Homo Sapiens Sapiens (Video)

Audio-Video-Installation der Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist aus dem Jahr 2005

Homo Sapiens Sapiens ist eine Audio-Video-Installation der Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist aus dem Jahr 2005.

Homo Sapiens Sapiens, Videostill

Beschreibung

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Eine langhaarige Frau (Ewelina Guzik) liegt nackt auf dem Rücken, zerdrückt zwischen ihren Brüsten eine reife Kaki, das gelbe Fruchtfleisch wird aus der Schale gequetscht. Die Protagonistin bewegt sich schwerelos in der Natur, sie schwebt inmitten von farbenfrohen Pflanzen in einer Art Dschungel. Aus einem Granatapfel quellen Früchte, tropische Pflanzen umwickeln menschliche Körper und verflechten sich mit langen Haaren. Die Frau zertritt eine Frucht, wieder verteilt sich das gelbe Fruchtfleisch im Raum. Kaleidoskopähnliche Bilder bilden die letzte Sequenz des Videos.

Entstehung und Kontext

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Das Video entstand als Schweizer Beitrag zur 51. Biennale von Venedig 2005. Es wurde auf die Decke der barocken Kirche San Stae in Venedig projiziert. Die optische Tiefe des Videos wurde auch das Experimentieren mit unterschiedlichen Linsen erreicht, die starke Nahaufnahmen ermöglichen: Makro-Objektiv, Fischaugenobjektiv und Handkamera.[1] Der Ton stammt von Pipilotti Rist und Anders Guggisberg.[2] Erneut arbeitete Rist mit der Tänzerin Ewelina Guzik zusammen.[3] Die Installation wurde bereits nach zwei Monaten auf Veranlassung der römischen Kurie geschlossen, mit der offiziellen Begründung, es habe „technische Probleme“ gegeben.[4]

Homo sapiens sapiens wurde von den 1930er Jahren bis in die 1990er Jahre als Bezeichnung für den modernen Menschen benutzt. Über diese Bezeichnung im Kontrast zu Homo sapiens neanderthalensis wurde deutlich, dass man Neandertaler und moderne Menschen für Mitglieder einer Art hielt. Heute dagegen wird Homo sapiens als wissenschaftlicher Name verwendet, den schon Carl von Linné 1766 geprägt hatte.[5]

Kunstgeschichtliche Einordnung und Deutung

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Das Opaion der Camera degli Sposi

In der Entstehungszeit des Videos entfernte sich Rist auf verschiedene Weise und in unterschiedlichen Dimensionen vom Fernsehgerät. Während etwa Selbstlos im Lavabad (1994) einen winzigen runden Monitorausschnitt im Fussboden zeigt, sind die Dimensionen in Homo Sapiens Sapiens riesig.[6] Die paradiesische Welt, die Rist hier schafft, lässt an den biblischen Garten Eden vor dem Sündenfall denken:[1] eine reine, üppige Welt körperlicher Freiheit, in der das sexuelle Erkunden von Menschen und Pflanzen sanktionslos bleibt. Unterwasseraufnahmen schaffen eine Atmosphäre von fliessender Hingabe.[1] Das Verhältnis von Natur und Kultur wird auf einer metaphorischen Ebene erkundet.[7]

Die Projektion des Videos an die Kirchendecke steht in der Tradition der illusionistischen Deckenbemalungen der Renaissance, etwa Mantegnas Trompe-l’œil in der Camera degli Sposi in Mantua. In Venedig verwendete etwa Giovanni Battista Tiepolo perspektivische Kunstgriffe, um eine Tiefenwirkung zu erzielen.[8] Bei der Darbietung von Homo Sapiens Sapiens blickte ein riesiges Auge auf das Publikum herab, das es sich auf Matratzen bequem gemacht hatte.[8] Angesichts der Hitze ausserhalb der Kirche war dieser Ort ein willkommener Ruhepol. Die rein weibliche Genusswelt, so Engberg, überlagere die männlichen Märtyrer und Kirchenväter, die in den Kirchengemälden verewigt wurden.[8] Kunstwerke, so Rist, könnten architektonische Gegebenheiten auflösen.[9]

Wie schon in Sip My Ocean finden sich auch hier kaleidoskopartige, achsensymmetrische Bilder, die an grenzen- und endlose Wiederholungen denken lassen.[8]

Die Möglichkeit, in entspannter Atmosphäre gemeinsam Raum und Kunst erleben zu können, schuf Rist im Zusammenhang mit der Darbietung ihrer späteren Videos immer wieder.[8] Rist äusserte in einem Gespräch mit Massimiliano Gioni 2016, sie glaube an Installationen als Orte der Zusammenkunft. Auch Homo Sapiens Sapiens habe gezeigt, dass während des gemeinsamen Kunstgenusses Betrachtende und Werk interagierten und beim Publikum eine Verschmelzung von Gefühlen und Wissen entstehen könne.[9][8]

Einzelnachweise

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  1. a b c Juliana Engberg: A Bee Flew in the Window... In: Massimiliano Gioni, Margot Norton: Pipilotti Rist. Pixel Forest. London, New York, Phaidon Press, 2016, S. 15–48; 36/37
  2. Philipp Meier: Pipilotti Rist revolutionierte mit ihrer Kunst die Videosprache. In: Neue Zürcher Zeitung. 28. Oktober 2022, ISSN 0376-6829 (nzz.ch [abgerufen am 12. Juni 2024]).
  3. Calvin Tomkins: The Colorful Worlds of Pipilotti Rist. In: The New Yorker. 7. September 2020, ISSN 0028-792X (newyorker.com [abgerufen am 12. Juni 2024]).
  4. Emily Watlington: How Pipilotti Rist Made Menstrual Blood Mesmerizing. In: ARTnews.com. 10. September 2021, abgerufen am 12. Juni 2024 (amerikanisches Englisch).
  5. M. V. S. Import: Lasst sie Menschen sein! 15. November 2011, abgerufen am 27. Mai 2023.
  6. Wulf Herzogenrath: Video. In: Kunsthaus Zürich (Hrsg.): Pipilotti Rist. Dein Speichel ist mein Taucheranzug. Köln, snoeck, 2016, o. S.
  7. Stephanie Damianitsch, Brigitte Huck, Eva Laquièze-Waniek, August Ruhs, Hans-Peter Wipplinger: Biografie. In: Hans-Peter Wipplinger (Hrsg.): Pipilotti Rist - Komm Schatz, wir stellen die Medien um & fangen nochmals von vorne an : [Katalog zur Ausstellung Ausstellung Pipilotti Rist. Komm Schatz, Wir Stellen die Medien um & Fangen Nochmals von Vorne an, 22. März bis 28. Juni 2015, kunsthalle.at]. König, Köln 2015, ISBN 978-3-901261-61-9, S. o. S.
  8. a b c d e f Juliana Engberg: A Bee Flew in the Window... In: Massimiliano Gioni, Margot Norton: Pipilotti Rist. Pixel Forest. London, New York, Phaidon Press, 2016, S. 15–48; 42
  9. a b Pipilotti Rist im Gespräch mit Massimiliano Gioni; Massimiliano Gioni: Body Elektric: An Interview with Pipilotti Rist. In: Massimiliano Gioni, Margot Norton: Pipilotti Rist. Pixel Forest. London, New York, Phaidon Press, 2016, S. 49–76; 67/68