Freie Wahrscheinlichkeitstheorie

Teilgebiet der Mathematik

Die freie Wahrscheinlichkeitstheorie ist ein Teilgebiet der Mathematik, das 1985 von Dan Voiculescu begründet wurde. Die Theorie entsprang der Suche nach einem besseren Verständnis von gewissen Algebren von Operatoren auf Hilberträumen. Voiculescu isolierte dabei das Konzept „freeness“ oder „freie Unabhängigkeit“ als wesentliche Struktur und initiierte die freie Wahrscheinlichkeitstheorie als die Untersuchung dieser Struktur, losgelöst von ihrem konkreten Auftreten bei Operatoralgebren. Eine grundlegende Idee dabei ist, die freie Unabhängigkeit in Analogie zum Konzept der Unabhängigkeit von stochastischen Zufallsvariablen zu sehen und die Theorie in diesem Sinne als eine Art von Wahrscheinlichkeitstheorie für nicht-kommutierende Variablen zu entwickeln. Die Entdeckung von Voiculescu (1991), dass auch große Klassen von Zufallsmatrizen asymptotisch frei werden, markierte den Übergang der freien Wahrscheinlichkeitstheorie von einer spezialisierten Theorie für gewisse Operatoralgebren zu einer fundamentalen Theorie mit weitem Anwendungskreis. Insbesondere liefert die freie Wahrscheinlichkeitstheorie neue Methoden zur Berechnung von Eigenwertverteilungen von Zufallsmatrizen, welche auch von Interesse in angewandten Gebieten, wie z. B. der drahtlosen Kommunikation sind.

Notation: nicht-kommutativer Wahrscheinlichkeitsraum und Zufallsvariable

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Ein nicht-kommutativer Wahrscheinlichkeitsraum ist ein Tupel   bestehend aus einer unitären  -Algebra   und einem linearen Funktional   mit  .

Man spricht die Elemente in der Algebra   als verallgemeinerte (oder nicht-kommutative) Zufallsvariablen an.

Definition: Freeness oder freie Unabhängigkeit

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An die Stelle der stochastischen Unabhängigkeit tritt in der freien Wahrscheinlichkeitstheorie der Begriff der Freeness oder freien Unabhängigkeit, der wie folgt definiert ist:

Sei   eine beliebige Indexmenge, dann gilt:

1) Sei   eine Familie von unitären Unteralgebren von  . Dann heißen die   frei (oder frei unabhängig), falls gilt:
 
für alle   und alle  , wobei der Index   von   bis   läuft und zusätzlich   und   gelten muss. Dies bedeutet, dass benachbarte Elemente nicht aus der gleichen Unteralgebra stammen und dass die Elemente jeweils zentriert sind.
2) Zufallsvariablen   für   heißen frei, falls die von ihnen erzeugten unitären Unteralgebren frei sind.
3) Hat man eine Folge von Unteralgebren oder Zufallsvariable und gelten die obigen Relationen nur asymptotisch, so spricht man von asymptotischer freier Unabhängigkeit.

Freeness als Regel zur Berechnung gemischter Momente

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Man beweist nun leicht durch Induktion folgende fundamentale Beobachtung: Sind die Unteralgebren   frei bzgl.  , dann sind die Werte von   auf der von den   erzeugten Algebra eindeutig bestimmt durch die Werte aller Einschränkungen von   auf die   und durch die Freeness-Bedingung. In diesem Sinne sind die gemischten Momente von freien Zufallsvariablen durch die Momente der einzelnen Zufallsvariablen bestimmt. Falls   und   frei sind, so hat man z. B. für   und   dass

 
 
 

Diese Beispiele zeigen, dass die freie Unabhängigkeit wie die klassische Unabhängigkeit als eine Regel zur Berechnung von gemischten Momenten angesehen werden kann; allerdings ist diese Regel anders als die klassische. Die freie Unabhängigkeit ist also analog zur klassischen Unabhängigkeit zu sehen, sie ist aber keine Verallgemeinerung davon. Insbesondere können klassische Zufallsvariable nur frei sein, wenn mindestens eine der Zufallsvariablen konstant ist. Die freie Unabhängigkeit ist ein intrinsisch nichtkommutatives Konzept.

Der freie zentrale Grenzwertsatz

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Sei   ein nichtkommutativer Wahrscheinlichkeitsraum und   eine Folge von identisch verteilten und freien Zufallsvariablen mit Mittelwert   und Varianz  . Dann konvergiert

 

in Verteilung gegen ein Halbkreiselement, d. h. für alle natürlichen Zahlen   gilt:

 .

Weitere freie stochastische Resultate

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Der freie zentrale Grenzwertsatz ist nur ein Beispiel einer sehr reichhaltigen freien Wahrscheinlichkeitstheorie, parallel zur klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie. So hat man die binäre Operation   der freien Faltung auf den reellen Wahrscheinlichkeitsmaßen; diese entspricht der Addition von freien Zufallsvariablen. Die R-Transformation ist die Entsprechung des Logarithmus der Fouriertransformation und erlaubt eine systematische und effektive Berechnung der freien Faltung von Wahrscheinlichkeitsmaßen. Die entsprechenden multiplikativen Versionen sind gegeben durch die multiplikative freie Faltung   (welche dem Produkt von freien Zufallsvariablen entspricht) und die S-Transformation.

Die Koeffizienten der R-Transformation, die sogenannten freien Kumulanten, haben eine kombinatorische Interpretation in nicht-kreuzenden Partitionen. Letztere erlauben einen kombinatorischen Zugang zur freien Wahrscheinlichkeitstheorie.

Zusammenhang mit Zufallsmatrizen

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Die Tatsache, dass die Halbkreisverteilung nicht nur als Grenzwert im freien zentralen Grenzwertsatz auftaucht, sondern auch in Wigners Halbkreisgesetz als die asymptotische Verteilung der Eigenwerte von gaußschen Zufallsmatrizen, deutete auf einen tieferen Zusammenhang zwischen freier Wahrscheinlichkeitstheorie und Zufallsmatrizen. Voiculescu verfolgte diesen Zusammenhang weiter und konnte 1991 zeigen, dass freie Unabhängigkeit bei großen Klassen von Zufallsmatrizen asymptotisch auftritt:

Seien   und   zwei Folgen von  -Matrizen in den nichtkommutativen Wahrscheinlichkeitsräumen   mit jeweils existierender Grenzwertverteilung, d. h. für alle natürlichen Zahlen   existieren die Grenzwerte   und   Sei   eine unitäre Zufallsmatrix, verteilt gemäß dem normierten Haar-Maß auf den unitären Matrizen. Dann sind   und   fast sicher asymptotisch frei.

Zusammenhang mit Operatoralgebren

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Das grundlegende Beispiel für freie Unabhängigkeit taucht im Zusammenhang mit Von-Neumann-Algebren von freien Produkten von Gruppen auf.

Sei   das freie Produkt von Gruppen  . Sei   die zugehörige Gruppen-von-Neumann-Algebra und   der zugehörige Spur-Zustand, der dem neutralen Element der Gruppe entspricht. Dann kann   mit einer Unteralgebra von   identifiziert werden, und bezüglich   sind all diese   frei. Diese freie Unabhängigkeit ist hier nichts anderes als die Umschreibung mit Hilfe von   der Tatsache, dass die Gruppen   als Untergruppen frei in   sind. Die Definition von freier Unabhängigkeit war nach diesem Beispiel modelliert. Das frei in freier Unabhängigkeit bezieht sich darauf.

Ein wichtiger Spezialfall der Gruppen-von-Neumann-Algebren sind die freien Gruppen Faktoren  , wobei   die nichtkommutative freie Gruppe mit   Erzeugern ist. Die Motivation von Voiculescu war das freie-Gruppen-Isomorphismus-Problem: Sind die Von-Neumann-Algebren   und   für   isomorph?

Dieses Isomorphismusproblem ist immer noch offen, aber die freie Wahrscheinlichkeitstheorie konnte wesentliche Fortschritte in unserem Verständnis der freien Gruppen Faktoren liefern. So konnten Dykema und Radulescu, aufbauend auf Vorarbeiten von Voiculescu, zeigen, dass die   entweder alle isomorph oder je paarweise verschieden sind.

Freie Entropie und Operatoralgebren

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Eine wichtige Richtung in der freien Wahrscheinlichkeitstheorie in den letzten Jahren ist die Theorie der freien Entropie. Die freie Entropie von einem Tupel von Operatoren ist ein Maß dafür, wie viele Tupel von Matrizen es gibt, die das betrachtete Tupel in Verteilung approximieren. Eine wichtige Anwendung der freien Entropie war der Beweis von Voiculescu, dass die freien Gruppen Faktoren keine Cartan-Unteralgebren besitzen – dies lieferte ein Gegenbeispiel zu der seit den 60er Jahren offenen Vermutung, dass alle II -Faktoren eine solche Unteralgebra besitzen.

Literatur

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  • D.-V. Voiculescu, N. Stammeier, M. Weber (eds.): Free Probability and Operator Algebras, Münster Lectures in Mathematics, EMS, 2016.
  • James A. Mingo, Roland Speicher: Free Probability and Random Matrices. Fields Institute Monographs, Bd. 35, Springer Verlag, New York, 2017.
  • Alexandru Nica, Roland Speicher: Lectures on the Combinatorics of Free Probability (= London Mathematical Society Lecture Note Series. Bd. 335). Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2006, ISBN 0-521-85852-6.
  • Fumio Hiai, Dénes Petz: The Semicircle Law, Free Random Variables, and Entropy (= Mathematical Surveys and Monographs. Bd. 77). American Mathematical Society, Providence RI 2000, ISBN 0-8218-2081-8.
  • D. V. Voiculescu, K. J. Dykema, A. Nica: Free random variables. A noncommutative probability approach to free products with applications to random matrices, operator algebras and harmonic analysis on free groups (= CRM Monograph Series. Bd. 1). American Mathematical Society, Providence RI 1992, ISBN 0-8218-6999-X.
  • Roland Speicher: Free Probability Theory, Vorlesungsmanuskript.
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