Das unbekannte Mädchen

Film von Jean-Pierre und Luc Dardenne (2016)

Das unbekannte Mädchen (Originaltitel: La fille inconnue) ist ein belgisch-französisches Filmdrama von Jean-Pierre und Luc Dardenne aus dem Jahr 2016.

Film
Titel Das unbekannte Mädchen
Originaltitel La fille inconnue
Produktionsland Belgien, Frankreich
Originalsprache Französisch
Erscheinungsjahr 2016
Länge 113 Minuten
Altersfreigabe
Stab
Regie Jean-Pierre Dardenne,
Luc Dardenne
Drehbuch Jean-Pierre Dardenne,
Luc Dardenne
Produktion Jean-Pierre Dardenne,
Luc Dardenne,
Denis Freyd
Kamera Alain Marcoen
Schnitt Marie-Hélène Dozo
Besetzung

Handlung

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Seit drei Monaten vertritt die junge Ärztin Dr. Jenny Davin den alten Dr. Habran, der in den Ruhestand gehen wird; in wenigen Tagen wird sie eine neue Stelle als Ärztin im Ärztezentrum Kennedy antreten. Sie hat einen Praktikanten, Julien, der jedoch am vorletzten Tag ihrer Vertretungszeit bei einem Kind mit Krampfanfall versagt. Sie reagiert kritisch; als es an dem Abend lange nach Ende der Sprechzeit an der Praxistür klingelt, untersagt sie ihm zu öffnen. Julien geht und kehrt nicht zurück. Am Abend wird sie von ihren zukünftigen Kollegen mit einer kleinen Feier begrüßt, am nächsten Morgen erhält sie Besuch von der Kriminalpolizei. Unweit der Praxis wurde eine junge Frau tot aufgefunden und man wolle nun die Überwachungskamera der Praxis überprüfen. Es stellt sich kurz darauf heraus, dass die junge Frau bei Jenny geklingelt hatte. Diese macht sich Vorwürfe, auch wenn sie die schwarze Frau nicht gekannt hat. Julien hat sich unterdessen entschieden, den Arztberuf aufzugeben. Auch Jenny trifft eine Entscheidung: Sie wird Dr. Habrans Praxis weiterführen und die Stelle im Zentrum Kennedy nicht antreten.

Jenny beginnt mit Nachforschungen zur Identität der Frau. Sie sucht den Leichenfundort auf und zeigt das Foto der Frau Julien und Dr. Habran. Habran hat mehrere schwarze Familien in Behandlung, kennt die Frau jedoch nicht. Die Obduktion der Frau ergibt, dass sie sich wohl gewehrt habe, ein Mord also nicht ausgeschlossen werden kann. Jenny zeigt das Foto der Frau nun auch Patienten. An der Reaktion des jungen Bryan sieht sie, dass er etwas weiß, doch weigert er sich, etwas zu sagen. Später gesteht er ihr, sie gesehen zu haben. Sie habe wohl mit einem alten Mann in einem Wohnwagen Oralsex gehabt, bevor sie gegangen sei. Der Wohnwagen gehört Lambert junior, der gereizt reagiert, als Jenny von ihren Nachforschungen erzählt. Von Lambert senior, der der Kunde der jungen Frau war, erfährt sie, dass es sich um eine Prostituierte gehandelt hat, die sein Sohn ihm organisiert hat. Sie sei aus Lüttich, wo Freier sie in einem bestimmten Internetcafé finden würden. Lambert junior habe sie wegen eines Unfalls nicht nach Lüttich zurückbringen können. Jenny begibt sich zum Internetcafé, doch erkennen weder die Kassiererin noch zwei Männer im Café die junge Frau.

Jenny sucht Julien auf, der inzwischen seiner Großmutter auf dem Land aushilft. Sie erfährt, dass er durch den Arztberuf an seinen gewalttätigen Vater erinnert wird und ihn deswegen nicht mehr ausüben will. Jenny baut ihn auf; tatsächlich nimmt Julien kurz darauf sein Studium wieder auf. Jennys Recherchen bringen sie unterdessen in Gefahr: Sie wird von beiden Männern aus dem Internetcafé, die sich als Zuhälter entpuppen, angehalten und bedroht; sie solle nie wieder Fragen nach dem Mädchen stellen, sonst passiere ihr etwas. Zudem sieht sie Bryan wieder und versucht, ihn zum Reden zu bringen. Kurz darauf suchen seine Eltern sie auf und fordern sie auf, Bryan in Ruhe zu lassen. Sie wollen sich für die Familie einen neuen Hausarzt suchen. Auch die Polizei bittet Jenny, den Fall ihnen zu überlassen, haben ihre Recherchen doch das Drogenmilieu unruhig werden lassen, was die Ermittlungen erschwert. Sie nennen Jenny den Namen des Mädchens, den sie so lange wissen wollte: Angeblich handelt es sich um Serena Ndong aus Gabun.

Überraschend erhält Jenny Besuch von Bryans Vater. Er gibt zu, die junge Frau auf ihrem Heimweg vom Freier gesehen zu haben. Er sei ihr nachgefahren, wobei sein Sohn sie gesehen habe. Er habe sie angesprochen und einen Preis vereinbart. Am Kanal habe sie sich gewehrt und er sei ihr nachgelaufen, wobei sie in einer Baustelle gestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen sei. Er habe gedacht, sie sei ohnmächtig, und sei gegangen. Als Jenny ihm erzählt, dass die junge Frau an ihrem Blutverlust gestorben sei, wird Bryans Vater erst wütend und versucht sich dann in der Praxistoilette zu erhängen; am Ende stellt er sich der Polizei. Wenig später ist die Frau aus dem Internetcafé bei Jenny. Sie bedankt sich bei ihr, sei die junge Frau doch ihre kleine Schwester gewesen. Sie habe nichts gesagt, weil sie Angst gehabt habe, von ihrem ehemaligen Zuhälter gefunden zu werden. Ihre Schwester habe falsche Papiere gehabt, da sie noch nicht einmal 18 war. Ihre richtiger Name war Felicy Kumba. Die Frau geht und Jenny bleibt erschüttert zurück. Die nächste Patientin wartet jedoch bereits und Jenny widmet ihr ihre volle Aufmerksamkeit.

Der Film hat zwar eine kriminalistische Handlung, aber worum es wirklich geht, ist die Frage, wie man mit Schuld umgehen kann, und um Sühne durch die liebevolle Zuwendung zu anderen Menschen, durch tätige Nächstenliebe.

Der Film ist ganz unspektakulär gemacht. Sehr einfache Bilder, keine künstliche Schönheit. Sehr einfaches Milieu, die Einrichtung der Räume und die Außenaufnahmen zeigen eher Hässliches. Es wird auch keine Filmmusik eingesetzt, die diesen nüchternen Eindruck abmildern würde.

Zu Anfang ist die Protagonistin, die Ärztin Jenny Davin, sich ihrer selbst sicher. Kühl und überlegen erklärt sie ihrem Praktikanten Julien, dass er seine Gefühle beherrschen müsse, wenn er ein guter Arzt werden wolle. Sie verbietet ihm, an die Tür zu gehen, als es klingelt, und sagt zurechtweisend, dass man Grenzen ziehen müsse. Denn ihre Praxis ist seit einer Stunde geschlossen. Am nächsten Tag stellt sich heraus, dass sie sich schuldig gemacht hat, sie ist nicht an die Tür gegangen, als eine verfolgte junge Frau bei ihr geklingelt hat, und wird so mitschuldig an deren Tod. Später gesteht sie Julien, dass sie die Tür eigentlich öffnen wollte, es aber nicht tat, um ihm gegenüber recht zu behalten, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren.

Der Filmtitel hat mehrere Bedeutungsebenen: Nicht nur die junge afrikanische Tote ist unbekannt, auch die Europäerin Jenny kennt am Anfang sich selbst nicht, sie lernt sich aber im Laufe des Films langsam kennen. Sie wird demütig und lässt alle Selbstgerechtigkeit fahren. Sie fühlt sich schuldig und will ihre Schuld sühnen. Das tut sie, indem sie nach der Identität der Ermordeten fahndet, hartnäckig, mit all ihrer Kraft. Außerdem widmet sie sich – womöglich noch intensiver – ihrer Arbeit, ihren Patienten. Sie stellt ihr ganzes Leben in den Dienst der anderen. Deshalb schlägt sie auch das Angebot aus, im Centre Kennedy, wo Privatpatienten behandelt werden, eine gute Stelle anzunehmen und Karriere zu machen. Stattdessen übernimmt sie eine Praxis, in der sie es vorwiegend mit Menschen aus der Unterschicht zu tun hat. So wird sie immer wieder mit prekären Verhältnissen konfrontiert und hilft ihren Patienten, so gut sie kann. Sachlich und nüchtern, aber doch sehr sorgfältig und zugewandt.

Ihre „therapeutischen“ Bemühungen um ihre Mitmenschen haben Erfolg, sie „heilt“ sie von ihrer Schuld, indem sie sie dazu bringt, sich der Wahrheit zu stellen und zu ihr zu stehen: Bryan sagt ihr die Wahrheit, Bryans Vater gesteht ihr seine Tat und stellt sich der Polizei, der Praktikant Julien kann sich überwinden, ihr von seiner Kindheit zu erzählen, und wird dadurch fähig, seinen Lebenstraum zu verwirklichen und Arzt zu werden. Und schließlich meldet sich auch die Schwester der Toten, die durch Jennys Besuch im Internetcafé dazu gebracht wurde, ihre Schwester nicht länger zu verleugnen, sondern sich um ihr Grab zu kümmern, auf dem endlich der richtige Name stehen wird.

Wozu die Wahrheit sagen, wenn es der Toten doch nichts mehr bringt und den Bekennenden doch nur ins Unglück stürzt? Das fragt Bryans Vater Jenny. Und sie sagt dazu: Damit Sie Ihre Schmerzen loswerden (er hatte psychosomatische Schmerzen) und weil das Mädchen (noch) nicht tot ist, solange wir die ganze Zeit mit ihr innerlich beschäftigt sind („Elle n’est pas morte parce qu’elle est encore dans nos têtes.“). Es geht darum, dem toten Mädchen wenigstens ein klein bisschen Würde zurückzugeben, ihr die letzte Ehre zu erweisen. Ihr ihren Namen zurückzugeben und ohne bzw. jenseits der Schuldgefühle um sie trauern zu können.

Jenny gelingt es aber nur deshalb, die anderen zu „heilen“, weil sie sich ihrer eigenen Schuld bewusst ist und sie den anderen gegenüber bekennt. Sie stellt sich nicht über sie, sondern begegnet ihnen von gleich zu gleich. Das wird in einer Szene sehr augenfällig gemacht. Als Bryans Vater ihr seine Tat gesteht, steht sie erst „über ihm“ (er kauert auf einem Stuhl oder am Boden, sie steht), was er nicht erträgt. Er brüllt sie an, worauf sie sich zu ihm setzt, auf dieselbe Ebene wie er. Auch davor geht es schon um dasselbe Thema: Sie schaut ihn offen an, als er spricht, was er nicht erträgt, weil er es als Überhebung und Verurteilung empfindet. Er will, dass sie sich abwendet, und sie tut es.

Es bleibt offen, welche Auswirkungen die Aussage von Bryans Vater bei der Polizei haben wird, ob er wegen Mordes ins Gefängnis kommt oder nur wegen Gewaltanwendung und unterlassener Hilfeleistung eine Bewährungsstrafe bekommt, ob er damit wirklich das Leben seiner Familie zerstört oder nicht. (Man könnte hier an das Ende des anderen Dardenne-Films „L’enfant“ denken, wo der junge Vater im Gefängnis landet, die junge Frau aber zu ihm steht und sie gemeinsam weinen.) Seine Schmerzen und sein Selbstmordversuch zeigen aber, wie verzweifelt er ist und dass er kein glückliches Leben führen könnte, wenn er die Wahrheit weiter verschweigen würde.

Besonders beeindruckend ist eine der letzten Szenen des Films, in der Jenny die Schwester der Toten umarmt, nachdem diese auch noch den letzten bitteren Teil der Wahrheit gestanden hat: Sie war froh, dass ihre Schwester „weg“ war. Diese Umarmung ist eine letzte Versinnbildlichung der Brüderlichkeit bzw. Schwesterlichkeit, um die es im ganzen Film geht.

Produktion

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Olivier Bonnaud, Nadège Ouedraogo, Luc Dardenne, Adèle Haenel, Jean-Pierre Dardenne, Louka Minnella und Jérémie Renier (v. l. n. r.) während der Premiere des Films in Cannes 2016

Bereits im April 2015 war bekannt gegeben worden, dass Adèle Haenel die Hauptrolle im neuen Film der Bruder Dardenne übernehmen wird.[2] Das unbekannte Mädchen wurde von Oktober bis Dezember 2015 in Lüttich und Umgebung, darunter in Seraing, gedreht.[3] Die Kostüme schuf Maïra Ramedhan Levi, die Filmbauten stammten von Igor Gabriel.

Der Film erlebte am 18. Mai 2016 im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele von Cannes seine Premiere. Am 5. Oktober 2016 kam er in die belgischen und am 12. Oktober in die französischen Kinos. In Deutschland war er ab 15. Dezember 2016 in den Kinos zu sehen.

Auszeichnungen

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In Cannes lief der Film 2016 im Wettbewerb um die Goldene Palme. Er wurde 2017 für einen César in der Kategorie Bester ausländischer Film nominiert und erhielt eine Nominierung für einen Prix Lumières in der Kategorie Bester französischsprachiger Film.

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Einzelnachweise

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  1. Freigabebescheinigung für Das unbekannte Mädchen. Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (PDF).Vorlage:FSK/Wartung/typ nicht gesetzt und Par. 1 länger als 4 Zeichen
  2. Kevin Jagernauth: César Winner Adèle Haenel To Lead Dardenne Brothers Next Film „The Unknown Girl“ (Memento des Originals vom 9. Juli 2017 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.indiewire.com. indiewire, 23. April 2015.
  3. Aurore Engelen: Les Dardenne tournent La Fille inconnue. cineuropa.org, 21. Oktober 2015.