Ethnozid
Ethnozid (auch kultureller Genozid, kultureller Völkermord, englisch cultural genocide, oder Entnationalisierung[1][2]) bezeichnet den Versuch, die kulturelle Identität einer bestimmten ethnischen Gruppe zu zerstören, ohne jedoch ihre Angehörigen zu töten, wie es beim Völkermord (Demozid oder Genozid) der Fall wäre.[3][4][5][6]
Dies wird erreicht, indem die jeweilige Sprache, Kultur, Religion, Wirtschaftsweise und Herrschaftsform der entsprechenden Ethnie verboten und/oder zerstört wird.[7] Anstelle der alten wird den Betroffenen eine neue kulturelle Identität unter Drohungen und Repressionen auferlegt (oktroyiert).
Grund solcher Bestrebungen ist zumeist ein durch Rassismus gespeistes Überlegenheitsgefühl dominanter Gesellschaften gegenüber andersstämmigen Minderheiten. Ziel ist die beschleunigte Eingliederung der Minderheitsgesellschaft in die Mehrheitsgesellschaft durch Abschaffung der kulturellen Eigenarten.[7][8]
Abgrenzungen
BearbeitenIm Unterschied dazu beschreibt Transkulturation das Phänomen der, auch ungesteuerten, Einflussnahme einer Kultur auf eine andere. Der Begriff Akkulturation bezeichnet das individuelle Hineinwachsen einer Person in ihre kulturelle Umwelt durch Erziehung (siehe auch Sozialisation). Marginalisierung ist ein sozialer Vorgang, bei dem Bevölkerungsgruppen vorsätzlich kulturell, rechtlich und wirtschaftlich an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.
Wenn traditionelle oder kulturelle Rituale gegen die universellen Menschenrechte verstoßen, kann bei einem staatlichen Verbot dieser Rituale weder von Ethnozid noch von Assimilationspolitik die Rede sein.
Zwangsassimilation
BearbeitenHäufige Mittel der Assimilationspolitik sind:
- Linguizid: Das Verbot oder die massive Behinderung des Gebrauchs von Sprachen der Einheimischen bzw. von Minderheitensprachen (z. B. in Schulen) und die zwangsweise Einführung einer Amtssprache des Staates oder der Besatzungsmacht
- Ortsumbenennungen nach dem gleichen Muster
- Der Raub von Kindern und ihre zeitweise Zwangsinternierung in Schulen, Klöstern und Internaten für die Dauer des Schulalters
- Dauerhafte Zwangsadoptionen von Babys oder Kindern, durch Raub von ihren Eltern oder nach Ermordung der Eltern
- Zwangsassimilation von Minderheiten
Verbot von Zwangsadoptionen
BearbeitenDie gewaltsame Überführung von Kindern einer (ethnischen) Gruppe in eine andere ist seit 1948 eine durch die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes als Kriterium für das Vorliegen von Ethnozid geächtete Praxis.
Beispiele für Zwangsadoption
Bearbeiten- Lebensborn in Deutschland, z. B. Raub von polnischen Kindern, die von den Nationalsozialisten als „eindeutschungswürdig“ zur Germanisierung vorgesehen waren und interniert wurden; ähnlich auch in besetzten westeuropäischen Ländern und in Norwegen 1940–1945
Beispiele für Zwangsassimilation
Bearbeiten- Assimilation (Kolonialismus): koloniale Assimilationspolitik Frankreichs und Portugals
- Französische Assimilationspolitik im Elsass ab 1918[9]
- Politiken der Germanisierung, Magyarisierung und Russifizierung im 19. und 20. Jahrhundert
- Italianisierung: Im Besonderen bezeichnet der Begriff den Versuch der ab 1922 regierenden faschistischen Partei Italiens, die im Rahmen des Irredentismus einverleibten Gebiete mit nicht-italienischer Bevölkerung sprachlich und kulturell italienisch zu dominieren und ihrer gewachsenen Identität zu berauben.
- Entnationalisierung in Slowenien im 19. und 20. Jahrhundert (Versuche der Germanisierung, Italianisierung und Magyarisierung)[1]
- Roma in Tschechien und der Slowakei: Kaiserin Maria Theresia plante eine rigorose Assimilationspolitik, die neben der Wegnahme der Kinder zur Umerziehung auch eine Christianisierung nicht-christlicher Roma umfasste.
- Deportation und Unterdrückung von Lemken und Bojken in Südostpolen durch die Aktion Weichsel
- Samische Sprachen: Ungefähr zwischen 1850 und 1960 war der Gebrauch der eigenen Sprachen der Samen aufgrund der vorherrschenden Assimilationspolitik in den staatlichen Schulen aller drei skandinavischen Länder sowie dem Russischen Zarenreich bzw. der Sowjetunion verboten.[10]
- Assimilationspolitik gegenüber den Kurden in der Türkei
- Marginalisierung der Tuareg in Mali und Niger
- Kanada: Hier wurde seit dem 19. Jahrhundert systematisch versucht, Kinder der Ureinwohner (First Nations) in Internaten (Residential Schools) ihrer eigenen Kultur und ihren Eltern zu entfremden.
- Entfremdung von Aborigines-Kindern in Australien: Stolen Generations[11]
- Indianerpolitik der Vereinigten Staaten, z. B. bei den Ktunaxa
- Indigene Bewegung in Chile: Ende der 1920er Jahre war das Leitbild der Assimilationspolitik in Chile eine disziplinierte Gesellschaft, in deren Augen die traditionellen Siedlungsgebiete der Indigenen als „Un-Orte“ galten und aufgelöst werden mussten.
- Jenische in der Schweiz: Von 1926 bis 1973 betrieben die Stiftung Pro Juventute und andere private und staatliche Akteure eine Zerstörung der jenischen Kultur und Sprache durch zwangsweise systematische Entreissungen von Kindern aus jenischen Familien, um durch Fremdplatzierung in Zwangsinstitutionen oder Familien, oft als Kindersklaven (Verdingkinder), oder durch Zwangsadoptionen, vielfach unter Änderung der Namen, um sie außerhalb der Herkunftsgruppe fern ihrer Kultur und Verwandtschaft ihrer Identität zu berauben. Mittels Eheverboten, Zwangsinternierung Erwachsener und Zwangssterilisation zielte diese Vorgehensweise zudem erklärtermaßen auf die Verminderung der Geburtenrate und somit der Bevölkerungszahl der Jenischen in der Schweiz ab.
- Sinifizierung der Uiguren und Tibeter in der VR China – Xinjiang-Umerziehungslager
- Ryūkyū-Inseln: Es wurde versucht, die Bewohner der Ryūkyū-Inseln durch eine Assimilationspolitik in den japanischen Staat zu integrieren.
- Christliche Missionierung war weltweit häufig von Gewalt begleitet, wandte sich vor allem an Kinder und Jugendliche (Missionsschulen) und gründete sich auf eine angebliche kulturelle Überlegenheit des Christentums über die einheimischen Religionen.[12]
Siehe auch
BearbeitenLiteratur
Bearbeiten- Max Hildebert Boehm: Volkstumswechsel und Assimilationspolitik. Festschrift Justus Wilhelm Hedemann zum 60. Hgg. Roland Freisler, George Anton Löning, Hans Carl Nipperdey, Jena 1938
- Helmut Samer: Folgen der Assimilationspolitik. Nur online. Über Roma bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Preußen und im K. u. k. Österreich
- Arnd Bauerkämper: Assimilationspolitik und Integrationsdynamik. Vertriebene in der SBZ/DDR in vergleichender Perspektive. In: Marita Krauss, Hg.: Integrationen. Vertriebene in den deutschen Ländern nach 1945. V&R, Göttingen 2008, ISBN 3-525-36757-0, S. 22–47 (In google books einsehbar)
- Jutta Aumüller: Assimilation. Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept. Transcript, Bielefeld 2009, ISBN 3-8376-1236-8 (In google books einsehbar)
- Laura Balke: "Kultureller Genozid" als potentieller Straftatbestand - eine Analyse im Lichte der neueren Völkerrechtspraxis, in: Beiträge des UNESCO-Lehrstuhls für Internationale Beziehungen Dresden, Heft 13, Dresden 2018|Online=http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa-236081 |Abruf=2024-01-24
- Jasmina Zagorac: Le génocide culturel - un crime oublié du droit international?. Thèse de Doctorat, Université Lausanne, 2022 |Online=https://serval.unil.ch/resource/serval:BIB_CB56B6A20975.P001/REF.pdf |Abruf=2024-01-24
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ a b Rolf Wörsdörfer: Nationale Identitätskonzepte im Alpen-Adria-Raum: „Italiener“ und „Slowenen“ im 19. und 20. Jahrhundert. In: France Bernik, Reinhard Lauer (Hrsg.): Die Grundlagen der slowenischen Kultur (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Neue Folge. Band 6). Walter de Gruyter, 2010, ISBN 978-3-11-022077-3, S. 51 ff. (google.com [abgerufen am 14. September 2023]).
- ↑ Entnationalisierung. In: Wiktionary. 15. September 2023 (wiktionary.org [abgerufen am 15. September 2023]).
- ↑ Duden | Ethnozid | Rechtschreibung, Bedeutung, Definition, Herkunft. Abgerufen am 14. September 2023.
- ↑ entnationalisieren. In: Wiktionary. 14. September 2023 (wiktionary.org [abgerufen am 14. September 2023]).
- ↑ „Machen Sie mir dieses Land wieder deutsch“. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik und ihre Folgen. Das Beispiel Slowenien | H-Soz-Kult. Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften | Geschichte im Netz | History in the web. 14. September 2023, abgerufen am 14. September 2023.
- ↑ Dietmar Brenner: Slowenien 1941 – 1945. Soll dieser Abschnitt der Geschichte neu geschrieben werden? Kapitel: Die Entnationalisierung (Diplomarbeit). Hrsg.: Universität Wien. Wien 2008, S. 19 bis 23 (univie.ac.at [abgerufen am 14. September 2023]).
- ↑ a b Peter Bolz: Stichwort: Ethnozid in Walter Hirschberg (Begründer), Wolfgang Müller (Redaktion): Wörterbuch der Völkerkunde. Neuausgabe, 2. Auflage, Reimer, Berlin 2005. S. 112.
- ↑ Gunnar Heinsohn: Lexikon der Völkermorde. Rowohlt, Reinbek 1999, S. 128
- ↑ Ludwig E. Bernauer: Die Statistik als Spiegel der französischen Assimilationspolitik im Elsaß und in Deutschlothringen. In: Humanitas Ethnica. Menschenwürde, Recht und Gemeinschaft. Festschrift Theodor Veiter. Wilhelm Braumüller, Wien 1967, S. 183–197.
- ↑ Rainer Alsheimer, Alois Moosmüller, Klaus Roth (Hrsg.): Lokale Kulturen in einer globalisierenden Welt − Perspektiven auf interkulturelle Spannungsfelder. Waxmann, Münster 2000, S. 188.
- ↑ Gerhard Stilz, Rudolf Bader: Landrechte der Aborigenes und Torres Strait-Islanders. In: Dieselben (Hrsg.) Australien zwischen Europa und Asien (= German-Australian Studies – Deutsch-Australische Studien. Band 8). Lang, Bern 1993, ISBN 3-906752-20-8, S. ??.
- ↑ Lk 14,23 EU
Beispiel Nordamerika: Christian F. Feest: Beseelte Welten – Die Religionen der Indianer Nordamerikas. In: Kleine Bibliothek der Religionen, Bd. 9. Herder, Freiburg / Basel / Wien 1998, ISBN 3-451-23849-7, S. 185–193 sowie teilw. 193ff.
Beispiel Südamerika: Birgitta Huse, Heidi Feldt, Ludgera Klemp, Sabine Speiser, Volker von Bremen: Indigene Völker in Lateinamerika: Hintergründe – Fakten. Anregungen für den Unterricht. Internationale Weiterbildung und Entwicklung InWEnt gGmbH, Düsseldorf und Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH, Eschborn 2005, ISBN 978-3-937235-85-1, S. 20, 79, 85, 100.