Der Gradient eines Vektorfeldes oder kurz Vektorgradient (von lateinischgradiens‚schreitend‘[1]) fasst das Gefälle oder den Anstieg der Komponenten eines Vektorfeldes zu einem mathematischen Objekt zusammen. Während mit dem Gradient eines Skalarfeldes das Gefälle oder der Anstieg in einer bestimmten Richtung (sog. Richtungsableitung) als Skalar angegeben wird, stellt die Richtungsableitung mit dem Vektorgradient einen Vektor dar.
Ein anschauliches Beispiel ist das Vektorfeld der Bewegung der Partikel eines Körpers. Der Deformationsgradient transformiert die Strecke von einem Partikel zu einem benachbarten Partikel des Körpers im undeformierten Zustand – das ist die vorgegebene Richtung h – in die entsprechende Strecke im deformierten Zustand, was die Richtungsableitung in Richtung h ist, siehe Bild. Die Strecke h kann bei der Deformation gedreht und gestreckt werden. Die Richtungsableitung mit maximalem Wert ist hier diejenige Richtung, in der der Körper die größte Dehnung erfährt; in dieser Richtung benachbarte Partikel entfernen sich im Zuge der Verformung am weitesten voneinander, siehe auch #Verformungen und die #Beispiele.
Der Gradient eines Vektorfeldes entsteht aus dem Vektorfeld durch Anwendung des Gradientenoperators grad, der eine Verallgemeinerung der Ableitung in der mehrdimensionalen Analysis ist. Zur besseren Abgrenzung zwischen Operator und Resultat seiner Anwendung bezeichnen manche Quellen[2]:353[3]:112 den Gradient vektorieller Feldgrößen als Vektorgradient.
Der Gradient hat tensorielle Eigenschaften[4]:421: der Gradient eines Skalarfeldes (Tensorfeld nullter Stufe) führt auf ein Gradientenvektorfeld, das ein Tensorfeld erster Stufe ist. Entsprechend ist der Vektorgradient ein Tensorfeld zweiter Stufe; das Ergebnis lässt sich bezüglich einer Orthonormalbasis als Matrix schreiben. Die Komponenten des Vektorgradienten sind die kovarianten Ableitungen der Komponenten des Vektorfeldes in einem Punkt; bei den Basisvektoren sind dies die Christoffelsymbole.
Das Landau-Symbol 𝓞(x) steht für Terme, die langsamer als x wachsen, und stellt eine lineare Funktion von dar. Wenn der Gradient existiert, ist er eindeutig und kann aus dem Gâteaux-Differential
So werden auch Gradienten für Tensorfelder zweiter Stufe oder allgemein Tensorfelder n-ter Stufe definiert.[2]:358[4]:420[6]:43 Durch Gradientenbildung entsteht aus einem Tensorfeld n-ter Stufe ein Tensorfeld der Stufe n 1.
Bei einem Vektorfeld, das ein Tensorfeld erster Stufe ist, ergibt sich als Gradient ein Tensorfeld zweiter Stufe und zwar durch Nutzung des dyadischen Produkts „⊗“:
definiert, was wegen des nicht kommutativen dyadischen Produkts einen nicht unerheblichen Unterschied ausmacht, der beispielsweise bei der #Produktregel und der Richtungsableitung zu beachten ist.
Hier wird die erstere Form (die ohne Tilde) als Konvention benutzt.
Die vielfältigen Anwendungen haben zu variantenreichen Schreibweisen geführt.
In der Kontinuumsmechanik ist es üblich, Größen, die sich auf den undeformierten Ausgangszustand eines Körpers beziehen, groß zu schreiben, und solche, die sich auf den deformierten Zustand beziehen, klein. Entsprechend bedeuten GRAD oder Grad Gradienten im undeformierten Körper und grad einen Gradient im deformierten. Andere Notationen mit dem Nabla-Operator benutzen 𝜵X, 𝜵0 für den Operator im undeformierten Körper und 𝜵x, 𝜵t für den im deformierten.
Das eingangs aufgeführte Beispiel des Deformationsgradienten soll hier vertieft werden. Dazu sei das Vektorfeld in einer nahen Umgebung eines Punkts als Bewegungsfeld der Partikel einer Gummihaut interpretierbar, was der Fall ist, wenn der Vektorgradient invertierbar ist, es also eine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Raumpunkten und ihren Bildern gibt. Bezeichnen im undeformierten Körper Großbuchstaben die Orte von Partikeln und Kleinbuchstaben ihre Orte im deformierten, dann stellt man folgendes fest.
Auf der Haut wird ein Kreis gezeichnet und wenn man nun die Gummihaut lang zieht, wird der Kreis zu irgendeiner geschlossenen Kurve, siehe Abb. 3. Mit kleiner werdendem Radius des Kreises nähert sich sein Bild jedoch einer Ellipse. Ein Pfeil MP vom Mittelpunkt M zu einem Partikel P auf dem Umfang des Kreises wird zu mp gedehnt und verdreht, wobei p auf der Ellipse liegt. Die Transformation von MP zu mp leistet beim kleinen Kreis die mit dem Vektorgradient gebildete Richtungsableitung. Diese lineare Annäherung des Vektorfeldes mittels der Richtungsableitung in der Umgebung des Punkts ist die definierende Eigenschaft eines Gradienten.
Die betraglich größte Änderung der Positionsdifferenzen mp zu MP tritt in der Richtung auf, in der der Körper die größte Dehnung erfährt. Auf der Gummihaut landet das Partikel P im Kreis auf der Hauptachse der Ellipse (bei p). Die Richtung der größten betraglichen Änderung erhält man hier als Lösung eines Eigenwertproblems, jedoch nicht des Deformationsgradienten, sondern des mit ihm gebildeten Strecktensors, siehe #Zusammenhang mit der Richtungsableitung und #Beispiele.
Markiert man im undeformierten Körper ein Partikel A und ein (infinitesimal) nahe benachbartes B und trägt im deformierten Körper vom Ort a des Partikels A die Richtungsableitung in Richtung AB auf, dann landet man im deformierten Körper am Ort b des Partikels B. Genauso kann man in b die Richtungsableitung in Richtung BC zu einem benachbarten Partikel C auftragen und landet im deformierten Körper an dessen Ort c. Diese Prozedur kann man beliebig oft wiederholen, die Integralrechnung gestattet sogar unendliche Wiederholungen mit infinitesimalen Schritten. So gelangt man von a aus an den Ort p eines beliebigen Partikels P und zwar unabhängig vom eingeschlagenen Weg von A nach P. Diese Wegunabhängigkeit zeichnet Gradientenfelder aus.
Das Symbol ist das Kronecker-Delta und der Index ,i bedeutet in diesem Abschnitt eine Ableitung nach yi. Der Nabla-Operator schreibt sich in krummlinigen Koordinaten
Hier wie im Folgenden muss die Einsteinsche Summenkonvention angewendet werden, der gemäß über in einem Produkt doppelt vorkommende Indizes, hier nur i, von eins bis zur Dimension des Raumes zu summieren ist.
Bei einem kovarianten Vektorfeld[2]:146 wird die Ableitung des kontravarianten Basisvektors benötigt, eine Ableitung, die auch mit Christoffelsymbolen ausgedrückt werden kann:
Der Gradient eines kontravarianten Basisvektors schreibt sich damit
Die #Produktregel liefert analog zum kontravarianten Vektor
Das totale Differenzial eines Skalarfeldes und eines Vektorfeldes haben somit (formal) dieselbe Form. Beim totalen Differenzial eines Skalarfeldes wird der Gradient mit dem Differenzial skalar multipliziert. Beim totalen Differenzial eines Vektorfeldes ist die Multiplikation zwischen dem Gradient (Matrixform) mit dem Differenzialvektor als Matrix-Vektor-Produkt durchzuführen.
Mit dem Vektorgradient kann die Richtungsableitung in Richtung eines Vektors berechnet werden:
Das hochgestellte ⊤ bedeutet eine Transponierung. In der Strömungsmechanik wird die linke Darstellung mit dem Nabla-Operator gegenüber der rechten bevorzugt, die in der Kontinuumsmechanik üblich ist. Die mithilfe des Vektorgradienten berechnete Richtungsableitung entspricht der Richtungsableitung, die man durch Grenzwertbildung bekommt:
für alle
Interessiert diejenige Richtung , in der die Richtungsableitung maximalen Betrag hat, ergibt sich das Eigenwertproblem
Der Tensor ist symmetrisch und positiv semidefinit, sodass alle Eigenwerte reell und nicht negativ sind. Der zum größten Eigenwert gehörende Eigenvektor liefert die Richtung, in der die Richtungsableitung den größten Betrag hat.
Der Vektorgradient beinhaltet alle partiellen Ableitungen der Komponenten eines Vektorfeldes, die bei der Rotation und Divergenz eines Vektorfeldes gebraucht werden. Es ist zu vermuten, dass diese Operatoren aus dem Gradient eines Vektorfeldes ableitbar sind. Tatsächlich ist[9]
Der schon angesprochene Deformationsgradient ist die grundlegende Größe zur Beschreibung von Verformungen von Körpern. Lokal stellen sich bei einer Verformung Längenänderungen und Winkeländerungen zwischen materiellen Linienelementen ein, die man sich in das Material eingeritzt denken kann, siehe Bild. Die Längenänderungen korrespondieren mit Dehnungen und die Winkeländerungen mit Scherungen im Material.
In der Kontinuumsmechanik gibt die Bewegungsfunktion den Ort an, an dem zur Zeit t ein Partikel ist, das zu einer definierten Zeit t0 am Ort war. Der Deformationsgradient F kann aus
berechnet werden, was seine Transformationseigenschaften der Linienelemente im undeformierten Zustand () in den deformierten () verdeutlicht.
In der Fluidmechanik wird die Eulersche Betrachtungsweise eingenommen, die das Vektorfeld der Geschwindigkeit als Funktion des Ortes und der Zeit t benutzt. Der Impulssatz eines Kontinuums besagt, dass eine volumenverteilte Kraft, wie die Schwerkraft eine ist, die Partikel des Körpers beschleunigt. Um das darzustellen, wird die Geschwindigkeit des Partikels mittels der Bewegungsfunktion eingeführt, die den Ort angibt, an dem sich das Partikel zur Zeit t befindet:
Der Überpunkt bildet hier die Substanzielle Zeitableitung. Für den Impulssatz kann nun die Substanzielle Beschleunigung als Zeitableitung der Geschwindigkeit bei festgehaltenem Partikel berechnet werden:
Der zweite Summand stellt einen konvektiven Anteil dar, der physikalisch daraus resultiert, dass das Partikel auch dadurch beschleunigt werden kann, dass es von einem schneller oder langsamer fließenden Stromfaden mitgenommen wird. Der Geschwindigkeitsgradient[10]:42 ff.[6]:230 ff. hat eine fundamentale Bedeutung in der Fluidmechanik.
Ein Insasse eines fahrenden Zuges wird die Geschwindigkeit eines vorbeifliegenden Vogels anders beurteilen als ein in der Nähe befindlicher Fußgänger. Die Geschwindigkeit ist demnach vom Standpunkt abhängig, sie ist genauer nichtbezugssysteminvariant oder kürzer nicht objektiv.
Für die Formulierung eines Materialmodells, in dem die Raten konstitutiver Variablen auftreten, wie beispielsweise beim newtonschen Fluid, werden jedoch objektive Zeitableitungen dieser Variablen benötigt. Denn es entspricht nicht der Erfahrung, dass ein bewegter Beobachter ein anderes Materialverhalten misst als ein ruhender.
Ein Newtonsches Fluid besitzt Viskosität, bei der zur Aufrechterhaltung einer Scherströmung eine Kraft erforderlich ist. Scherströmungen weisen unterschiedliche Geschwindigkeiten von benachbarten Fluidelementen auf, d. h. es treten Geschwindigkeitsgradienten[10]:12[6]:83 auf wie im unteren Teil des Bildes. Weil die Geschwindigkeit selbst nicht objektiv ist, siehe Hauptartikel, ist es ihr Gradient ebenfalls nicht[10]:37 f. und letzterer ist deshalb für die Modellierung von viskosen Fluiden ungeeignet. Der symmetrische Anteil des Geschwindigkeitsgradienten ist aber objektiv und wird bei der Modellierung von newtonschen Fluiden benutzt, was auf die Navier-Stokes-Gleichungen führt, die auf diese Weise invariant gegenüber einer Galilei-Transformation sind.
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Hugo Sirk: Einführung in die Vektorrechnung: Für Naturwissenschaftler, Chemiker und Ingenieure. Springer-Verlag, 2013, ISBN 3-642-72313-6, Kap. 5.4 "Das Vektorfeld und der Vektorgradient".
↑ ab
C. B. Lang, N. Pucker: Mathematische Methoden in der Physik. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg 2016, ISBN 978-3-662-49312-0.
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M. E. Gurtin: The Linear Theory of Elasticity. In: S. Flügge (Hrsg.): Handbuch der Physik. Band VI2/a, Bandherausgeber C. Truesdell. Springer, 1972, ISBN 3-540-05535-5, S.10.
↑ abc
P. Haupt: Continuum Mechanics and Theory of Materials. Springer, 2002, ISBN 3-540-43111-X.
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J. Betten: Kontinuumsmechanik. Elastisches und inelastisches Verhalten isotroper und anisotroper Stoffe. 2. erw. Auflage. Springer, Berlin, Heidelberg u. a. 2001, ISBN 978-3-642-62645-6, doi:10.1007/978-3-642-56562-5.