User:Methodios/Thüringen 1
Mein grüner Lebensgang bislang:
- 1. September 1970 - meine Eltern wurden verhaftet, ich nahm als Ältester Kontakt zur Untergrundopposition auf, die 1968 sehr erstarkt war (im Stasi-Jargon PUT: Politische Untergrundtätigkeit, Begriff im Ministerium für Staatssicherheit der DDR für systemkritische und oppositionelle Personen)
- 1971: Mitglied und "Frontschwein" bei den "DDR-Partisanen" im Kalten Krieg (an der "Unsichtbaren Front") - als Zwölfjähriger bleibe ich noch weit unter dem Radar des Staates
- 2. März 1972: "Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit" wird auf einer internationalen Konferenz im Smithsonian Institution in Washington, D.C. vorgestellt - in Deutschland erscheint hierzu: Jay Wright Forrester: "Der teuflische Regelkreis. Kann die Menschheit überleben?" Deutsche Verlags-Anstalt, 1972, ISBN 3-421-02632-7. Mein Vorschlag in der "Station Junger Naturforscher" Bernburg, Staßfurter Straße, auch eine Gruppe "Junge Naturschützer" zu bilden, endet mit einem Ausschluß meiner Person aus der Station
- Juli 1972: ich wurde in einer UdF-Aktion ("Unerkannt/Unerlaubt durch Freundesland") von einem ranghohen sowjetischen Offizier der Garnison Bernburg als "dessen Sohn" mit nach Moskau genommen (über den sowjetischen Flughafen in Ost-Berlin, der jetzt als architektonischer Beweis der SBZ abgerissen wurde) - der Offizier sympathisierte mit dem "Menschenrechtskomitee in der UdSSR" und Sacharow, dem "Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe", der sich aber schon 1961 erfolglos gegen die Zündung der Zar-Bombe ausgesprochen hatte, weil bereits die vorherigen Tests nach seinen Berechnungen 500.000 Menschen das leben gekostet hatten - der Offizier bemängelte, daß vor allem "gute Soldaten" ganz bewußt und vor allem sinnlos auf's Spiel gesetzt wurden (die USA machten es aber genauso!) - vor seiner Verhaftung war mein Vater einige Jahre (ehrenamtlicher) stellvertretender Kreisvorsitzender der DSF (Deutsch-Sowjetischen Freundschaft) und hatte in dieser Funktion hervorragende Kontakte zur sowjetischen Garnison, wo er mich regelmäßig mit hineinnahm, weil ich sonst diese Möglichkeit nie gehabt hätte (die Anlagen hatten mindestens zehn unterirdische Stockwerke, um einen Atomschlag auszuhalten) - in Moskau lerne ich nicht nur Sacharow kennen, der mich als "GDR-Partisan" in seiner Küche anerkennend auf die Schulter klopfte, sondern freundete mich mit dem damals 33-jährigen Waleri Nikolajewitsch Tschalidse an - eine Freundschaft, die ein Leben lang hielt († 3. Januar 2018 in Benson, Vermont - nach einer Vorlesungsreise in die USA wurde Tschalidse im Dezember 1972 die Rückreise verweigert und ihm die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen, er war also "der Biermann des ganzen Ostblocks").
- 1. März 1973: ich gebe das "Unwelt-Blättchen" mittels kopierstiften und Linolschnitten heraus, nachdem ich die Winterferien zur Vorbereitung genutzt hatte - es bestand aus Übersetzungen aus der Zeitschrift "Obschtschestwennyje problemy" des "Menschenrechtskomitees in der UdSSR", aus Mitschriften von Sendungen des DLF, der Deutschen Welle, teilweise auch Nachrichten der ARD, des ZDF, des NDR oder des RIAS und natürlich eigenen Artikeln zur Umweltsituation - sowohl der ökologischen, der ökonomischen und der sozialen (in Bernburg schäumte damals die bestialisch stinkende schwarze tote Saale das Wehr herunter und verbreitete große schmutzigweiße Schaumfetzen je nach Wind über dutzende bis hunderte Meter weit, der Dröbelsche Busch in der Saaleaue, aber auch die gesamte Umgebung des Zementwerkes war kitzegrau statt grün, weil in der Nacht heimlich die Filter abgeblasen wurde - mit billigst produziertem Bernburger Zement wurde nicht nur das Olympia-Stadion, sondern auch ein großer Teil der damaligen Großprojekte in Westdeutschland und Westberlin hochgezogen - zwar gab es wegen dem Devisen-Export kaum Zement in Bernburg zu kaufen, aber man konnte ihn sich pfundweise in der Landschaft zusammenwischen, noch störender aber waren die Sodawerke, wenn sie abgasen mußten und nicht nur die ganze Stadt, sondern die ganze Umgebung nach faulen Eiern roch - aber die womöglich größte Gesundheitsgefährdung ging vom Serumwerk aus, das Reparationsleistungen zu erbringen hatte und deswegen die Umwelt mit den hochgiftigen, aber nicht so richbaren Stoffen verseuchte - es wurde dennoch ruchbar - zu diesem Zeitpunkt mußten sich meine Eltern beide im Serumwerk in der Produktion "bewähren" - und dort pfiffen das die Spatzen schon vom Dach resp. sie fielen tot vom Dach, so hochgiftig waren die Abgase) - das Informationsinteresse war so riesig, daß ich über hundertfünzig Kopien anfertigen - und noch vor dem 20. Juni 1973 (unserem Umzug in die Klinker Mühle, Raduhn, Kreis Parchim) ein "Unwelt-Blättchen Nr. 2" mit weiteren ergänzenden und aktuellen Informationen herausgeben mußte
- Mai 1974: illegale Reise entgegen dem Willen meiner Eltern nach Bernburg mit dem "Unwelt-Blättchen Nr. 3" als Schreibmaschinenkopien auf Durchschlagpapier und mit neuen Linolschnitten als Illustrationen - da ich nicht mehr in Bernburg wohnte (und keine 15 Jahre alt war) kam mir die Stasi nicht auf die Schliche - ich hatte auch eine falsche Fährte gelegt, so daß Polzei etc. den Kyffhäuser nach mir durchkämmte und ich so Zeit hatte, die zweihundert Exemplare in Magdeburg, Schönebeck, Dessau, Köthen, Bernburg und Aschersleben zu verteilen - dann fuhr ich wieder nach Bernburg zurück - meine Oma brachte mich dann wieder zurück nach Mecklenburg-Schwerin, alle waren froh, daß der Fall gelöst war.
- zwischen Weihnachten und Neujahr 1974: angeblich auf "Klassenfahrt" bringe ich weitere hundertfünzig Exemplare des "Unwelt-Blättchens Nr. 3" nach Dresden und verteile auch in Radebeul, Meißen und Pirna - ofiziell besuch ich die Caspar-David-Friedrich-Ausstellung (zum 200. Geburtstag des Künstlers)
- Sommer 1975: legaler (von meinen Eltern erlaubter) Urlaub für eine Woche in Bernburg: Verteilungen des "Unwelt-Blättchens Nr. 4" in der Zeit in obgenannten Orten sowie in Halle, Merseburg, Schkopau und Leuna - ich hatte zuvor zu den Leuna-Werken (wo auch Giftgas heimlich produziert wurde) und Buna recherchiert und zweihundertfünfzig Blättchen hergestellt
- Juli 1976: das "Unwelt-Blättchen Nr. 5" erscheint - Verteilung in Schwerin, Wismar, Kühlungsborn, Bad Doberan, Rostock - die halbe DDR scheint am Ostseestrand zu liegen
- 22. August 1976: der 47-jährige Rippichauer Pfarrer Oskar Brüsewitz beging mit seiner Selbstverbrennung auf dem Marktplatz in Zeitz öffentlich eine Republikflucht in den Tod (sog. "Totalausreiser") und setzte damit ein politisches Fanal - ich begebe mich erneut auf eine "Klassenfahrt" und verteile das schnell geschriebene nur achtseitige Sonder-"Unwelt-Blättchens Nr. 6" zu dem Thema Oskar Brüsewitz in Ost-Berlin, Magdeburg, Halle, Leipzig und Dresden "print(mit der Schreibmaschine) on demand" und komme kaum hinterher, genug Kopien zu tippen - die Auflage erreicht zwar gerade so einhundert Durchschläge mittels Kohlepapier, geht aber von Hand zu Hand und dürfte die mit der größten Reichweite aller "Unwelt-Blättchen" gewesen sein
- 16. November 1976: Am Nachmittag verbreitete die DDR-Nachrichtenagentur ADN den Beschluss des Politbüros zur Ausbürgerung von Wolf Biermann - sofort schnitt ich alle erreichbaren westlichen Rundfunksendungen auf Tonband mit und recherchierte selbst zu dem Problem, das mich stark an meinen Freund Waleri Nikolajewitsch Tschalidse erinnerte - als Doppelheft von 32 Seiten angelegt, muß ich auf ein Dreifachheft von 48 Seiten erweitern, welches ich dann im Januar und Februar 1977 ganz in Ruhe mittels Schreibmaschinendurchschlägen und elf Linolschnitten vervielfältigen konnte (ich hatte bereits Ende 1976 einen Schulverweis erhalten, weil ich mich nicht unverbrüchlich mit der Politik der DDR im Falle Biermann solidarisch erklärt hatte) - drei Winterferien-Tagesreisen im Februar (nach Schwerin und Wismar, nach Güstrow und nach Rostock) zu den dortigen Antiquariaten und Buchhandlungen nutzte ich zum Verteilen des Sonder-"Unwelt-Blättchens Nr. 7" zu dem Thema Wolf Biermann, dem umfangreichsten überhaupt (ich kam idR mit mehr Papier wieder als ich losfuhr, weil insbesondere die Antiquariate für mich sehr ergiebig waren) - ab April 1977 mußte ich noch eine Extra-Blatt (S. 49) einlegen, weil ich eine Stellungnahme meines Freundes Waleri Nikolajewitsch Tschalidse (damals aus New York) zur Ausbürgerung Wolf Biermann erhalten hatte, in der er auch da Ende der DDR prophezeite - 13 Jahre nach seiner Ausbürgerung begann Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion, und 13 Jahre nach Wolf Biermanns Ausbürgerung fiel die Mauer - Waleri Nikolajewitsch Tschalidse erhielt erst danach im Jahr 1990 seine sowjetische Staatsbürgerschaft zurück, so unbeliebt hatte er sich gemacht - er blieb deswegen auch in den USA und starb dort 2018
- Juli 1977: das "Unwelt-Blättchen Nr. 8" erscheint - Verteilung in Schwerin, Wismar, Kühlungsborn, Bad Doberan, Rostock - die halbe DDR scheint am Ostseestrand zu liegen
- 3. Oktober 1977: genau zu meinem 18. Geburtstag erhielt ich im letzten Schuljahr vor den Abiturprüfungen den endgültigen Schulverweis - mein Vater hatte mich im März unter Hinweis auf die DDR-(Berufs-)Schulpflicht bis 18 Jahren nochmals in die EOS geboxt. Ich hatte meine "sozialistische Schulpflicht" erfüllt und gleichzeitig eine weitere sozialistische Ausbildung verwirkt - zum 1. November wurde ich Maschinenfutter im VEB Hydraulikwerk Schwerin (statt Kanonenfutter - die NVA hatte schon im März 1977 dankend auf mich verzichtet - ich hatte mich bei der GST so verhalten, daß ich schon 1976 vor den Sommerferien und damit vor dem dreiwöchigen paramilitärischen Ausbildungslager in Prerow dort suspendiert wurde - Freunde von mir gaben wahrheitswidrig an, sie wären homosexuell, oder begingen vorsätzlich Straftaten wie Diebstahl und Einbrüche, um dann als Vorbestrafte um die NVA herumzukommen) - ich trat in den Zirkel Schreiender Arbeiter Schwein ein, gründete das Stegreif-Arbeiter-KabAdrett, machte eine Ausbildung zum Conferencier und erhöhte meine Einstufung zum SPU (Schallplattenunterhalter) gleich von der Grundstufe zur Oberstufe (dank des professionellen Programmgestalters Günther Lehmann, mein Zirkelleiter und Absolvent der Literaturschule Leipzig) - ich arbeitete auch für den Rundfunk Schwerin und für das Theater Schwerin - bis ich Anfang Februar 1978 den Heiratsantrag des vor mir mit Rosen knienden freischaffenden Schriftstellers abwies, unter einem vorkragenden Fachwerk in der Schweriner Innenstadt, angeblich einer traditionelle Stelle für solche Anträge - Günther Lehmann, in seinen Gefühlen verletzt, verpfiff mich dann an die Stasi, die ihn als Homosexuellen sowieso im Griff hatte - kurz darauf begannen Ausforschungen, ich flog aus meiner Arbeit, verlor die Kulturarbeit sowieso - weil ich es abgelehnt hatte, mich dort "hochzuschlafen"