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Der Prenzlauer Waschbär

Chapter 5: Der Prenzlauer Waschbär

Chapter Text

Adam spricht nicht über den Prenzlauer Waschbären.

Wirklich nicht.

*

Ganz sicher nicht. Über den Prenzlauer Waschbär redet er nicht.

Auch nicht, als Leo von einer Fortbildung zurückkommt, ein aufgeregtes Glitzern in den Augen. Das frecherweise nicht seiner Wiedersehensfreude mit Adam gilt, sondern der Tatsache, dass er in Wiesbaden allen möglichen Klatsch und Tratsch aufgesogen hat wie ein Schwamm.

“Ich hab einen deiner früheren Kollegen getroffen”, sagt Leo als sie nach einem schnellen Stop im Büro - weil Leo es nicht aushält, bis Montag zu warten, um seine Büropost zu sehen - endlich allein im Auto sitzen und auf dem Weg nachhause sind. Ganz hibbelig ist er und Adam hätte einige Ideen, wo diese ganze Energie hin könnte. Aber Leo scheint nicht daran interessiert zu sein, möglichst schnell nachhause zu kommen, um sich mit Adams Hilfe ein wenig auszutoben. Nein, der will reden. Bleibt sogar an der Ampel stehen, obwohl sie da locker noch bei Gelb drüber gekommen wären.

Adam ist fassungslos. Als wär er hier komplett abgemeldet.

“Aha”, macht er also und versucht, möglichst desinteressiert zu klingen.

Gleichzeitig spielt er mit dem ersten Gegenstand, den er in die Finger kriegt - einen Kugelschreiber aus der kleinen Ablage in der Mittelkonsole - weil er weiß, dass es Leo immer ganz wuschig macht, wenn Adam so unschuldig mit irgend etwas hantiert. Also lässt er sanft seine Finger über den Schaft des verdammten Kugelschreibers streicheln. Fährt mit dem Daumen immer mal wieder über die Spitze. Umfasst den Kugelschreiber mit der ganzen Hand, lässt dann wieder locker. Wirft Leo einen hoffnungsvollen Blick zu.

Der allerdings wirkt völlig unbeeindruckt.

Frechheit.

“Ein Benjamin Winkler. Ich soll dich grüßen von ihm.”

Adam nickt argwöhnisch. Mit Ben hat er nie viel zu tun gehabt nach dem ersten Jahr in Berlin, weil der dann in eine andere Mordkommission gewechselt ist. Zwischendurch haben sie sich immer mal wieder gesehen und sie teilen sich einen Ex, aber sonst wüsste Adam nicht, wieso Leo hier fast schon vibriert vor Neugier.

So spannend war der Ex nun wirklich nicht. Das war Thilo, die chaotische Technofritte, und Adam ist sich eigentlich sicher, dass Ben den auch lieber verdrängen würde. Immerhin haben sie den auch mal gemeinsam versucht zu verdrängen.

War auch seltsam. Da denkt Adam lieber auch nicht drüber nach.

Genau wie er nicht über das nachdenken will, was Leo als nächstes sagt.

“Ich soll dir auch sagen, dass sie immer noch Probleme mit dem Prenzlauer Waschbären haben.”

Oh.

Oh nein.

“Schön langsam glaub ich, du bist ein Waschbärflüsterer.” Leo klingt so unendlich neugierig, dass es Adam fast schon leid tut. Aber hier wird er schweigen. Es ist für alle das Beste.

Der fucking Prenzlauer Waschbär.

“Du willst es nicht wissen”, sagt er, seine Stimme flach, die Worte knapp.

Leo flippt den Blinker an und bringt sie auf die Rampe zur Stadtautobahn. “Klar will ich das wissen. Du und deine seltsame Waschbäraffinität. Ich kenne niemanden, der überhaupt mehr als einmal einen Waschbären gesehen hat. Ich hab selber noch nie einen gesehen. Und dir scheinen die nachzulaufen. Dieser Benjamin meinte, dass sie dich in Berlin den Waschbärbeauftragten genannt haben.”

“Ha ha. Klar findet der das witzig.” Ben kennt das alles nur aus dem Büroklatsch. Während Adam immer noch träumt davon, dass ihn der Prenzlauer Waschbär eines Tages wieder findet, und schweißgebadet hochschreckt. Er hofft wirklich, dass diese Phase seines Lebens vorbei ist.

“Tu ich zugegebenermaßen auch.” Sie kommen an der Ampel zu stehen und Leo wirft ihm einen erwartungsvollen Blick zu.

Adam seufzt tief und sinkt in seinem Sitz zusammen. “Ich will da echt nicht drüber reden, Leo”, sagt er kläglich, weil er sich schon rein beim Gedanken an den Prenzlauer Waschbären nervös umsehen will, auch wenn ihm der garantiert nicht ins Saarland gefolgt ist.

Hoffentlich nicht.

Adam kneift die Augen zusammen und schüttelt den Kopf, bevor er sich da noch in was reinsteigern kann.

“So schlimm?” fragt Leo mitfühlend.

Adam nickt kleinlaut. “So schlimm.”

Eine Hand landet auf seinem Knie und drückt ihm kurz den Oberschenkel, bevor ihm der Kugelschreiber weggenommen wird und wieder in der Ablagemulde zwischen ihnen landet.

“Soll ich dich ablenken?”

Adam nickt nochmal, diesmal mit etwas mehr Begeisterung. Aber nicht zu viel Begeisterung. Immerhin leidet er hier und möchte entsprechend umsorgt werden. "Ja, bitte."

Leos Hand landet wieder auf seinem Oberschenkel. Rutscht ein bisschen höher. Und bleibt, da, bis sie zuhause sind, in ihrer Wohnung und in ihrem Bett, und Adam an alles denkt, nur nicht an Waschbären.

*

“Der Prenzlauer Waschbär war echt schlimm”, erklärt er Leo irgendwann später. Mitten in der Nacht, als sie beide vollkommen erledigt im zerwühlten Bett liegen, der Schweiß auf ihrer Haut trocknet und Adam das Gefühl hat, Leo hat sich das jetzt tatsächlich verdient nach all den Bemühungen der letzten Stunden.

“Bei deinen bisherigen Waschbärerlebnissen frag ich mich, was der gemacht haben muss, um dich so zu traumatisieren.” Leo streicht ihm langsam über den Unterarm und rollt sich ihm dann langsam entgegen, bis er ein Knie zwischen Adams Oberschenkel schieben kann, wo die Innenseiten immer noch ein wenig vom Reiben von Leos Bart gerötet sind. “Aber du musst es mir nicht erzählen, okay? Ich geb zu, dass ich neugierig bin, aber wenn du wirklich nicht willst, dann ist das in Ordnung.”

Adam schaut ihm in die grünblauen Augen, die ihn besorgt ansehen. Weil Leo sich da natürlich Gedanken macht und sie darüber geredet haben. Und weil Leo sich da jetzt natürlich in was reinsteigern wird.

“Ich glaub, ich will nur sicher sein, dass wir beim Prenzlauer Waschbären nicht von deinem Onkel Herbert reden”, fährt Leo fort. Er zieht sich ein Kissen von der Bettkante heran und schiebt es sich unter den Kopf.

Verwirrt blinzelt Adam ihn an.

“Ich hab keinen Onkel Herbert. Und wieso sollte der denn bitte Prenzlauer Waschbär genannt werden?”

“Ja, was weiß ich? Vielleicht ist er richtig gut drin, Schlösser zu knacken, und das ist sein Spitzname. Herbert Schürk, der Prenzlauer Waschbär.” Leo zieht weiterhin langsame Linien von Adams Handgelenk hinauf zur Innenseite seines Ellbogens. Gut tut das, und Adam hat mittlerweile gelernt, es zu genießen. “Oder der hatte einen dressierten Waschbären für Einbrüche.”

“Manchmal frag ich mich wirklich, wo du deine Ideen herbekommst.” Adam fängt Leos Hand ein und streicht nachdenklich mit dem Daumen über seinen Handrücken. Eine kleine Narbe ist da auch nach zwanzig Jahren noch sichtbar, und er erinnert sich an die Verletzung, als wäre es gestern gewesen. Fahrradsturz; Leo ist damals voll auf den Schotterweg geknallt und hat sich die Hände komplett aufgeschürft. Das war mehr Blut, als Adam bisher an anderen Menschen gesehen hat, und er spürt einen erinnerten Hauch der Angst, die er in dem Moment um Leo hatte.

Er hebt die Hand an seine Lippen und küsst sie, auch wenn das heute nichts mehr gegen den Schmerz machen wird. Schmeckt Spuren von salzigem Schweiß und riecht einen Hauch seines eigenen Shampoos, vielleicht weil Leo vorhin die Hände so verzweifelt in Adams Haaren vergraben hatte.

Leo sieht ihm aufmerksam zu, fast als wüsste er, woran Adam gerade denkt.

“Bei dir hab ich gelernt, dass alles möglich ist.” Leos Lächeln nimmt die Schärfe aus den Worten, aber Adam spürt trotzdem einen schuldbewussten Schauer kalt seinen Rücken entlang rasen. “Also kein Onkel Herbert?”

“Kein Onkel Herbert”, versichert Adam ihm und schiebt sich langsam etwas näher an ihn heran, bis er ein Knie vorsichtig zwischen Leos Oberschenkel schieben kann, um sich anzuschmiegen. Kurz überlegt er, ob er sich das T-Shirt vom Boden neben dem Bett angeln soll, aber lässt es bleiben. Leo strahlt genug Hitze ab.

Es verwundert ihn immer noch, wie viel ihm diese einfache Nähe manchmal gibt, aber er hinterfragt es nicht mehr. Leo ist sein Ruhepol, immer schon gewesen, und mittlerweile hat Adam gelernt, dass es ihnen beiden guttut.

“Das war schon ein richtiger Waschbär”, fährt er fort und lächelt, als Leo die Hand ausstreckt und beginnt, ihm die Haare zu kraulen, wo sie sich in seinem Nacken ringeln, immer noch ein wenig feucht-verschwitzt. “Der hat mich gestalkt.”

Leo blinzelt überrascht.

“Also so richtig. Hat mir aufgelauert. Wochenlang.”

“Ein Waschbär.”

Adam nickt.

“Der Prenzlauer Waschbär.”

Adam nickt wieder.

“Wieso kennen den deine Kollegen denn? Hast du gegen den ein Annäherungsverbot erwirkt?”

Er seufzt tief. “Das Mistvieh ist mir bis ins Präsidium nachgelaufen. Der hat mir irre Probleme gemacht. Wegen dem hab ich die erste offizielle Dienstaufsichtsbeschwerde kassiert, weil er im Treppenhaus vorm Büro der Mordkommission eine Zeugin gebissen hat und alle dann behauptet haben, ich hätte ihn angelockt und reingelassen.”

“Und dann hat er ein Betretungsverbot bekommen? Hattet ihr ein Fahndungsfoto von dem bei der Pforte?” Leo schubst Adam auf den Rücken und rollt sich noch ein bisschen näher, bis er seine Arme falten und auf Adams Brust ablegen kann, um ihn neugierig anzusehen. “Hast du ihn verwarnt und weggewiesen? Ihn auf Paragraph 238 StGB aufmerksam gemacht?”

“Ha ha”, macht Adam vorwurfsvoll, lässt es aber zu, dass Leo ihn angrinst und ihm jetzt auch noch diese eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hinters Ohr streicht, die Adam seit Wochen schon nervt. Er sollte wohl mal zum Friseur und das regeln lassen, aber irgendwie ist nie die Zeit dafür gewesen.

“Aber was hast du bitte gemacht, dass dich ein Waschbär gestalkt hat?”

“Gar nichts! Opfer-Täter-Umkehr ist das hier, Herr Kriminalhauptkommissar Hölzer.” Adam seufzt. Ein wenig wohlig, weil er Leos Gewicht auf sich genießt und dieses Gefühl, hier gewollt, beschützt und gehalten zu werden. Ein wenig unbehaglich, weil er eben an den Prenzlauer Waschbären denkt. “Der hatte nur sein Nest irgendwo am Parkplatz im Hinterhof. Und ich hab… das war nicht die beste Zeit, okay? Viel Stress, und auch sonst schwierig.”

Er sieht, wie Leos Leichtigkeit sofort verfliegt, und ärgert sich über sich selbst. Über diese Themen zu reden ist immer eine Gratwanderung, weil er Leo nicht damit belasten will, aber er auch gelernt hat, dass Leo nicht mit ihm über seine eigenen dunkleren Momente spricht, wenn Adam ihm dazu keine Vorlage gibt. Und er sieht nur allzu deutlich, dass es Leo manchmal gut tut, wenn er etwas in Worte packen und rauslassen kann, also versucht Adam, ihm die Brücken dafür zu bauen.

“Ich wünschte, ich wäre da gewesen”, sagt Leo, richtet sich dann aber halb auf und küsst ihn, bevor Adam etwas darauf antworten kann. Sie wissen beide, dass das nicht funktioniert hätte. Die getrennten Jahre waren absolut verdammte Kackscheiße und Adam wird bis an sein Lebensende um die verlorene Zeit mit Leo trauern. Aber er ist auch Realist genug, um zu wissen, dass er damals zu kaputt war, seine Seele zu zerbrochen in Splitter und scharfe Kanten, als dass es mit ihnen funktioniert hätte. Sie hätten sich nur beide daran wund geschnitten.

Er hebt die Hand und legt sie an Leos Wange. Streichelt mit dem Daumen über die zarte Haut unter Leos Auge, bis der ihn mit diesem kleinen, fast schon schüchternen Lächeln anblinzelt, den Kopf neigt und sachte Adams Handfläche küsst.

Adam weiß manchmal nicht, womit er ihn verdient hat. Aber er weiß, dass er ihn nicht freiwillig wieder hergeben wird.

“Wärst du da gewesen, dann hätte ich dir meine gesammelten halbgegessenen Brötchen überantworten können, statt sie alle paar Tage in die Mülltonne am Parkplatz zu entsorgen.” Oft auch noch weniger als halbgegessen; das waren Monate, in denen Adam nicht allzu gut auf sich aufgepasst hat. Und die hatten eben Folgen gehabt. “Der Waschbär hat das irgendwann gecheckt. Die Viecher sind ja echt nicht dämlich. Und sobald er kapiert hat, dass ich der Grund bin, warum da regelmäßig Brötchen und halbe Döner in der Tonne gelandet sind, war ich sein bester Freund. Besonders, als ich aufgehört habe, den Deckel wieder anständig draufzumachen.”

Leo hat diesen aufmerksamen Blick in den Augen, der Adam klar macht, dass da gerade ganz eifrig zwischen den Zeilen gelesen wird.

Adam hat nichts dagegen, dass Leo Dinge über ihn herausfindet. Geheimnisse, so viel hat er gelernt in den letzten Jahren, sind manchmal notwendig, aber mittlerweile wägt er sehr genau ab, wann sie es wert sind. Denn was er ebenfalls gelernt hat ist, dass Geheimnisse verletzen können. Und dass es Momente gibt, wo es guttut, etwas zu teilen.

Sie haben noch nicht oft über Adams Zeit in Berlin gesprochen, jenseits der Fakten, die Leo als Teamleiter wissen sollte. Welche Fortbildungen Adam gemacht hat und welche Fälle er bearbeitet hat, ist relevant für den Erfolg des Teams und für eine gute Personalplanung; darüber hatten sie bald nach ihrem ersten gemeinsamen Fall ein offenes Gespräch, und Adam hat sich selten so ausgeforscht und dokumentiert gefühlt wie nach dieser Stunde, in der Leo ihn zu gefühlt jedem Tag seiner Arbeit in den letzten Jahren befragt hat. Aber über den Rest seiner Berliner Jahre weiß Leo die Grundzüge und einige Details aus bestimmten Bereichen. Er weiß, dass Adam öfters umgezogen ist, dass er sich nicht immer leicht getan hat. Dass er manchmal einsam war und manchmal nicht, dass er sich gerne in der Großstadt verloren hat und dass er sich gleichzeitig so verloren gefühlt hat.

Eckpfeiler eben, aber dazwischen dürfen auch Lücken bleiben.

Adam ist zurechtgekommen. Überleben, das ist etwas, was er draufhat. Er ist pragmatisch genug, um sich mit so ziemlich jeder Situation zu arrangieren und etwas Vernünftiges draus zu machen. Aber manchmal war es eben doch schwerer, als er gerne zugibt, und diese ersten Monate in Berlin sind keine Zeit, an die er allzu gerne zurückdenkt. Da hätte ein Aufbruchsgefühl vorherrschen sollen in seiner Seele; stattdessen hat er zum ersten Mal zugeben müssen, dass er sich nicht sicher war, ob er das Richtige machte. Ob er nicht statt Berlin in eine andere Stadt hätte wechseln sollen, an die Saar statt an die Spree.

Am Ende war es richtig, das weiß er. Aber trotzdem spürt er heute noch eine Erinnerung an diese Verzweiflung tief im Bauch, die ihn damals manchmal gepackt hat, wenn er alleine in seinem winzigen WG-Zimmer gesessen ist und an Zuhause gedacht hat. Ein Zuhause, das nie dieser scheißverdammte Betonbunker gewesen ist.

Leo räuspert sich und zieht Adams Aufmerksamkeit auf sich. “Du hast den Waschbären also angefüttert? Eine Bedarfsgemeinschaft mit ihm gegründet?”

Es ist ein Angebot zu einem lockeren, leichten Tonfall, und Adam nimmt es dankbar an.

“Das klingt, als hätten wir einen Termin beim Standesamt machen sollen, um das alles in geregelte Bahnen zu lenken.” Er macht es sich wieder in den Kissen bequem und wartet, bis Leo sich ebenfalls wieder hingelegt hat, locker an Adams Seite gelehnt, ihre Beine immer noch verheddert, weil keiner von ihnen die Energie oder die Notwendigkeit gefunden hat, Abstand zwischen sie zu bringen.

“Ist der etwa auch zu dir ins Bett geklettert? Muss ich anfangen, eifersüchtig zu werden, weil du eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Waschbären ausübst?” Leo klingt immer noch ein wenig amüsiert beim Gedanken an Adams Waschbär-Bettgeschichte, und Adam zieht ihn an sich und in einen Kuss, nur zur Sicherheit. Damit hier nicht gleich wieder das Gekicher losgeht.

“Nein, der war nicht in meinem Bett. Aber irgendwann hat er angefangen, mir bis ins Büro nachzulaufen. Ich hab keine Ahnung, wie er das gemacht hat, aber der ist bis in den fünften Stock rauf gekommen und saß dann tatsächlich unterm Schreibtisch.” Adam pausiert für ein wenig dramaturgischen Effekt und hebt demonstrativ die Hände. “Im Papierkorb. Mit erwartungsvoll ausgestreckten Pfötchen.”

Das war schon ein niedlicher Anblick, wenn er so daran zurückdenkt. Allerdings hat er sich damals mehr erschrocken als sonstwas, weil man nun wirklich nicht mit Waschbären rechnet, so mitten im Büro, während Karow zwei Meter weiter grad wieder jemanden genüsslich und mit messerscharfem Sarkasmus filetiert.

Leo kichert nicht, aber sieht aus, als müsste er sich sehr konzentrieren, so wie da die kleine Falte zwischen seinen Augen auftaucht, die immer nur zum Vorschein kommt, wenn er sich ganz fürchterlich anstrengt, eine Lücke in einer Aussage zu finden.

“Wie habt ihr den da denn wieder rausgekriegt? Den Tierschutz angerufen?”

Adam zuckt mit den Schultern und seufzt zufrieden, als Leo wieder anfängt, ihm bedächtig den Bauch zu streicheln mit ganz weichen, kleinen Bewegungen. “Ich bin vom Tisch weggerollt, so schnell ich konnte. Schon erstaunlich, wie schnell da ein ganzer Haufen Waffen auf den Kleinen gerichtet waren.”

Leo sieht besorgt aus.

“Dem Waschbär ist nichts passiert”, versichert Adam ihm eilig, damit die Streicheleinheiten nicht vor lauter Sorge aufhören. “Der Chef hat sich dann einfach den Papierkorb geschnappt, wo der Waschbär drinsaß, und ist mit ihm verschwunden.”

Karow war dann den restlichen Tag weg und am nächsten Morgen seltsam vergnügt bei der Versicherung, dass der Waschbär Adam nicht mehr belästigen würde. Zwei Tage hatte das angehalten und Adam war die Zielscheibe für mehr waschbärbezogene Spitzfindigkeiten, als er es je für möglich gehalten hätte, weil es Karow während der vorherrschenden akuten Fall-Flaute sichtlich amüsierte.

Adam wird es nie zugeben, aber er hat sich schon Sorgen um das Tierchen gemacht. Karow hätte er jetzt vielleicht keine Waschbärexekution zugetraut, aber der Mann ist findig, wenn es um pragmatische Lösungen geht.

“Drei Tage später war der Waschbär wieder da. Hat auf meinem Parkplatz gewartet, als ich am Morgen eingetrudelt bin.”

Karow war dabei gewesen, und ab dann hatten die Waschbär-Witzeleien sehr schnell aufgehört. Adam weiß bis heute nicht, was genau Karow mit dem Waschbären gemacht hat, aber er hat seine Vermutungen. Und er ist sich sicher, dass Karow in dem Moment ein kleines bisschen nervös geworden ist, weil er den Waschbären ganz offensichtlich unterschätzt hat.

“Ab dann war der Waschbär überall. Der ist ins Büro, wenn jemand nicht aufgepasst hat. Im Hof war er sowieso ständig. Mehr als einmal ist er mir ins Auto geklettert. Das hat mir ein paar Mal echt Probleme gemacht. Der war auf zwei Tatorten mit dabei, weil er sich im Kofferraum versteckt hat und ich ihn nicht rechtzeitig entdeckt habe.”

Adam hat sich solche Sorgen gemacht, dass der Waschbär aus dem Auto entwischen und dann im Wald verloren gehen könnte. Eine wirklich dumme Sorge um ein Wildtier, das im Wald sicher zurechtkommen würde. Aber der Waschbär hatte sich schon an Döner und Franzbrötchen gewöhnt, und die gibt es im Spandauer Forst eben nicht an jeder Ecke.

Leo piekst Adam leicht mit dem Finger in die Seite. “Kein Wunder. Wenn dein Kofferraum damals schon so vollgeräumt mit allem möglichen Zeug war wie heute, dann war da doch Platz für eine ganze unentdeckte Waschbärkolonie.”

Adam brummelt protestierend und bekommt dafür ein entschuldigendes Streicheln über den nackten Bauch, aber nicht mehr.

“Vielleicht sollten wir morgen mal in deinen Kofferraum schauen. Wer weiß, wie viele Waschbären da drin mittlerweile leben.”

Er will sich schon beschweren, aber Leo hat ja irgendwie recht. Wo Leos Auto ein Musterbeispiel an Ordnung und Sauberkeit ist, ist seines eben eines, wo man alles findet, wenn man nur lang genug danach sucht, weil Adam nichts, was mal im Auto landet, wieder rausnimmt. Gerade gestern hat er einen Hoodie vom Fußraum des Rücksitzes rausgekramt, der da seit sicher März gelegen hat. Und gut war es, weil er deshalb nicht frieren musste, als sie die Leiche aus dem Kühlkeller geholt haben. Soll Leo noch einmal was gegen sein kreatives Chaos sagen. Leo hat sich immerhin den hübschen Arsch abgefroren, weil er natürlich keine Pullis im Auto lagert, während es Adam wohlig warm war.

“Wie ist das dann weitergegangen mit dem Waschbären?”

Adam schiebt sich zurecht und kuschelt sich etwas näher an Leo heran. Die Gedanken an Berlin machen ihn immer ein bisschen wehmütig und gleichzeitig froh, dass diese Zeit in seinem Leben ein Ende gefunden hat. Genau wie die Gedanken an den Waschbären. Der hat ihm echt einiges an Problemen eingebrockt, aber irgendwo ist Adam auch froh, dass er jetzt weiß, dass es ihm immer noch gutgeht. Vielleicht hat jemand anderes die Fütterung übernommen.

“Das ging ein paar Monate so. Der hat auf mich gewartet jeden Morgen. Ich hab ihm dann die Reste von meinem Mittagsbrötchen vom Vortag gegeben.” Und manchmal hat er auch extra was für den Waschbären gekauft, aber das muss ja keiner wissen.

“Und du hast manchmal ein besonders großes Brötchen gekauft?” Außer natürlich Leo, weil der ihn einfach zu gut kennt.

“Ist ja nicht einfach für einen Waschbären, so ganz allein in der Großstadt.”

“Natürlich. Da ist es gut, dass er dich hatte und ihr zusammengehalten habt.” Leo lehnt sich über ihn und küsst ihn auf die Stirn, dann die Nasenspitze, bis Adam sich streckt und sich einen Kuss auf den Mund einsammelt, weil er Leo jetzt eine Woche lang vermisst hat und es erstaunlich schwer gefallen ist, ohne ihn einzuschlafen.

Adam war nie gut darin, zur Ruhe zu kommen, aber mit Leo gelingt es von Nacht zu Nacht besser. Und fällt nun im Umkehrschluss wieder so schwer, wenn er alleine schlafen muss. Dass er sich in Leos Decke eingekuschelt hat, das Gesicht in Leos Kopfkissen vergraben, hat immerhin geholfen.

Er lässt sich zurechtziehen, bis Leo sie beide zu seiner Zufriedenheit arrangiert hat, und macht es sich gemütlich, Leo warm an seinen Rücken geschmiegt, ein Arm um Adams Bauch geschlungen, als müsste er ihn festhalten. Die Geste überrascht Adam nicht und er wird nie etwas zu Leos Bedürfnis in der Hinsicht sagen, aber ein kleines, wehmütiges Lächeln kann er nicht unterdrücken. Da ist er dran schuld, gemeinsam mit ihrer Scheißvergangenheit. Aber er wird es jetzt besser machen. Das hat Leo versprochen und auch sich selbst.

Sachte legt er seine Hand über Leos, die an seinem Bauch ruht, und schließt die Augen. Nach Schlaf fühlt es sich noch nicht an, aber er genießt die Nähe in der Dunkelheit.

“Ich bin froh, dass du dir das nie hast wegnehmen lassen”, sagt Leo irgendwann in die bedächtige Stille zwischen ihnen.

“Hm?”

Ein Kuss wird in seinen Nacken gedrückt und er spürt Leos warmen Atem an seiner Haut.

“Dass du dich kümmerst. Dass dir nicht egal ist, was passiert. Dass du nicht einfach zusiehst.” Leo zieht ihn noch das letzte mögliche Stück näher, drückt seine Nase in Adams Haar. “Ich liebe dich dafür, weißt du das?”

Mittlerweile weiß er es, auch wenn er sich oft unter den Worten so hilflos fühlt, weil er nicht weiß, wie er darauf antworten soll, wenn doch alles nur an der Oberfläche kratzen würde von dem, was er sagen möchte. Er drückt Leos Hand und verlässt sich darauf, dass der ihn versteht, wo ihm die Worte fehlen.

Mit einem weichen Seufzen entspannt Leo sich hinter ihm, weil er natürlich weiß, was Adam ihm sagen will. Schmiegt seine Wange an Adams Rücken zwischen seine Schulterblätter; sein Bart kratzt ganz leicht, vertraut-beruhigend.

Notes:

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