Antideutsche
Antideutsche sind eine aus verschiedenen Teilen der Linken hervorgegangene politische Strömung in Deutschland und Österreich.[1] Sie wenden sich gegen gewisse Ausprägungen des deutschen Nationalismus, der insbesondere im Zuge der deutschen Wiedervereinigung erstarkt sei. Weitere antideutsche Positionen sind Solidarität mit Israel sowie Gegnerschaft zu Antizionismus, Antiamerikanismus als auch bestimmten („regressiven“) Formen des Antikapitalismus und Antiimperialismus. Diese führten und führen zu Kontroversen innerhalb der linken Szene.
Begriffsgeschichte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Markus Mohr und Sebastian Haunss führen die Geschichte des Begriffs „antideutsch“ auf „mehr oder minder explizit antideutsch motivierte Ideen und Gedanken“ zurück. So habe 1844 Karl Marx in seiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie den „Krieg den deutschen Zuständen! Allerdings!“ gefordert. Antideutsche Ideen habe auch Sebastian Haffner in den 1930er Jahren in seinen Büchern Germany: Jekyll & Hyde und Geschichte eines Deutschen entwickelt. Der britische Diplomat Robert Vansittart habe während des Zweiten Weltkrieges allen Deutschen eine „pathologische Aggressivität“ unterstellt und sie als „die Störenfriede der Zivilisation seit Tacitus“ bezeichnet.[2]
In der Neuen Linken taucht erstmals auf der Titelseite des linksradikalen Untergrundblattes 883 aus West-Berlin in der 27. Ausgabe vom 14. August 1969 die Formulierung „Anti-deutsche Agitation“ auf. Es „scheint dieser Begriff offenbar von der militant-antikommunistisch eingestellten Frontstadtbevölkerung den protestwilligen Studenten entgegen gehalten worden zu sein“, so Mohr und Haunss.[2]
Der Begriff Antideutsche war bis 1989 noch eine ziemlich diffuse Fremdbezeichnung für die innerdeutsche antipatriotische Bewegung wie auch für die Politik der Anti-Hitler-Koalition gegenüber dem NS-Staat im Zweiten Weltkrieg. Vor dem Hintergrund des Zweiten Golfkrieges 1991, bei dem es auf Antikriegsdemonstrationen laut Bundesinnenministerium auch zu Sympathieäußerungen für das Regime Saddam Husseins gekommen war, solidarisierten sich insbesondere die Zeitschrift konkret, deren Herausgeber Hermann L. Gremliza und Teile des zerfallenden Kommunistischen Bundes (KB) bedingungslos mit dem Staat Israel (siehe Nie wieder Deutschland).[3][4] Seine heutige Prägung erfuhr der Begriff erst später, indem er als Selbstbezeichnung von einer spezifischen politischen Strömung innerhalb der Linken wieder aufgegriffen wurde.
Der Kosovokrieg, den die rot-grüne Bundesregierung mit der deutschen Vergangenheit legitimierte, führte 1999 zu Kontroversen in der politischen Linken: Die Mehrheit der radikalen Linken, aber auch etablierte Linksliberale stellten sich auf die Seite Serbiens und gegen die Intervention der NATO, sehr wenige „Antiimperialisten“ solidarisierten sich mit der UÇK, einige autonome und „antinationale“ Linke wandten sich in abstrakter Weise sowohl gegen die NATO-Intervention als auch gegen den serbischen Krieg und Nationalismus. Die pro-serbische Position vereinte auch die ansonsten feindseligen „Antideutschen“ und „Antiimperialisten“.[1]
Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel 2023 kam es bundesweit zu Demonstrationen pro-palästinensischer Linker und Angriffe auf Projekte wie die Rote Flora, denen aufgrund einer Positionierung gegen Antisemitismus ein „antideutscher Grundkonsens“ unterstellt wurde.[5][6][7][8]
Kontroverse
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Nach dem Russischen Überfall auf die Ukraine von 2022 wandte sich die konkret, das älteste Medium des antideutschen Spektrums, von seinem bisher in der Außenpolitik verfolgten eher pro-westlichen Kurs ab und titelte kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine mit einer antiimperialistischen „Nato-Aggression gegen Russland“. Dies führte dazu, dass 30 Autoren des Blattes erklärten, nicht mehr für die konkret schreiben zu wollen.[9][10]
Kritik aus anderen linken Strömungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Kern wird den Antideutschen eine „Rückkehr in die bürgerliche Wertegemeinschaft“ unter Aufgabe linker „Essentials“ vorgeworfen.
Gerhard Hanloser bemängelte im von ihm herausgegebenen Sammelband Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken, hieran anknüpfend, eine „Kritische Kritik“, wie Karl Marx sie in Bezug auf Bruno Bauer als bloß theoretisierende, nicht aber praktische Kritik bekämpfte. Diese „Kritische Kritik“ sei letztlich, so Hanloser, nur eine „Selbstbespiegelung vermeintlich kritischer Geister“. Kritik verkomme so zum „Habitus“ und setze sich mit „Denunziation“ und „Polemik“ gleich, was sich auch im oft unsachlichen Stil antideutscher Publikationen widerspiegele.[11] Ilse Bindseil kritisiert in einem im gleichen Sammelband erschienenen Beitrag, dass die Antideutschen sich letztlich nicht mit den Konsequenzen von Auschwitz für die deutsche Gesellschaft und für die eigene Biografie beschäftigten. Sie wirft den Antideutschen moralisches Sektierertum vor und sieht dessen Ursache in einer „Suche nach Flucht in die Unschuld“ der Nach-68er, die erkennen mussten, dass der Bruch mit der Nazi-Generation sie nicht vor den Zuständen der „postfaschistischen Gesellschaft“ schütze. Statt der Komplexität von Themen wie Auschwitz gerecht zu werden, bestehe in diesem Teil der Gesellschaft der Hang zu unterkomplexen Reflexions- und Handlungsschemata, die letztlich vom Ausgangsproblem ablenkten und dieses nicht mehr transparent erscheinen ließen. „Das Böse musste her, damit der Riss in der Biografie gekittet werden konnte.“[12]
Einschätzung durch Behörden
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Verfassungsschutzbericht des Bundes von 2006 stellte die Antideutschen aufgrund unterschiedlicher ideologischer Ausprägungen nicht als einheitlichen Block dar. Als Gemeinsamkeit nannte er das Bekenntnis zu „bedingungslose[r] Solidarität mit der Politik Israels und dem jüdischen Volk“. Dies schließe die „Befürwortung aller Maßnahmen ein, die geeignet erscheinen, den Bestand des Staates Israel als einzigen Schutzraum der Holocaustüberlebenden zu sichern. Da die USA als einziger ‚ehrlicher‘ Verbündeter Israels gesehen würden, wendeten sich Teile der Antideutschen gegen jede Form des Antiamerikanismus.“[13] Der Verfassungsschutzbericht 2008 sah den Höhepunkt des antideutschen Einflusses auf den „traditionellen Linksextremismus“ inzwischen überschritten; ihm werde in der Szene kaum noch Aufmerksamkeit entgegengebracht.[14] Im Bericht des Folgejahres wurden Antideutsche nicht mehr erwähnt.[15]
Nach einem von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichten Aufsatz des Politikwissenschaftlers Rudolf van Hüllens aus dem Jahr 2015 verdiene die offensichtliche Bewusstwerdung des rassistisch-antisemitischen Charakters des Nationalsozialismus bei den Antideutschen Anerkennung, denn die Ausblendung des Antisemitismus stelle eine der gravierendsten ideologischen Fehlleistungen des Antifaschismus dar. Zugleich würden sich die Antideutschen – „vermutlich unwissentlich“ – auf die Trennlinie zubewegen, die demokratisches Engagement für Entwicklungsländer und gegen Rechtsextremismus wie auch Antisemitismus bisher von ihren linksextremistischen Verzerrungen „Antiimperialismus“ und „Antifaschismus“ geschieden habe. Dabei seien Ablösungsprozesse von totalitären Ideologien des Marxismus-Leninismus in Gang gekommen. Allerdings sei die undifferenzierte Assoziation des Islam mit islamistischer Gewalt gegenaufklärerisch und geeignet, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu fördern. Das gelte auch für die Suggestion, die Deutschen seien aufgrund historischer, kultureller kollektiver mentaler Prägungen in besonderem Maße für extremistische Gewalt gegenüber anderen prädestiniert.[4]
Publikationen des antideutschen Spektrums
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Assoziation Antideutscher Kommunisten (Hrsg.): Antideutscher Katechismus. ça ira, Freiburg 2003, ISBN 3-924627-18-5 (PDF)
- Rudi Bigalke: Das antideutsche Spektrum zwischen realpolitischer Lobbyarbeit und Ideologiekritik – Die Kampagne „Stop the Bomb“. In: Uwe Backes, Alexander Gallus, Eckhard Jesse (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie, 27. Jahrgang (2015), Nomos, Baden-Baden 2015, ISBN 978-3-8487-2522-9, 137–153.
- Patrick Hagen: Die Antideutschen und die Debatte der Linken über Israel. In: trend onlinezeitung. Nr. 04/05, 2005 (Digitalisat in Trend Onlinezeitung [abgerufen am 7. Februar 2023] Wiedergabe der Magisterarbeit 2004).
- Gerhard Hanloser: „Sie warn die Antideutschesten der deutsche Linken“: zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik. Unrast, Münster 2004, ISBN 978-3-89771-432-8.
- Gerhard Hanloser: Die andere Querfront: Skizzen des „antideutschen“ Betrugs. Unrast, Münster 2019, ISBN 978-3-89771-273-7.
- Susann Witt-Stahl, Michael Sommer (Hrsg.): „Antifa heißt Luftangriff!“: Regression einer revolutionären Bewegung (= Laika Theorie. Band 44). Laika-Verlag, Hamburg 2014, ISBN 978-3-944233-13-0.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Simon Erlanger: "The Anti-Germans" — The Pro-Israel German Left. In: Jewish Political Studies Review. Band 21, Nr. 1/2, 2009, S. 95–106 ([1] [abgerufen am 6. April 2021]).
- Thomas Gehrig: Der Freiburger Materialismus. Eine Auseinandersetzung mit der Kritik der IsF am Arbeiterbewegungs-Marxismus auf links-netz.de, 2003
- Stephan Grigat: Was heißt: antideutsch?, in: Die Presse, 18. Februar 2007
- M. Mohr, S. Haunss: Die Autonomen und die anti-deutsche Frage oder: »Deutschland muss …« (PDF; 263 kB)
- Rudolf van Hüllen: „Antiimperialistische“ und „antideutsche“ Strömungen im deutschen Linksextremismus. In: Dossier Linksextremismus der Bundeszentrale für politische Bildung vom 5. Januar 2015
- Marxistische Aktion Tübingen: "Good bye, Lenin!" Vom "Abbruchunternehmen der Linken" ins rechte Lager: Eine Kritik "antideutscher" Ideologie und Praxis, Tübingen 2011 [PDF; abgerufen am 4. Dezember 2023].
- Raphael Schlembach: Towards a critique of anti-German ‘communism’. In: a journal for and about social movements. Band 2, Nr. 2, 2010, S. 199–219 (interfacejournal.net [PDF; abgerufen am 6. April 2021]).
- Zum historischen Verhältnis der radikalen Linken zum Zionismus, antifa désaccord Krefeld, Bündnis gegen Antisemitismus Köln, 2024
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ a b Wie vor 20 Jahren der Kosovo-Krieg die Linken und die Grünen entzweite, Thomas Schmidinger, Der Standard, 23. Mai 2019
- ↑ a b Markus Mohr, Sebastian Haunss: Die Autonomen und die anti-deutsche Frage oder: »Deutschland muss …«. In: Gerhard Hanloser (Hrsg.): „Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken“. Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik. Unrast Verlag, Münster 2004, S. 65f.
- ↑ Stefan Kestler: Antisemitismus und das linksextremistische Spektrum in Deutschland nach 1945 (erschienen in: Neuer Antisemitismus? Judenfeindschaft im politischen Extremismus und im öffentlichen Diskurs). Bundesministerium des Innern, 2005, S. 94.
- ↑ a b Rudolf van Hüllen: "Antiimperialistische" und "antideutsche" Strömungen im deutschen Linksextremismus | bpb. Abgerufen am 11. Juli 2020.
- ↑ Katharina Schipkowski: Nahost-Konflikt in der linken Szene, taz.de, 4. Juli 2024
- ↑ Madlen Haarbach: Bewohner positionierten sich gegen Antisemitismus: Pro-Palästina-Szene attackiert linkes Hausprojekt in Berlin, tagesspiegel.de, 3. Juli 2024
- ↑ Ian: Graffiti an Linxxnet in Connewitz gesprüht, Leipziger Volkszeitung, 18. Dezember 2023
- ↑ Madlen Haarbach: Mit roten Dreiecken der Hamas markiert: Neuköllner Kneipe „Bajszel“ erneut antisemitisch angegriffen, tagesspiegel.de, 23. Mai 2024
- ↑ Magnus Klaue: Warum die Linke den Ukraine-Konflikt nicht versteht. In: Die Welt. 15. März 2022, abgerufen am 18. Juni 2024.
- ↑ Ruth Lang Fuentes: Grenzen ziehen. In: taz. 17. Juli 2022, abgerufen am 18. Juni 2024.
- ↑ Gerhard Hanloser (Hrsg.): „Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken“. Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik, S. 8.
- ↑ Ilse Bindseil: Sektiererische Reflexion und korrektes Denken. Versuch einer philosophischen Identifikation (PDF; 119 kB)
- ↑ Verfassungsschutzbericht 2006. (pdf, 7,3 MB) Bundesministerium des Innern, S. 164 ff., archiviert vom am 6. August 2009; abgerufen am 18. September 2017.
- ↑ Verfassungsschutzbericht 2008. (pdf, 4,9 MB) Bundesministerium des Innern, S. 157, archiviert vom am 7. Oktober 2009; abgerufen am 18. September 2017.
- ↑ Verfassungsschutzbericht 2009. (pdf, 4,3 MB) Bundesministerium des Innern, archiviert vom am 4. Juli 2010; abgerufen am 18. September 2017.
- ↑ Saba-Nur Cheema: Antisemitismus: Die deutsche Debatte ist von Obsessionen geprägt. In: Die Zeit. 14. Juni 2022, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 27. November 2023]).
- ↑ Meron Mendel: Über Israel reden: Eine deutsche Debatte. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, S. 146.