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Sommerfrische (German)

Chapter 3: Feuer

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MARTIN

„Heut’ kommt ein Gewitter, ich spür’s in meinen Knochen“, hatte die alte Bäuerin stirnrunzelnd angekündigt. Martin, der zum Wetterlesen wahrhaftig kein Talent hatte, sah zum wolkenfreien Himmel hinauf. Tagelang war es zum Einschlafen heiß gewesen, die Sonne schwer auf die Felder herunterknallend. Tage zum Dösen im Schatten, zum genüsslich langsamen Liebesspiel mit Otto, Tage zum Träumen und Vergessen.

Die Alte schien ihm den Skeptizismus anzumerken, denn sie schnaubte verächtlich. „Abwarten, es kommt schon. Davon versteht ihr Städter nichts.“

Martin machte sich nicht die Mühe, sie zum wiederholten Male zu erinnern, dass zumindest Otto aus Bayern kam. Alles, was außerhalb ihres kleinen Tals lag, war für die Alte anscheinend Stadt. Was das Wetter dort betraf, hatte sie allerdings recht. In Berlin war Wetter etwas, das draußen ablief und das er meistens ignorierte. Das einzige Mal, als Wetter für ihn wirklich relevant gewesen war, war am Balkan gewesen – wie nass, wie kalt, wie günstig für den Feind, wie schwierig die Bergung der Verwundeten – und daran wollte er nicht denken.

Sie wussten also, dass es kam, aber wenn man jahrelang Bombenalarm hinter sich hatte, nutzte rationales Wissen herzlich wenig.

OTTO

Sie blieben an dem Abend auf und warteten, ohne dass sie sich hätten absprechen müssen. Otto zog sich nicht zum Schlafen um, und Martin war stumm seinem Vorbild gefolgt. Otto war ihm dankbar dafür, auch wenn er sich ein wenig schuldig fühlte, weil Martin auch seine Prothese anließ. Nach dem langen Tag musste sie drücken.

Er brachte es trotzdem nicht zustande, vorzuschlagen, dass sie zu Bett gingen. Ganz ferne, nach Süden hin, grummelte leise der Donner, und Otto spürte, wie sich dabei jeder Muskel in seinem Körper anspannte.

Er hatte eine Zeitlang gebraucht, um sich dazu zu überwinden, sich überhaupt zum Schlafen umzuziehen. Zu sehr war es ihm am Dachboden zur Gewohnheit geworden, in seinen Kleidern zu schlafen, damit er stets sprungbereit sein konnte, auch wenn er eigentlich nirgends hinkonnte. Es war seine einzige, erbärmliche Möglichkeit gewesen, sich ein winziges Maß an Kontrolle über eine unkontrollierbare Situation zu wahren – er konnte den Bomben nicht entkommen, konnte Karin nicht wirklich beschützen, hätte überhaupt nichts tun können, wenn plötzlich Gestapo oder Soldaten auf dem Dachboden gestanden hätten. Aber zumindest stand er den Gefahren nicht nackt oder im Schlafanzug wehrlos ausgeliefert gegenüber. Zumindest gab ihm seine Kleidung die Illusion einer Wappnung. Zumindest konnte er stets bereit sein, sich Karin zu schnappen und einen Fluchtversuch wenigstens zu versuchen.

Selbst in den Nächten, die Martin mit ihm am Dachboden verbrachte, hatte er sich so bald wie möglich wieder angezogen, eine Angewohnheit, die er seit dem Kriegsende nur nach und nach hatte brechen können. Schon eine Krankenwagensirene oder eine Fehlzündung eines Autos auf den nächtlichen Straßen brachte ihn dazu, aus dem Schlaf hochschreckend sofort nach seinen Kleidern zu greifen. Und Gewitter… nun, er war sicher nicht der einzige Kriegsheimkehrer, der bei krachendem Donner Zustände kriegte, aber dieses Wissen half auch nicht.

„Es kommt näher“, sagte er, als er am Fenster stand und hinausstarrte. Der Nachthimmel war von dunklen Wolken verhangen, die vom aufsteigenden Wind dahingejagt wurden. Nur ab und zu wurde ein Fetzen purpurnen Himmels sichtbar. Die Landschaft lag ins Dunkel getaucht – ihr Zimmer lag zum Wald hin, sodass es nur Schwarz auf Dunkelgrau zu sehen gab. Am Horizont zuckten ab und zu Blitze durch die Nacht. Der Donner rollte näher, langsam, aber unaufhaltsam wie eine Panzerkolonne.

Martin, der auf dem Bett gesessen und aus Schillers Die Räuber vorgelesen hatte, war verstummt. Anfangs hatte Otto noch zugehört und sich von Martins verschiedenen Stimmen für die Charaktere unterhalten lassen, doch es fiel ihm zunehmend schwerer, aufzupassen.

„Kann trotzdem noch ein bisschen dauern“, meinte Martin und legte das Buch beiseite. „Otto?“

Otto antwortete nicht; er starrte in das sich zusammenbrauende Dunkel. Seine Hände waren feucht geworden und die Luft im Zimmer schien plötzlich ungemein stickig. Am Fenster stehen und auf fernes Grollen lauschen… Gott, wie er das hasste. Er löste den Fensterriegel und öffnete das Fenster einen Spalt. Die schwüle Luft, die hereindrang, war kaum kühler als drinnen und trug einen Hauch von Petrichor mit sich. Es roch metallisch, fast wie Patronenrauch. Er hasste es auch, dass ihn in solchen Momenten jede Kleinigkeit an den Krieg erinnerte.

„Warum ist es so verdammt schwül?“ murmelte er aufgebracht. „Wenn das blöde Gewitter wenigstens erst vorbei wäre.“ Ihm war klar, dass er sich gerade reinsteigerte, sich wahrscheinlich überhaupt erst alles selbst beängstigend machte; im Hinterkopf konnte er widerwillig de Crinis’ selbstgefällige Stimme einen Vortrag über hysterische Kriegsneurosen halten hören. Blöd nur, dass das rationale Wissen gegen den irrationalen Panikinstinkt überhaupt nichts ausrichten konnte.

„Vielleicht zieht es auch an uns vorbei“, sagte Martin. Otto nickte zerstreut, während er angestrengt in die Dunkelheit lauschte. Da, der Blitz – das war schon viel näher als der letzte. Er zählte schweigend die Sekunden bis zum Donner und fuhr trotzdem heftig zusammen, als dieser lauter als erwartet ausbrach.

„Hey.“ Martin war aufgestanden und hinter ihn getreten. Seine Hände legten sich warm auf Ottos Schultern. Er spannte sich an, wollte sich entschuldigen, dass er so ein nervöses Wrack war, herrje, Martin hatte im Krieg viel Schlimmeres erlebt als er, er hatte ja noch nicht mal kämpfen müssen – war er wirklich so schwach, dass er mit den paar Erinnerungen an die Luftangriffe nicht fertig wurde, die ihn ohnehin nicht erwischt hatten?

Seinem Dachbodeninstinkt, der sich unter dem drohenden Himmel ohnmächtig zusammenkrümmen wollte, waren solche Vorwürfe herzlich egal – der wollte nur raus, sich irgendwo einwühlen, wegrennen, und wusste sich doch eingesperrt, in der Falle, konnte nur erstarrt dastehen und hineinstieren in die brodelnde Dunkelheit, aus der gleich das brüllende Feuer auf ihn fallen und ihn verzehren würde.

„Du...“ Martins Hände drehten ihn um, legten sich bestimmt um sein Gesicht. Die Daumen streichelten zart über seine Wangenknochen. Dicht vor ihm waren Martins Augen, besorgt und aufmerksam hinter den runden Gläsern, ohne Spur der Verachtung, die Ottos Hirn partout hineinprojizieren wollte.

„Musst du raus?“ fragte er ruhig.

Otto blinzelte, schluckte an dem harten Knoten der gefrorenen Panik in seinem Hals, und nickte.

Martin fasste nach seiner Hand. „Lass uns gehen“, sagte er nur.

Otto folgte ihm ohne Protest. Manchmal half in Berlin nur das, wenn er von einem Geräusch oder einem Albtraum zurück an die Front oder auf den Dachboden versetzt wurde und sich eingeschlossen fühlte: raus ins Freie, auf die Straße oder in den nächsten Park, weil es dort irgendwie einfacher war zu glauben, dass keine Bomben vom Himmel fallen würden.

Nach anfänglichen Schuldgefühlen hatte er auch immer dankbar angenommen, dass Martin es sich nicht nehmen ließ, dieses Ausbrechen gemeinsam mit ihm zu machen, gelassen und ohne Aufhebens an seiner Seite. Es ging dann leichter.

An der Haustür zögerte er diesmal jedoch. Immerhin war es draußen dunkel, das Pflaster uneben und eigentlich war ihm auch der Hof noch zu eng. „Du, ich glaub, ich muss raus aufs Feld – du musst aber nicht mitkommen. Ich schaff das schon.“

Martin schoss ihm einen höchst unbeeindruckten Blick zu, während er sich einen Regenmantel von den Haken neben der Tür griff. „Gleiches Recht für alle, Marquardt. Lüg mir nicht vor, wie gut du was schaffst, wenn du weiß bist wie ein Laken. Außerdem wirst du mich so schnell nicht los.“ Er drückte Ottos Finger und öffnete die Haustür.

MARTIN

Klebrig schwüle Luft schlug ihnen entgegen. Der Geruch des kommenden Regens war stärker geworden. Martin konnte fast das Gewicht des Wassers spüren, das die Wolken über ihnen beschwerte und nur darauf wartete, entladen zu werden. Er trat in den Hof hinaus, Otto dicht hinter ihm. Er konnte die abwartende Anspannung in ihm spüren, als hätten ihn die näherkommenden Blitze bereits aufgeladen. Er hörte sein unregelmäßiges Atmen, fühlte die nervöse Energie in seinem Körper.

„Ich… muss los“, sagte Otto abrupt, ein Beben in seiner Stimme, und dann rannte er los. Er sprintete in ein paar langen Sprüngen über den Hof, schwang sich über das hölzerne Zauntor und rannte hinaus auf das kahlgeerntete Feld.

Martin ließ ihn laufen. Er zog sich den Regenmantel über und folgte ihm in weitaus langsamerem Tempo, während er immer wieder zum Himmel spähte. Lange musste er nicht Ausschau halten. Das Gewitter wälzte sich über das Tal wie ein gewaltiges, unförmiges Urtier. Der Regen kam ohne weitere Warnung: Im einen Moment war die Luft noch schwer und bedrückt, im nächsten stürzte der Regen herab, als hätte jemand einen Wasserhahn aufgedreht. Kühle brachte er nicht; das herabströmende Wasser war fast lauwarm.

Es donnerte erneut, und Martin konnte sein eigenes Zusammenzucken nicht verhindern. Auch wenn die Luftangriffe nicht gerade spurlos an ihm vorübergegangen waren, hatte er die meisten davon immerhin in Gesellschaft im Bunker verbracht und war zudem mit den Patienten beschäftigt genug gewesen, dass er sich ablenken konnte. Von dem her war ihm das Gewitter eigentlich egal, bloß ließ sich nicht leugnen, dass die zuckenden Blitze und der Donner verflucht nach Feindbeschuss klangen und aussahen. Ein dumpfer Schmerz fuhr ihm unvermutet durch das fehlende Bein. Mit Phantomschmerzen hatte er schon lange nicht mehr zu kämpfen, aber ab und zu kam es trotzdem vor.

Martin biss die Zähne zusammen, zog sich die Kapuze tief über den Kopf, damit es ihm nicht die Brille vollregnete, und stapfte los.

Das Vorankommen über das regengepeitschte Feld war kein Vergnügen. Er zwang sich, langsam zu gehen und den Instinkt, sich bei jedem Blitz oder Donnerschlag auf die Erde zu werfen und auf den Ellenbogen zum nächsten Unterstand zu robben, als das wahrzunehmen, was er war… sein Reptilienhirn, das sich unter dem nächstbesten Stein zusammenrollen wollte.

OTTO

Otto rannte. Er rannte ins Dunkel, aufs Geratewohl, spürte schon nach wenigen Schritten Gras und Erde unter den Füßen, die sich im prasselnden Regen zu Schlamm wandelten. Er rannte ohne Rücksicht auf den Regen, auf Steine oder Löcher in seinem Weg, auf irgendwelche Hindernisse, die ihm den Hals brechen könnten. Er rannte, weil er es konnte, weil die dröhnende Welt nicht nach zehn Schritten an ein Fenster oder eine Wand stieß, weil er sich nicht mit einem ängstlichen Kleinkind unter einer Matratze verstecken musste.

Er rannte das abgeerntete Feld entlang, das im Licht der Blitze knochenbleich aufleuchtete, rannte, bis er nicht mehr konnte und er stehenbleiben musste, vornübergebeugt, die Hände auf den Knien. Sein Herz schlug so heftig, dass er kurz glaubte, sich übergeben zu müssen, und er atmete in heftigen, fast schon schmerzhaften Stößen. Der Regen klatschte auf ihn hinunter wie ein nasser Vorhang. Über ihm rollte der Donner, wieder und wieder. Er richtete sich auf und legte den Kopf in den Nacken, spürte den Regen in seinen Augen, sodass er fast blind war; öffnete den Mund und schrie. Er brüllte wortlos in den tobenden Himmel hinauf, der gleichgültig zurückgrollte, schrie seine Ohnmacht und Wut und die verfluchte sinnlose Angst in die nasse, tobende Nacht. Laut sein, das hatte es am Dachboden nie gegeben. Er ließ sich hineinfallen in den Schrei, der ihm die Brust zu zerreißen drohte und doch etwas in ihm zu lösen schien; er schrie, halb lachend und halb heulend, nahm am Rande wahr, dass er aussehen musste wie ein absolut Irrer, und brüllte noch ein wenig weiter.

MARTIN

Martin setzte die Füße vorsichtig, damit er auf dem nassen Feld nicht stürzte, und blinzelte angestrengt in die Nacht. Die Blitze folgten jetzt Schlag auf Schlag. Jeder von ihnen beleuchtete die Landschaft fast taghell. Er konnte Otto sehen, etwa hundert Meter vor ihm, eine schlanke, dunkle Silhouette. Vor allem konnte er ihn hören. Der erste raue Schrei jagte ihm einen Schub Adrenalin durch den Körper und ließ ihn fast alle Vorsicht vergessen und losstürzen, um zu sehen, ob Otto verletzt war, ob er Hilfe brauchte.

Doch er merkte schnell, was vor sich ging. Ottos Arme waren ausgebreitet, der Kopf in den Nacken gelegt, und er brüllte hemmungslos ins Nichts, brüllte sich wohl so einiges von der Seele. Schön, warum auch nicht? In Berlin ging das kaum, und wenn es half…

Martin ertappte sich dabei, wie er sich beim nächsten Donnerschlag schon wieder instinktiv duckte und nach Deckung umsah. Er blinzelte unter dem Rand der Kapuze zum kochenden Himmel empor. Ottos wortlose, sich überschlagende Schreie drangen immer noch an sein Ohr, Schreie voll von Wut und Emotion. Er schien den Himmel direkt herauszufordern. Einfach mal brüllen… ob das wirklich was bewirkte?

Er räusperte sich und öffnete den Mund, um es zu versuchen. Heraus kam der verlegenste, manierlichste Krächzer, den er je gehört hatte. Er schnaubte geringschätzig und versuchte es nochmals, ohne besseres Ergebnis. Vielleicht lag ihm Schreien einfach nicht. Er konnte sich nicht erinnern, auch in den schlimmsten Momenten seines Lebens je viel rumgebrüllt zu haben. Zähne zusammenbeißen, bloß nicht auf sich aufmerksam machen, das war mehr sein Ding. Alles nach innen verknäueln, in einen platzsparenden Knoten, der die äußeren Funktionen nicht behinderte. Bloß nicht zu viel Platz einnehmen oder zu viele Bedürfnisse anmelden. Immer unbemerkt bleiben; nie laut sein.

Blöd nur, dass zu dem Knoten mit der Zeit so einiges dazukam und mehr Platz beanspruchte: der beschissene Krieg, die Frontbewährung, die lähmende Angst um seinen ersten Freund, das Bein, der Schmerz, der Frust, die Angst vor der Existenz als nutzloser Krüppel, die Angst vor dem KZ, dann die höllische, alles vernichtende Angst um Otto…

Er versuchte es nochmal, und diesmal ging es leichter, auch wenn der Schrei, der ihm aus der Lunge brach, immer noch etwas Zurückhaltendes und Krächzendes an sich hatte und nicht lange anhielt.

Als er die Augen öffnete – er wusste nicht, wann er sie geschlossen hatte – stand Otto vor ihm, schwer atmend und bis auf die Haut durchnässt. Das Haar klebte ihm am Kopf.

Seine Stimme war heiser vom Schreien, und ängstlich. „Martin? Bist du in Ordnung?“

Unter den Umständen mutete ihn die Frage so absurd an, dass er lachen musste. „Scheiße, nein. Du etwa?“

Otto starrte ihn an, als ob er es sei, der nachts in Gewittern rumrannte und den Himmel anschrie, und er musste noch mehr lachen, es blubberte einfach aus ihm heraus. Im Gegensatz zum Schreien tat sich das Lachen keinen Zwang an. Er war sich bewusst, dass er sich mehr als nur ein bisschen hysterisch anhörte. Er sollte Otto beruhigen…

Gerade da blitzte es wieder und schlug ohrenbetäubend irgendwo ganz in der Nähe ein. Sie fuhren beide heftig zusammen. Otto stieß einen Fluch aus, und Martin… nun, Martin lachte und lachte. „Geht schon“, presste er hervor, als er Ottos Hand auf seiner Schulter spürte. „Geht… gleich… wieder.“

Es ging nicht. Ihm tat schon der Bauch weh; aus seinen Augen quollen Tränen und vernebelten ihm die Brille. Auf einem naheliegenden Hügel stand ein einsamer Baum in Flammen; der rötliche Feuerschein beleuchtete Ottos Gesicht, in dem es unvermittelt zuckte.

„Also meines professionellen Erachtens haben Sie eine Schraube locker, Herr Schelling“, dozierte er hochnäsig.

Martin kicherte hämisch. „Dann bin ich ja in bester Gesellschaft.“

Sie lachten beide, so heftig, dass sie sich gegenseitig stützen mussten. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder zu Atem kamen. Der Regen ließ allmählich nach; die Blitze zuckten weniger häufig über das Tal. Sie standen im nassen Feld, die Stirnen erschöpft aneinander gelehnt.

„Du bist klatschnass“, stellte Martin fest und rieb mit den Händen über Ottos Oberarme. Er fühlte sich ein wenig heiser.

„Macht mir nichts aus“, murmelte Otto zurück, aber er fasste Martins Hand und zog ihn auf die nahe gelegene Heuscheune zu.

OTTO

Sie saßen auf der schmalen Bank vor der Scheune und beobachteten den brennenden Baum am Hügel, eine orangefarbene Fackel in der Dunkelheit. Der Regen tat sein Bestes und würde die Flammen wohl bald gelöscht haben, doch im Moment versuchten sie sich noch tapfer zu halten. Das Gewitter rollte langsam gen Norden weiter, der Donner wurde schon leiser.

Das vorragende Dach der Scheune bot ihnen ausreichend Schutz vor dem Regen. Martin hatte trotzdem darauf bestanden, den Regenmantel wie eine Decke über sie beide zu legen. Sie saßen dich aneinander gelehnt. Otto war immer noch warm, trotz seiner nassen Kleider.

„Glaubst du, dass wir den ganzen Scheiß irgendwann mal loswerden?“ fragte er versonnen.

Er konnte fühlen, wie Martin mit der Schulter zuckte. „Ich weiß nicht. Hast du Anni mal gefragt? Die kennt sich doch sicher besser damit aus.“

Otto schnaubte. „Du weißt schon, bei wem sie Psychiatrie studiert hat, oder?“

„Hast recht.“ Dicht an Martins Seite gelehnt konnte ihm dessen leichtes Schaudern nicht entgehen. Er dachte daran, was Martin ihm von seiner Schutzhaft erzählt hatte, de Crinis’ satter Zufriedenheit, seinem sogenannten Behandlungsangebot. Dem einzigen Ausweg, den Martin gesehen hatte. Er griff nach Martins Hand und streichelte mit dem Daumen über die dünne Haut an der Innenseite des Handgelenks.

„Er ist tot.“ Seine Stimme war nicht ganz fest; noch immer versetzte ihm die Vorstellung an das, was hätte passieren können, kalte Stiche ins Herz. Martin sagte nichts, erwiderte aber den Druck seiner Hand.

„Außerdem weiß ich nicht, ob Anni überhaupt in der Psychiatrie bleiben will“, setzte Otto hinzu. „Ich glaube, das letzte Jahr hat so einiges bei ihr umgewälzt.“

„Besser spät als nie.“ Der leichte Spott in Martins Stimme war nicht bösartiger Natur. Es hatte einige Zeit gedauert, aber Anni und er hatten sich schließlich doch noch zusammengerauft.

„Ich…“ Otto zögerte einen Augenblick, gab sich dann aber einen Ruck. Die Dunkelheit machte ihm das Reden leichter. „Ich glaube aber, dass ich es vielleicht damit versuchen möchte“, sagte er leise.

„Mit… Psychiatrie?“ Martin klang überrascht, aber nicht ablehnend, und Otto sprach rasch weiter, bevor ihm der Mut ausging.

„Ja, vielleicht. Nicht so wie de Crinis, natürlich. Weißt du, es gibt so viele, die aus dem Krieg zurückgekommen sind und so sind wie wir… die vielleicht im Alltag ganz gut funktionieren, aber irgendwelche Dinge haben, die immer wieder hochkommen, und ganz hilflos sind davor. Die vielleicht auch niemand an ihrer Seite haben, der ihre Erfahrungen versteht.“ Er legte kurz den Kopf zur Seite, gab Martins Schulter einen kleinen dankbaren Schubs damit, bevor er fortfuhr.

„Und andere, die eben zu kaputt sind, um noch so zu funktionieren, wie sie sollen… so wie mein Vater. Ich war ein Jahr alt, als er sich umgebracht hat, ich kann mich nicht einmal an ihn erinnern.“ Er ballte die Fäuste gegen den alten, hilflosen Schmerz, die Lücke, die sich nie füllen würde.

„Und das ist schon ein Vierteljahrhundert her – wir sollten das jetzt doch besser können“, sagte er heftig, fast wütend. „Man muss solchen wie uns, solchen wie ihm doch helfen können, genauso wie wir uns um die Wunden und Verbrennungen kümmern. Die Verletzungen sind ja nicht weniger real, weil sie im Kopf stecken.“

Martin war eine stille, beruhigend solide Präsenz neben ihm. Er sagte nichts; er hörte nur zu.

„Und nicht so wie de Crinis’ ganzer Scheiß von wegen Hysterie und Simulanten“, fuhr Otto mit einem verächtlichen Schnauben fort. „Da muss ein ganz anderer Ansatz her. Ich habe in letzter Zeit viel über Psychoanalyse und Therapie gelesen – vor allem von Psychologen, die emigriert sind, bei uns ist ja alles von dem Nazidreck durchtränkt – und finde, da ist einiges Brauchbares dabei. Und einen behandelnden Arzt zu haben, der selber was davon mitgemacht hat und nicht bloß vom Stolz auf Kriegsverdienst und gefälligst zusammenreißen faselt… das könnte doch einen Unterschied ausmachen. Einfach jemand zu haben, der ihnen zuhört und sie ernst nimmt.“

Er brach ab, als er sich abrupt bewusst wurde, dass er immer rascher und leidenschaftlicher gesprochen hatte. „Äh. Vielleicht sowas in der Richtung also“, schloss er lahm ab.

Es war nach wie vor viel zu dunkel, als dass er Martins Gesichtsausdruck hätte ausmachen können, aber es gab nichts Missverständliches daran, wie Martins freie Hand Ottos Gesicht zu sich drehte und seine Lippen auf die seinen presste.

„Ich finde, das ist eine ganz wunderbare Idee“, sagte Martin, als sich ihre Lippen wieder voneinander lösten. „Und ich glaube, dass du genau der Richtige dafür bist.“

Otto war froh, dass die Dunkelheit die aufsteigende Röte in seinen Wangen verbarg. „Es ist ja noch nichts fest entschieden“, wiegelte er hastig ab, obwohl er nicht bestreiten konnte, wie gut es tat, die Überzeugung und den Stolz in Martins Stimme zu hören. „Und um mich in der Psychiatrie etablieren zu können, fehlt mir ausbildungsmäßig noch so einiges.“

„Na was für ein Glück, dass du in einer Universitätsklinik arbeitest“, zog Martin ihn auf.

Otto lachte mit. „Ja, hat sein Gutes. Jedenfalls, während ich mich da mal rantaste, bleibe ich Sauerbruch und dir wohl noch eine Weile auf der Chirurgie erhalten.“

„Was mich freut, aber bereite dich schon mal darauf vor, dass ich dich keine kalten Füße kriegen lassen werde“, sagte Martin halb neckend, halb ernst. „Weil ich nämlich davon überzeugt bin, dass du genau die Art von Seelenarzt abgeben würdest, die gebraucht wird. Du kannst dich in Menschen hineinfühlen und sie liegen dir am Herzen. Du wirst das ganz toll hinkriegen.“

„Ich liebe dich“, sagte Otto; es war nicht geplant, aber er hatte keine anderen Worte, die die warme, kribbelnde Fülle in ihm ausreichend ausdrücken konnten.

Martins Lippen berührten diesmal weich seine Schläfe, bevor sie sich an sein Ohr legten. „Ich dich auch, du Spinner.“

MARTIN

Es war wenig los am Bahnhof. Der Bahnsteig war fast leer, bis auf ein älteres Paar in Sonntagskleidung und einen Bauern mit ein paar empört gackernden Hühnern in einem Käfig.

Frau Selter hatte darauf bestanden, sie selbst herzufahren. Sie wartete mit Hannes am Bahnsteig, während Otto ihre Koffer im Zug verstaute. Sie reichte Martin die Hand und lächelte. „Sie können gerne jederzeit wiederkommen. Und danke nochmal für die Hilfe. Ohne Sie hätten wir das Heu wahrscheinlich nicht rechtzeitig reingekriegt.“ Sie hatte doch tatsächlich – gegen den zeternden Widerspruch ihrer Schwiegermutter – versucht, ihm einen Teil der Bezahlung zurückzugeben, was Martin allerdings entschieden abgelehnt hatte.

„Werden wir liebend gerne machen.“ Vorne am Zug pfiff der Schaffner; es war fast Zeit.

Hannes stand stumm und mit verdächtig geröteten Augen neben seiner Mutter und schlug sofort den Blick nieder, als Otto aus dem Abteil sprang und ihm freundschaftlich die Hand reichte. „Bleib du selbst, Hannes, was immer du machst“, sagte er, lächelnd zwar, doch mit Nachdruck. Hannes drückte kurz seine Hand und murmelte etwas Unverständliches.

Während Otto sich von Frau Selter verabschiedete, trat Martin zu dem Jungen und streckte seine eigene Hand aus. Herrje, so jung und herzverwirrt zu sein und keinen Krieg vor sich zu haben… Martin fühlte sich zwischen Mitgefühl und Neid hin- und hergerissen. Er wollte dem Jungen gerne irgendwas Nützliches sagen, aber solche Worte waren schwer zu finden. Bleib du selbst, das war ja auch nicht so leicht.

„Kopf hoch“, sagte er schließlich bloß, und als Hannes tatsächlich kurz den Kopf hob und ihn aus feuchten Augen anblinzelte, nickte Martin ihm aufmunternd zu. „Das wird schon“, setzte er hinzu und legte so viel wie möglich von dem Verständnis und der Ermutigung, die er ihm eigentlich geben wollte, in die banalen Worte.

Hannes nickte zögernd und wandte sich zum Gehen. „Na dann, bis zum nächsten Mal“, sagte Frau Selter, fasste ihren Sohn um die Schultern und drückte ihn kurz seitwärts an sich. Der Junge warf ihr einen erstaunten Blick zu, und Martin konnte sich ein wehmütiges Lächeln nicht verkneifen. Ja, vielleicht würden die Dinge wenigstens für einige in dieser neuen, noch nicht vom Krieg vernarbten Generation etwas besser werden.

Der Zug rollte los, fort von dem hitzeflirrenden Bahnsteig und den zwei Figuren dort, die sich nach kurzem Winken endgültig abwandten. Draußen glitten die abgeernteten Heufelder vorüber, schon gelblich in der frühen Septembersonne. In der Ferne wand sich eine Reihe gediegener alter Weiden, zwischen denen ab und zu das grüngoldene Wasser des Flusses aufblitzte wie Juwelen in der Sonne.

Sie hatten das Abteil vorläufig für sich alleine und nutzten die schmalen Sitzbänke als Vorwand, Bein an Bein in Fahrtrichtung zu sitzen. Martin spürte eine zarte Berührung, während er aus dem Fenster blickte. Er sah nach unten, wo Ottos kleiner Finger, der wie zufällig von seinem Oberschenkel abgerutscht war, eine winzige Streichelbewegung an der Außenseite von Martins Bein vollzog. Martin, der zum Gang hin saß, warf einen raschen Blick beide Gangrichtungen entlang, sah niemand kommen, und schnappte sich Ottos abenteuerlustige Hand. Er zog sie an seine Lippen, presste einen kurzen Kuss auf die Knöchel – braungebrannt, mit ein paar Schrammen vom Wandern und Arbeiten, die Finger trotzdem lang und elegant, Gott, wie er diese Hände liebte – und legte sie dann entschieden in Ottos Schoß zurück.

„Wie müssen wieder mehr aufpassen“, sagte er nicht ohne Bedauern. „Bald sind wir wieder in Berlin, und dort können wir sowas nicht machen.“

Otto lächelte und nickte nur, es schien ihm nicht viel auszumachen. „Ich weiß.“ Ein ruhiges Lächeln war es, ohne den hektischen, gejagten Unterton des Frühsommers. Er sah… gefestigt aus, als wäre etwas vom gemächlichen Tempo der Landschaft, die sie zurückließen, in ihn gesunken, ein geheimer Vorrat an Ruhe, an dem er vielleicht zehren konnte. Über allem jedoch lag auch freudige Spannung, in den geraden Schultern, dem kaum unterdrückten Funkeln seiner blauen Augen.

„Ich freu mich trotzdem irgendwie darauf“, sagte er und gab Martin einen kleinen Schulterstoß, der dem flüchtigen Auge als kameradschaftlich durchgehen konnte. Das Lächeln um seine Mundwinkel vertiefte sich. „Ich freu mich auf Berlin. Ich freu mich auf das, was als Nächstes kommt.“

Martin nahm seinen Anblick in sich auf, den Anblick dieses übersprudelnden, mutigen, wunderschönen jungen Mannes mitsamt seinen Narben und Ängsten, mit dem er so viel überstanden hatte, der allen Wahrscheinlichkeiten zum Trotz zu ihm gehörte, der einer Zukunft mit ihm mit diesem strahlenden Ausdruck entgegensah, und spürte, wie ihm das Herz zum Bersten überquoll.

Er erwiderte das Lächeln und konnte nur darauf vertrauen, dass Otto ihm alles, was er fühlte und meinte, aus dem Gesicht und der Stimme ablesen konnte, als er antwortete: „Ich mich auch.“

 

Der Zug stampfte gen Norden, wo eine Stadt, die niemals innehielt, sich mühsam, aber unaufhaltsam von den Knien erhob. Sie schüttelte Trümmerbrocken und Bombenreste von ihren Schultern, entfachte ihre noch flackernden Lichter und lockte Musik aus zerbrochenen, einst glitzernden Ecken und Kellern; sie sang raue Lieder aus heiseren Kehlen und warf ihnen allen, Besatzern und Besiegten, ihre trotzig lachende Herausforderung entgegen: Ich bin noch da. Wer steht zu mir?

Sie waren bereit.