Work Text:
Je länger sie in der Praxis saß, desto mehr bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie gehörte nicht hierher. Sie sollte gerade in ihrer Vorlesung über Investitions-Objekt-Analysen sitzen, den gierigen Blicken des schleimigen Dozenten ausweichen. Wäre sie an der Uni, würden sie und ihre Kommilitoninnen per Zettelchen Wochenendpläne vereinbaren und sie würde ausrechnen, ob sie es noch schaffen, vor der nächsten Vorlesung ihren Freund abzufangen.
Aber sie war hier. In der lausigen Gynäkologie-Praxis abseits des Campus. Sie hatte den Arzt gewählt, weil er gratis Beratung anbot, und weil sie wusste, dass keine der Medizinstudentinnen, mit denen sie das Wohnheim teilte, hier ihr Praktikum absolvierte. Nervös begann sie, mit dem Fuß zu wippen. Die Frauen um sie herum sahen alle entweder gelassen oder gelangweilt aus, blätterten träge in Klatschmagazinen während sie abwesend ihre Bäuche streichelten. Einige Männer waren auch hier, und sie alle flüsterten leise mit ihren Partnerinnen, andächtig, verliebt. Zum wiederholten Mal verfluchte sie jene Naturgesetze, die dafür verantwortlich waren, dass sie hier sitzen musste, während Bill sich unbeschwert um sein Studium kümmern konnte.
Sie wusste, dass das nicht fair war, Bill hatte sich so rührend um sie gekümmert, seit sie mit Entsetzen festgestellt hatte, dass ihre Periode nun schon den zweiten Monat ausblieb und nachdem auch der fünfte Schwangerschaftstest positiv war. Und sie wusste, dass das das Ende ihres geplanten Lebens war. Sie und Bill hatten viel vorgehabt, wollten nach ihrem Abschluss gemeinsam verreisen. Aber Backpacking mit einem Baby am Rücken war nicht. Kurz hatte sie erwogen, den anderen Weg zu gehen. Es wäre die einfachste Möglichkeiten, an ihrem geplanten Lebensweg festzuhalten. Doch eine leise Stimme in ihr hielt sie davon ab, sagte ihr dass das, was in ihr heranwuchs, der kleine Mensch genau jetzt in ihr Leben treten wollte.
Die Tür zum Behandlungszimmer ging auf und eine Frau trat heraus. Der Bauch der Frau war so riesig, dass sie sich selbst für den kurzen Weg mit einer Hand an der Wand abstützen musste. Die versöhnliche Stimmung, die sie eben noch überkommen hatte, war schnell verflogen. Sie hatte Angst vor dem, was vor ihr lag, wie ihr Körper sie betrügen und im Stich lassen würde. Die Medizinstudentinnen in ihrem Wohnheim erzählten sich gerne allerlei Horrorgeschichten. Oft genug ging es dabei um Schwangerschaften.
“Also, Mrs. Shaw, ich wünsche Ihnen alles Gute. Das nächste Mal sehen wir uns hoffentlich mit Sohnemann!”
Die Frau verabschiedete sich, bemerkte dann ihren Blick, zwinkerte ihr zu. Beschämt, beim Starren erwischt worden zu sein, sah sie weg, aber die Frau nahm ihr auch etwas von der Angst. Sie sah glücklich aus, zufrieden. Noch immer lächelnd legte sie eine Hand auf ihren riesigen Bauch, stolz. Fast wie von selbst fühlte sie nun ihren eigenen Bauch. Und für einen Moment glaubte sie, eine unsichtbare Verbindung zu der Frau zu spüren. In ihrem noch kaum merklichen Bauch flatterte es, als würde das Baby zustimmen.
“Miss?” Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Die Ärztin stand vor ihr, machte eine einladende Geste Richtung Behandlungszimmer. “Sie sind dran.”
Fast benommen erhob sie sich, folgte der Ärztin. Das “Miss” löste einige irritierte Blicke aus. “Ja”, dachte sie verbittert. “Eine unverheiratete Frau ist schwanger, stellt euch vor.”
Mit erhobenem Kopf durchquerte sie das Wartezimmer und sah noch ein letztes Mal zu der Frau, die nun am Empfangstresen ihre Papiere entgegennahm. Noch während sie die Praxis verließ, warf sie ihr einen letzten, dankbaren Blick zu.
Sie hoffte, dass ihre anstehende Geburt gut verlaufen würde. Und sie selbst war sich noch nie so sicher gewesen, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Als ihre Hand zurück auf ihren Bauch wanderte fühlte auch sie jetzt Stolz.