Ein Ermittlungserzwingungsverfahren ermöglicht im deutschen Strafprozessrecht dem Verletzten einer Straftat, die Staatsanwaltschaft gerichtlich zur Einleitung oder Fortführung eines Ermittlungsverfahrens zu verpflichten.[1] Hingegen ist die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, nach vollständigem Abschluss der Ermittlungen keine Anklage gegen den Beschuldigten zu erheben, durch ein Klageerzwingungsverfahren gerichtlich überprüfbar.[2]

Anwendungsfälle

Einleitung

Ein Ermittlungserzwingungsverfahren ist zum einen angebracht, wenn die Staatsanwaltschaft nach einer Strafanzeige bereits den Anfangsverdacht des Vorliegens einer Straftat verneint und deswegen überhaupt keine Ermittlungen anstellt. In diesem Fall zielt das Ermittlungserzwingungsverfahren auf die Einleitung der Ermittlungen.[3]

Vervollständigung

Zum anderen ist aber auch dann ein Ermittlungserzwingungsverfahren angebracht, wenn die Staatsanwaltschaft zwar bereits Ermittlungen durchgeführt hatte, diese aber unzureichend waren. In diesem Fall zielt das Ermittlungserzwingungsverfahren auf die Vervollständigung der Ermittlungen.[3]

Begründetheit

Das Ermittlungserzwingungsverfahren hat demgemäß Erfolg, soweit die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt entweder gar nicht oder nur unzureichend ermittelt hat.[4] Nach einem erfolgreichen Ermittlungserzwingungsantrag verpflichtet das zuständige Oberlandesgericht die Staatsanwaltschaft zur Durchführung der erforderlichen Ermittlungen.[5]

Statthaftigkeit

Die Möglichkeit eines Ermittlungserzwingungsverfahrens ist in der Strafprozessordnung nicht normiert.[6] Ein Ermittlungserzwingungsverfahren ist kein eigenständiges Verfahren, sondern ein Klageerzwingungsverfahren mit anderer Zielrichtung. Es gelten die Vorschriften über das Klageerzwingungsverfahren in § 172 der Strafprozessordnung (StPO).[7][8] Dies wird damit begründet, dass § 172 StPO geschaffen wurde, als im Gesetz noch die so genannte gerichtliche Voruntersuchung geregelt und mit erfasst war.[9] Die Statthaftigkeit des Klageerzwingungsverfahrens in der Form des Ermittlungserzwingungsverfahrens wurde erstmals 1980 bejaht[10] und ist in der Rechtsprechung anerkannt.[11]

Verfahren

Das Ermittlungserzwingungsverfahren verläuft in der Form des Klageerzwingungsverfahrens gem. § 172 StPO.[1][12][13] Der entsprechende Antragsschriftsatz ist gemäß § 172 Abs. 1, S. 1 StPO binnen eines Monats nach Eingang des die Ermittlungen ablehnenden Bescheids der Generalstaatsanwaltschaft bei dem nach § 172 Abs. 4 StPO zuständigen Oberlandesgericht einzureichen.[14] Antragsberechtigt ist der Verletzte.

Anordnung weiterer Ermittlungen

Die Anordnung weiterer Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft geschieht dann, wenn diese entweder gar nicht oder nur unvollständig ermittelt hat.[1][9] Die Staatsanwaltschaft ist dann verpflichtet, die abgelehnten Ermittlungen aufzunehmen, bis zur Entscheidungsreife fortzuführen und dann erneut über die Einstellung des Verfahrens oder über die Erhebung einer Anklage zu entscheiden.[9]

Verfassungsrecht

Nur bei erheblichen Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung und die Freiheit der Person, insbesondere bei derartigen Straftaten von Amtsträgern, hat der Verletzte darüber hinaus einen Rechtsanspruch auf Strafverfolgung.[15] Danach hat der Verletzte einen Anspruch gegenüber den Strafverfolgungsbehörden auf ernsthafte und vollständige Ermittlungen in seiner Angelegenheit. Es handelt sich dabei um einen höchstpersönlichen Anspruch, der mit dem Tod erlischt.[16]

Rechtslage in Österreich

Im Ergebnis besteht nach österreichischem Recht dieselbe Rechtslage wie in Deutschland, nur die Begrifflichkeit ist unterschiedlich: Nach österreichischem Recht kann, zur Erzwingung der Einleitung oder Fortführung der strafrechtlichen Ermittlungen gegen einen Beschuldigten, ein sog. Antrag auf Fortführung bei Gericht gestellt werden. Das Gericht verpflichtet sodann, nach einem erfolgreichen Antrag, die Staatsanwaltschaft zur Einleitung oder Fortführung der Ermittlungen.

Beispiele

Im Fall des ermordeten Siegfried Buback, Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, beantragte dessen Sohn Michael Buback 2015 ein Ermittlungserzwingungsverfahren gegen das frühere RAF-Mitglied Siegfried Haag scheiterten jedoch an den hohen formalen Zulässigkeitshürden dieser Verfahrensart.[17] Das Ermittlungserzwingungsverfahren kommt aber auch in Betracht bei Straftaten im Zusammenhang mit neuen Technologien, wenn die Staatsanwaltschaft mangels entsprechenden Sachverstands die Strafbarkeit eines Sachverhalts nicht erkennt.[18] Im Falle eines unbegleiteten Ausgangs einer Psychiatriepatientin, die dabei suizidierte, ordnete das Bundesverfassungsgericht weitere Ermittlungen gegen den zuständigen Arzt wegen fahrlässiger Tötung an.[19]

Literatur

Einzelnachweise

  1. a b c Mirko Laudon: Ermittlungserzwingungsverfahren. In: strafakte.de. Abgerufen am 9. Dezember 2019.
  2. OLG Brandenburg, Beschluss vom 18. Oktober 2018, Az. 1 Ws 109/18.
  3. a b Mark Zöller (Bearb.); Björn Gercke (Hrsg.): Strafprozessordnung. 6. Auflage. 2019, ISBN 978-3-8114-3974-0, Rn. 27 zu § 172 StPO
  4. Lutz Meyer-Goßner, Bertram Schmitt: Strafprozessordnung. 62. Auflage. 2019, ISBN 978-3-406-73584-4, Rn. 1b zu § 172 StPO.
  5. Werner Beulke: Strafprozessrecht. 13. Auflage. 2016, ISBN 978-3-8114-9415-2, Rn. 244.
  6. OLG Nürnberg, Beschluss vom 28. Juni 2016, Az. 1 Ws 231/16
  7. Gerwin Moldenhauer (Bearb.): Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung. 7. Auflage. 2013, ISBN 978-3-406-63672-1, Rn. 3 zu § 172 StPO
  8. VerfGH München, E. v. 9. Februar 2022 - Vf. 62-VI/20. In: gesetze-bayern.de. 9. Februar 2022, abgerufen am 14. Februar 2022.
  9. a b c OLG München, Beschluss vom 27. Juni 2007, Az. 2 Ws 494/06 Kl NJW 2007, 3734.
  10. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 5. Februar 1980, Az. 1 Ws 424/79, GA 1981, 96.
  11. OLG Bremen, Beschluss vom 21. September 2017, Az. 1 Ws 55/17 mit umfangreichen Zitaten der Rechtsprechung seit 1980 zum Ermittlungserzwingungsverfahren
  12. Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Auflage 2019, Rn. 8 zu § 172 StPO, Rdn. 2 zu § 175 StPO
  13. OLG Brandenburg, Beschluss vom 18. Oktober 2018, Az. 1 Ws 109/17
  14. Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Auflage 2019, Rdn. 25 zu § 172 StPO
  15. BVerfG, Beschluss vom 22. Januar 2021, Az. 2 BvR 757/17, Rdnr. 11
  16. BVerfG, Beschluss vom 1. April 2019, Az. 2 BvR 1224/17
  17. OLG Stuttgart, Pressemitteilung zum Beschluss vom 6. Juli 2015, Az. 6 Ws 2/15
  18. Andreas Leupold, Silke Glossner (Hrsg.): Münchener Anwaltshandbuch IT-Recht. 3. Auflage. 2013, ISBN 978-3-406-64845-8, Rn. 512.
  19. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2020, AZ. 2 BvR 859/17