französischen Gericht freigesprochen,[2] weil er in Vergeltung für den Tod von 15 Familienmitgliedern, darunter seinen Eltern, gehandelt habe. Als Entlastungszeugen benannte die Verteidigung Schwartzbards unter anderem Léon Blum, Maxim Gorki und Albert Einstein.[7]

Symon Petljura war der Onkel des späteren Patriarchen der ukrainisch-orthodoxen Kirche Mstyslaw.

Kontroverse um Petljura

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Während des Russischen Bürgerkriegs kam es zu einer Reihe brutaler, durch radikalisierte Antisemiten aller Kriegsparteien verübter Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung in Russland, in Weißrussland und in der Ukraine, die zwischen 35.000 und 50.000 Todesopfer forderten.[8] Dabei wurden 39,9 % aller Pogrome auf ukrainischem Territorium durch Angehörige von unter dem Kommando Petljuras stehenden Milizen verübt; 31,7 % gingen zu Lasten der Grünen Armeen; 17,2 % wurden von Truppen Anton Denikins, 2,6 % von Angehörigen der polnischen Armee und 8,6 % durch Angehörige der Roten Armee oder von ihr abtrünniger Einheiten verübt.[5]

Die persönliche Verantwortung Petljuras für die durch Teile seiner Einheiten verübten Verbrechen wird von Historikern unterschiedlich bewertet und ist Gegenstand einer Kontroverse um die historische Einordnung seiner Person geworden.

Auf der einen Seite wird dabei darauf verwiesen, dass die führenden Politiker des Direktoriums der Ukrainischen Volksrepublik keine Antisemiten waren. Sie gewährten Juden ebenso wie Russen und Deutschen national-personale Autonomie und nahmen Vertreter jüdischer Parteien in die Regierung auf.[2][9] Weiterhin führte Petljura auch gesetzliche Strafen für Gewalt gegen jüdische Zivilisten ein und ließ einige Verantwortliche wie etwa Semesenko und andere Partisanenführer hinrichten.[10] Gleichwohl hatte aber die Regierung die Kontrolle über die Milizen verloren und konnte deren Gewalttaten nicht verhindern.[2][10]

Auf der anderen Seite wird angeführt, dass Petljura nicht genug getan habe, um die Pogrome aufzuhalten.[11] Zudem habe er aus Angst, die Unterstützung seiner Kämpfer zu verlieren, verantwortliche Offiziere und Soldaten nicht bestrafen wollen.[11][12] Schließlich sei Petljura als Anführer (Ataman)[2] für das Morden durch die ihm unterstellten Truppen verantwortlich.[5]

Die Kontroverse zu der Frage, wie viel Schuld Petljura persönlich an den Pogromen trage, begann bereits kurz nach seinem Tod mit dem Gerichtsverfahren gegen den Attentäter Scholom Schwartzbard im Jahr 1926. Einige Beachtung fand vier Jahrzehnte später die Publikation zweier gegensätzliche Sichten zu diesem Thema vertretender Publikationen der Historiker Taras Hunczak und Zosa Szajkowski in der Fachzeitschrift Jewish Social Studies,[13] und deren Fortsetzung in Form zweier kommentierender Briefe der beiden Autoren an dieselbe Zeitschrift,[14] auf die bis heute noch häufig Bezug genommen wird.

Ende Mai 2006 wurde in Paris in einer Zusammenarbeit der Bibliothèque ukrainienne Simon-Petlioura de Paris,[6] dem Comité représentatif de la Communauté ukrainienne en France[6] und der ukrainischen Botschaft in Paris der 80. Todestag Petljuras begangen. Patrick Gaubert, der Vorsitzende der Ligue internationale contre le racisme et l’antisémitisme (LICRA), bezeichnete die Gedenkfeier in der Zeitung Le Monde vom 27. Mai 2006 als „eine zweite Ermordung, diesmal posthum, der jüdischen Opfer“ („un second assassinat, posthume celui-là, des victimes juives“).[6]

Wahrnehmung in der Ukraine

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Wiktor Juschtschenko mit Gattin am Grab Symon Petljuras auf dem Cimetière Montparnasse (2005)

Nach der Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 und der darauffolgenden Unabhängigkeit der Ukraine wird Petljura in seiner Heimat heute trotz der Kontroverse um seine Verantwortung für die antijüdische Gewalt im Russischen Bürgerkrieg überwiegend positiv beurteilt, als bedeutender Politiker und als einer der Gründer der modernen Ukraine gewürdigt.

Petljura wurden eine Reihe von Ehrungen zuteil: In der Hauptstadt Kiew wurde ebenso wie in seiner Heimatstadt Poltawa ein Denkmal errichtet. 2009 benannte die Stadtverwaltung von Kiew eine Straße nach ihm, in der sich seit dem 21. Januar 2019[5] eine Gedenktafel befindet. In weiteren Städten wie zum Beispiel Riwne oder Lwiw wurden Straßen nach ihm benannt. In der Stadt Winnyzja gibt es seit dem 14. Oktober 2017[5] ein Petljura-Denkmal. Der US-Ableger der sich als konservativ-patriotisch verstehenden Jugendorganisation CYM (SUM)[15] beruft sich auf Petljura als Vorbild.[16] Seit 1993 finden in Kiew jährliche Lesungen seiner Werke statt.[17]

Trauertag für Petljura im Jahr 2016

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Am 2. Februar 2016 wurde in der Werchowna Rada ein Erlass zur Festlegung der „Gedenktage und Jubiläen 2016“ verabschiedet. Darin wurde unter anderem der 25. Mai dieses Jahres zum Gedenktag in Zusammenhang mit dem 90. Jahrestag der Ermordung Symon Petljuras erklärt. Eduard Dolynskyj, der Direktor des Ukrainisch-Jüdischen Komitees, empfand die Trauer um Petljura auf Staatsebene als einen empörenden Vorgang. Wörtlich sagte er:

Unter Petjlura wurden große Verbrechen an den Juden verübt. Unser Verhältnis ihm gegenüber bezieht sich nicht auf seinen Kampf um die Ukraine, sondern darauf, was unter seiner Führung bei den Truppen geschah. Wir behaupten nicht, dass er den Befehl dazu gegeben hat, aber es ist bekannt, dass er nichts unternommen hat, um diesem Massenmord ein Ende zu setzen.

Dolynskyj betrachtete die Heroisierung Petljuras als eine zwangsläufige Folge nach der Verabschiedung von „Gesetzen, die Kritik an der OUN und der UPA verbieten“.[18]

  • Alain Desroches: Le Problème ukrainien et Simon Petlura. Le feu et la cendre. Nouvelles Éditions latines, Paris 1962.
  • David Engel: Schwarzbard-Prozess. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 5: Pr–Sy. Metzler, Stuttgart/Weimar 2014, ISBN 978-3-476-02505-0, S. 395–400.
  • David Engel: The Assassination of Symon Petliura and the Trial of Sholem Schwarzbard 1926–1927. A Selection of Documents, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016, ISBN 978-3-52531-027-4 (Print), ISBN 978-3-66631-027-0 (PDF), Online: Oapen
  • Saul S. Friedman: Pogromchik: the assassination of Simon Petlura. New York: Hart Pub. Co., 1976.
  • Rudolf A. Mark: Symon Petljura und die UNR. Harrassowitz, Wiesbaden 1988, ISBN 3-447-02700-2 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte. Band 40, zugleich Dissertation an der FU Berlin 1988).
  • Rudolf A. Mark: Symon V. Petljura. Begründer der modernen Ukraine. Brill Schöningh, Paderborn 2023, ISBN 978-3-506-79172-6.
  • Matthias Vetter: Petljura, Symon. In: Handbuch des Antisemitismus, Band 2/2, 2009, S. 630 f.
Commons: Symon Petljura – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Ukrainian Social Democratic Workers’ party in der Encyclopedia of Ukraine; abgerufen am 10. Mai 2017 (englisch)
  2. a b c d e Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine. In: Beck’sche Reihe. 3. Auflage. Nr. 1059. Verlag C. H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-58780-1, S. 140, 182 f., 211, 305 f.
  3. bpb.de (2015): Geschichte der Ukraine im Überblick
  4. Biographie Petljuras auf encyclopediaofukraine.com
  5. a b c d e Jean-Jacques Marie: Pogrome im Russischen Bürgerkrieg. In: Barbara Bauer Dorothee d’Aprile (Hrsg.): Le Monde diplomatique. Nr. 12/25. TAZ/WOZ, Dezember 2019, ISSN 1434-2561, S. 20 f. (monde-diplomatique.de [abgerufen am 20. August 2021] übersetzt von Andreas Bredenfeld; Jean-Jacques Marie ist Autor des Buches L’Antisémitisme en Russie. De Catherine II à Poutine. Éditions Tallandier, Paris 2009: vergleiche die Zahlen auf Seite 221; in diesem Artikel zitiert Jean-Jacques Marie insbesondere auch weiter: Lidia Miliakova, Nicolas Werth (Hrsg.): Le Livre des pogroms. Antichambre d’un génocide: Ukraine, Russie, Biélorussie – 1917–1922. Éditions Calmann-Lévy/Mémorial de la Shoah, Paris 2010).
  6. a b c d Jean-Jacques Maire: L’Antisémitisme en Russie. De Catherine II à Poutine. Éditions Tallandier, Paris 2009, ISBN 978-2-84734-298-7, S. 220 f.
  7. Sven Felix Kellerhoff: Er starb als Rache für Pogrome – aber war er wirklich Judenfeind?. In: welt.de, 25. Februar 2022.
  8. Manus I. Midlarsky: The Killing Trap: Genocide in the Twentieth Century. Cambridge University Press, 2005, ISBN 978-0-521-81545-1, S. 46–47 (Textarchiv – Internet Archive [abgerufen am 17. Oktober 2017]).
  9. Simon Epstein: Histoire du peuple juif au XXe siècle – De 1914 à nos jours. In: Collection Pluriel. Hachette Littératures, Paris 1998, ISBN 978-2-01-278993-7, S. 26.
  10. a b Orest Subtelny: Ukraine: A History (4th ed.). University of Toronto Press, 2009, ISBN 978-1-4426-9728-7, S. 363 f.
  11. a b Herbert Strauss (editor): Hostages of modernization: studies on modern antisemitism, 1870–1933/39. Volume 2, Walter de Gruyter and Company, Berlin 1993, S. 1307 ff., 1321.
  12. Saul S. Friedman: Pogromchik: The Assassination of Simon Petliura. Hart Pub., New York 1976.
  13. Taras Hunczak: A Reappraisal of Symon Petliura and Ukrainian-Jewish Relations, 1917–1921. In: Jewish Social Studies, Jg. 31 (1969), S. 163–183; dazu Zosa Szajkowski: „A Reappraisal of Symon Petliura and Ukrainian-Jewish Relations, 1917–1921“: A Rebuttal. In: Jewish Social Studies, Jg. 31 (1969), S. 184–213.
  14. Jewish Social Studies, Jg. 32 (1970), S. 246–263.
  15. sym.org – About SYM; abgerufen am 17. August 2021 (englisch)
  16. Archivierte Kopie (Memento vom 24. Oktober 2005 im Internet Archive)
  17. http://petlura.poltava.ua/
  18. Warum die Ukraine um Petljura trauert und warum die ukrainischen Juden das nicht verstehen, ukraine-nachrichten.de, 18. Juni 2016.